Es gibt diesen einen Moment mit meiner Tante, den ich nie vergessen werde. Ich muss etwa neun, zehn Jahre alt gewesen sein, wir haben bei uns zuhause einen Geburtstag gefeiert. Sie und mein Onkel waren zu Besuch. Meine Tante war eine Naturgewalt. Ihre Liebe, vor allem. Aber auch ihr Körper, der anders war als alle Körper, die ich kannte. Voller. Ein Körper, an dem man sich halten konnte. Der Sicherheit bot.

Ich mochte es, in den Umarmungen meiner Tante zu versinken. Gleichzeitig wurde ich älter. Und manchmal war ich unsicher, wie ich meinen eigenen Körper in dieser Welt halten sollte; und um andere Körper. Womöglich also war mein Umarmen vom Stuhl neben meiner Tante, auf dem ich saß, zu ihr herüber etwas ungelenk. Jedenfalls zog sie mich in ihrer impulsiven Zärtlichkeit zu sich und verkündete: „An meinem Busen kannst du rasten, wie die Kuh am Futterkasten.“ Dabei lachte sie ihr herrliches Lachen, an dem dieser ganze erstaunliche Körper beteiligt war, und drückte mich an sich.
In einer so ruhigen Selbstverständlichkeit hatte ich das Wort Busen noch nie gehört, und auch alles andere am Satz meiner Tante klingelte in meinen Kinderohren. Die Art, wie sie ihn einsetzte, passte ihn in meine Welt, ihr Lachen unterstrich einerseits die Gutmütigkeit, machte sich aber zugleich wohlwollend lustig über die Erwachsenen am Tisch, die ihn unangemessen fanden. Zwischen uns war er eine Art Einladung, sogar ein Pakt. Ich durfte bei ihr ankern, zur Ruhe kommen, rasten. Schon in dem jungen Alter war das etwas, was ich als außergewöhnlich wahrgenommen habe.
Die lachende, gewaltige Tante, ihr ebenso gewaltiger Mann und die beiden kleinen weißen Hunde sind Erinnerungsfixsterne meiner Kindheit. Auch eine Katze gab es, aber die kam nicht mit, wenn das Quartett in der Welt unterwegs war. Sie lebten etwa eine Autostunde von uns entfernt, das war damals meine Maßeinheit für Entfernungen. In der Kleinstadt meiner Kindertage gab es ein Café, in dem Tante, Onkel und die Hunde gern einkehrten, um gedeckten Apfelkuchen und Käsekuchen zu essen.
Manchmal, wenn ich in Tagträume vertieft über den kopfsteinbepflasterten Marktplatz schlenderte, hörte ich plötzlich meinen Namen. Da winkten die beiden mir fröhlich mit ihren Kuchengabeln zu und ich flitzte los, kletterte über das Mäuerchen auf die Terrasse des Cafés, begrüßte stürmisch die Hunde und naschte vom Kuchen. Es war herrlich.
Eine Weile gab es außerdem ein Ferienhaus, von dem ich nicht mehr sagen könnte, in welchem Ort es stand. Nur, dass es mit bunt lackierte Holzmöbeln gefüllt war und mein Onkel im Keller Dinge zusammenbaute, ich glaube, kleine Flugzeuge. Meinen Eltern wären bunt lackierte Holzmöbel nie ins Haus gekommen und ich erinnere Fahrten gen Heimat, auf denen sie die Köpfe schüttelten: „Das schöne Holz!“ Mir war es gleich, mich faszinierte alles, was zu meiner Tante und meinem Onkel gehörte.
Am meisten vielleicht die Feste, die sie feierten. Groß und laut und schön waren die, und am Ende zauberte meine Tante die besten Nachtische aus ihrer übergroßen Gefriertruhe, die ich je gegessen hatte. Sie verriet mir und meiner kleinen Schwester, dass sie all die Eisbomben und köstlichen Desserts bei bofrost bestellte – davon hatten wir noch nie gehört. Bei so etwas war sie pragmatisch: Sie kochte leidenschaftlich und backte Kuchen, Eis wurde bestellt. Niemand muss schließlich alles können.

Meine Tante war die große Schwester meines Paps’ und ich bin die große Schwester meiner kleinen, diese Feststellung mochte ich irgendwie. Die beiden wurden 1934 und 1936 geboren. Wenn sie von ihrer Kindheit im Krieg erzählten, klang der wie ein großer Abenteuerspielplatz. Natürlich kamen wir in ein Alter, in dem wir begriffen, dem war nicht so. Wir begriffen aber auch, es gehörte zu ihrer Strategie, die Schrecken der Jahre zu überleben und verarbeiten. Ich habe immer gerne zugehört, wenn die Geschichten kamen, manchmal interessiert nachgefragt, aber nie gebohrt nach etwas, das nicht zurück an die Oberfläche wollte.
Oft erzählten die beiden unabhängig voneinander dieselben Geschichten. Immer wurde daraus klar, dass mein Paps es als kleiner Junge faustdick hinter den Ohren gehabt hatte und meine Oma eine sehr resolute Person gewesen war, die ihre Kinder gegen alle verteidigte. Mehr als einmal habe ich die Geschichte gehört, wie russische Soldaten meinen strohblonden kleinen Paps lachend auf ihren Wagen zogen und meine Oma in der Annahme, sie wollten ihn mitnehmen, so lange zeternd und ihren Schirm schwenkend neben ihnen herrannte, bis sie ihn ihr wieder aushändigten.
Manches erschien mir mit den Jahren zu phantastisch, um wahr zu sein. Wie die Geschichte, dass meine Tante, mein Vater und einige Cousinen gemeinsam auf einer hohen Mauer saßen. Eine der Cousinen wollte, dass mein Papa ihr das störrische Innenleben aus einem Eimerchen zog, den sie für ihr Puppenspiel mochte. Er tat es, das Eimerchen fiel tief zu Boden – und detonierte. Nur die Mauer schützte die Kinderfüße vor der kleinen Handgranate, die sie nicht erkannt hatten.

Es ist noch nicht lange her, dass meine Tante am Telefon vom Gespräch mit ihrer Cousine in Berlin sprach und scherzte, dass sie diejenigen waren aus der alten Kinderclique, die noch immer lebten. Und dank der Mauer hatten sie auch alle Arme und alle Beine – sicher hätte doch mein Paps vom Schrecken mit der vermaledeiten Handgranate mal berichtet.
„Eigentlich müsste ich mir die ganzen alten Geschichten mal von dir erzählen lassen“, sagte ich damals, ein wenig benommen von der wieder aufgetauchten Cousine und ahnend, wie viele dieser Erinnerungen in meiner Tante schlummerten. „Bevor ich nicht mehr da bin, was“, sagte sie mit ihrem gewohnten Pragmatismus und ich fühlte mich irgendwie ertappt. Darüber habe ich damals lange nachgedacht. Erinnerungen und Erzählungen über Menschen, die wir lieben – und warum wir sie so gerne sammeln. Natürlich mochte ich es, wenn meine Tante von meinem Paps erzählte. Aber wollte, musste ich irgendetwas Neues über ihn hören, erfahren?
Der frühe Tod hat meinen Vater für mich überlebensgroß gemacht in den ersten Jahren des kummervollen Vermissens. Dabei ist es natürlich nicht geblieben. Und so sehr ich ihn geliebt habe, so sehr weiß ich, er war unvollkommen, ein fehlerhafter Mensch, wie wir alle: zum Glück. Im Umgang mit meiner Tante hat er sich als erwachsener Mann von den falschen Themen und Menschen leiten lassen, was schließlich zum Bruch führte. Das habe ich immer sehr für die beiden bedauert. Meiner Tante zuzumuten, sich vielleicht ungewollt mir zuliebe auf das Erinnerungsterrain dieser Beziehung zu begeben, wäre nicht gut gewesen.
Zumal sie ohnehin eine Person war, die sich selbst nie zum Zentrum einer Geschichte machte. Bei unseren Gesprächen entschied ich mich also ein ums andere Mal für den direkten Austausch: sie, ich. Ihr den Raum geben, um zu erzählen, ihre Einladung annehmen, dasselbe zu tun. Wir sprachen unregelmäßig, aber intensiv. Wenn ich ihre Stimme hörte, war sie sofort nah.

Wie geht Sterben. Wie lässt man los. Wann ist der Zeitpunkt gekommen. Darüber habe ich viel nachgedacht, seit ich vor einigen Wochen bei meiner Tante im Krankenhaus war. Sie dort besuchen zu können, war ein Geschenk. Bei aller Offenheit ist sie immer eine sehr private Person gewesen. Sie mochte es nicht, sich zu beschweren, selbst, wenn es Gründe gegeben hätte, wie Schmerzen.
Ihr unerschütterlicher Optimismus wirkte auf mich aber nie aufgesetzt, sondern hatte eine unfassbar wärmende Kraft, für die ich sie bewundert habe. Sie wusste, dass sie bei mir Kummer ansprechen könnte. Sie wollte es aber nicht. „Davon, dass ich mich ärgere oder traurig bin, wird es auch nicht besser“, hat sie oft gesagt. „Manchmal hilft es, zu reden.“ „Aber wir reden doch.“
Wenn man Liebe wie die Ringe eines Baumes betrachtet, gehörte ich nicht zum innersten Ring ihrer Beziehungen. So habe ich immer darauf vertraut, dass sie den Menschen dort erzählt, worüber sie in unseren Gesprächen ein schützendes Tuch breitete.
Der erneute Besuch in der Klinik, nicht wissend, es würde das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Worte, Gesten, geteiltes Verständnis. Ihr Mut, sich verletzlich zu machen. Meine Erkenntnis, auf dem Heimweg, dass wir immer zu wenig Zeit haben mit denen, die wir lieben. Und wir doch aufhören müssen, uns das vorzuhalten. Denn wenn wir beschenkt sind mit einer Vielzahl von Beziehungen, mit Menschen, die uns wichtig sind und wir ihnen, teilt sich Zeit immer mehr auf, stiftet jede Lebensphase neue Verbindungen.
Die alten reißen nicht ab, sie verändern sich, wachsen mit, um uns herum – und wir mit ihnen. Geteilte Momente mit meiner Tante bedeutete, geteilte Momente mit Einer, die mich fast von meinem ersten Schrei an kannte. Es gibt davon in meinem Leben fast niemanden mehr, allein das macht ihren Tod zu einer heftigen Zäsur. Wahr ist aber auch, dass es schwerfällt, sich eine Welt vorzustellen, in der meine Tante nicht mehr existiert. Wenn jemand immer da gewesen ist, erliegen wir manchmal der Illusion, dieser Mensch bliebe für immer. Festzustellen, dass dem nicht so ist, bringt einen unbeschreiblichen Kummer mit sich.
Wie funktioniert Erinnerung, was macht einen Menschen aus, was bleibt? Wie ich meine Tante erinnere, das sind nur Puzzlestücke, Fragmente eher, dessen, wer und was sie alles gewesen ist. So viele Menschen können von ihr erzählen. In all diesen Geschichten lebt sie weiter, wie auch in den Herzen derer, die sie weitertragen, sich erinnern, ihr in Liebe verbunden bleiben, weil Liebe eben: bleibt.
Ja. Meine Tante war eine Naturgewalt; in ihrer Liebe bis zum Schluss. Man sagt manchmal, ein Mensch sei wie ein Baum, unerschütterlich und sicher. Vielleicht ist der Baum mein Onkel. Und meine Tante war in diesem Bild das Baumhaus, das sich an ihn schmiegte und von ihm gehalten wurde, aus ihrer Verbindung Kraft schöpfte – und immerzu weitergab. Sie war der menschliche Ort, an den alle flüchteten vor dem Regen, an dem aber auch gefeiert wurde und so viel gelacht; wo immer Platz war für alle, die ihre Werte teilten und ihr Liebe erwiderten.
Ein Raum, der sich weitete mit ihrem Herzen, ihre Menschen aufnahm, immer da war, verlässlich und warm. Ein innerer Ort, der bleibt. Ein Gefühl, das ihren Tod überdauern wird. So, wie die Liebe zwischen ihr und uns, die nur in diesem ersten Moment des Kummers nicht weiß, wohin.
Bald aber wird sie uns wieder begegnen in zärtlichen Erinnerungen, wird dunkle Nächte erhellen und uns begleiten auf allen Wegen, die wir noch gehen. Weil es jetzt zwar eine Welt gibt, in der meine Tante nicht mehr so existiert, wie wir es kannten. Aber sie niemals aus dieser Welt verschwunden sein wird.
Danke. Für alles.