Tante Christel: Liebe, Baumhaus, Abschied, Erinnerung

Es gibt diesen einen Moment mit meiner Tante, den ich nie vergessen werde. Ich muss etwa neun, zehn Jahre alt gewesen sein, wir haben bei uns zuhause einen Geburtstag gefeiert. Sie und mein Onkel waren zu Besuch. Meine Tante war eine Naturgewalt. Ihre Liebe, vor allem. Aber auch ihr Körper, der anders war als alle Körper, die ich kannte. Voller. Ein Körper, an dem man sich halten konnte. Der Sicherheit bot.

Ich mochte es, in den Umarmungen meiner Tante zu versinken. Gleichzeitig wurde ich älter. Und manchmal war ich unsicher, wie ich meinen eigenen Körper in dieser Welt halten sollte; und um andere Körper. Womöglich also war mein Umarmen vom Stuhl neben meiner Tante, auf dem ich saß, zu ihr herüber etwas ungelenk. Jedenfalls zog sie mich in ihrer impulsiven Zärtlichkeit zu sich und verkündete: „An meinem Busen kannst du rasten, wie die Kuh am Futterkasten.“ Dabei lachte sie ihr herrliches Lachen, an dem dieser ganze erstaunliche Körper beteiligt war, und drückte mich an sich.

In einer so ruhigen Selbstverständlichkeit hatte ich das Wort Busen noch nie gehört, und auch alles andere am Satz meiner Tante klingelte in meinen Kinderohren. Die Art, wie sie ihn einsetzte, passte ihn in meine Welt, ihr Lachen unterstrich einerseits die Gutmütigkeit, machte sich aber zugleich wohlwollend lustig über die Erwachsenen am Tisch, die ihn unangemessen fanden. Zwischen uns war er eine Art Einladung, sogar ein Pakt. Ich durfte bei ihr ankern, zur Ruhe kommen, rasten. Schon in dem jungen Alter war das etwas, was ich als außergewöhnlich wahrgenommen habe.

Die lachende, gewaltige Tante, ihr ebenso gewaltiger Mann und die beiden kleinen weißen Hunde sind Erinnerungsfixsterne meiner Kindheit. Auch eine Katze gab es, aber die kam nicht mit, wenn das Quartett in der Welt unterwegs war. Sie lebten etwa eine Autostunde von uns entfernt, das war damals meine Maßeinheit für Entfernungen. In der Kleinstadt meiner Kindertage gab es ein Café, in dem Tante, Onkel und die Hunde gern einkehrten, um gedeckten Apfelkuchen und Käsekuchen zu essen.

Manchmal, wenn ich in Tagträume vertieft über den kopfsteinbepflasterten Marktplatz schlenderte, hörte ich plötzlich meinen Namen. Da winkten die beiden mir fröhlich mit ihren Kuchengabeln zu und ich flitzte los, kletterte über das Mäuerchen auf die Terrasse des Cafés, begrüßte stürmisch die Hunde und naschte vom Kuchen. Es war herrlich.

Eine Weile gab es außerdem ein Ferienhaus, von dem ich nicht mehr sagen könnte, in welchem Ort es stand. Nur, dass es mit bunt lackierte Holzmöbeln gefüllt war und mein Onkel im Keller Dinge zusammenbaute, ich glaube, kleine Flugzeuge. Meinen Eltern wären bunt lackierte Holzmöbel nie ins Haus gekommen und ich erinnere Fahrten gen Heimat, auf denen sie die Köpfe schüttelten: „Das schöne Holz!“ Mir war es gleich, mich faszinierte alles, was zu meiner Tante und meinem Onkel gehörte.

Am meisten vielleicht die Feste, die sie feierten. Groß und laut und schön waren die, und am Ende zauberte meine Tante die besten Nachtische aus ihrer übergroßen Gefriertruhe, die ich je gegessen hatte. Sie verriet mir und meiner kleinen Schwester, dass sie all die Eisbomben und köstlichen Desserts bei bofrost bestellte – davon hatten wir noch nie gehört. Bei so etwas war sie pragmatisch: Sie kochte leidenschaftlich und backte Kuchen, Eis wurde bestellt. Niemand muss schließlich alles können.

Meine Tante war die große Schwester meines Paps’ und ich bin die große Schwester meiner kleinen, diese Feststellung mochte ich irgendwie. Die beiden wurden 1934 und 1936 geboren. Wenn sie von ihrer Kindheit im Krieg erzählten, klang der wie ein großer Abenteuerspielplatz. Natürlich kamen wir in ein Alter, in dem wir begriffen, dem war nicht so. Wir begriffen aber auch, es gehörte zu ihrer Strategie, die Schrecken der Jahre zu überleben und verarbeiten. Ich habe immer gerne zugehört, wenn die Geschichten kamen, manchmal interessiert nachgefragt, aber nie gebohrt nach etwas, das nicht zurück an die Oberfläche wollte.

Oft erzählten die beiden unabhängig voneinander dieselben Geschichten. Immer wurde daraus klar, dass mein Paps es als kleiner Junge faustdick hinter den Ohren gehabt hatte und meine Oma eine sehr resolute Person gewesen war, die ihre Kinder gegen alle verteidigte. Mehr als einmal habe ich die Geschichte gehört, wie russische Soldaten meinen strohblonden kleinen Paps lachend auf ihren Wagen zogen und meine Oma in der Annahme, sie wollten ihn mitnehmen, so lange zeternd und ihren Schirm schwenkend neben ihnen herrannte, bis sie ihn ihr wieder aushändigten.

Manches erschien mir mit den Jahren zu phantastisch, um wahr zu sein. Wie die Geschichte, dass meine Tante, mein Vater und einige Cousinen gemeinsam auf einer hohen Mauer saßen. Eine der Cousinen wollte, dass mein Papa ihr das störrische Innenleben aus einem Eimerchen zog, den sie für ihr Puppenspiel mochte. Er tat es, das Eimerchen fiel tief zu Boden – und detonierte. Nur die Mauer schützte die Kinderfüße vor der kleinen Handgranate, die sie nicht erkannt hatten.

Es ist noch nicht lange her, dass meine Tante am Telefon vom Gespräch mit ihrer Cousine in Berlin sprach und scherzte, dass sie diejenigen waren aus der alten Kinderclique, die noch immer lebten. Und dank der Mauer hatten sie auch alle Arme und alle Beine – sicher hätte doch mein Paps vom Schrecken mit der vermaledeiten Handgranate mal berichtet.

„Eigentlich müsste ich mir die ganzen alten Geschichten mal von dir erzählen lassen“, sagte ich damals, ein wenig benommen von der wieder aufgetauchten Cousine und ahnend, wie viele dieser Erinnerungen in meiner Tante schlummerten. „Bevor ich nicht mehr da bin, was“, sagte sie mit ihrem gewohnten Pragmatismus und ich fühlte mich irgendwie ertappt. Darüber habe ich damals lange nachgedacht. Erinnerungen und Erzählungen über Menschen, die wir lieben – und warum wir sie so gerne sammeln. Natürlich mochte ich es, wenn meine Tante von meinem Paps erzählte. Aber wollte, musste ich irgendetwas Neues über ihn hören, erfahren?

Der frühe Tod hat meinen Vater für mich überlebensgroß gemacht in den ersten Jahren des kummervollen Vermissens. Dabei ist es natürlich nicht geblieben. Und so sehr ich ihn geliebt habe, so sehr weiß ich, er war unvollkommen, ein fehlerhafter Mensch, wie wir alle: zum Glück. Im Umgang mit meiner Tante hat er sich als erwachsener Mann von den falschen Themen und Menschen leiten lassen, was schließlich zum Bruch führte. Das habe ich immer sehr für die beiden bedauert. Meiner Tante zuzumuten, sich vielleicht ungewollt mir zuliebe auf das Erinnerungsterrain dieser Beziehung zu begeben, wäre nicht gut gewesen.

Zumal sie ohnehin eine Person war, die sich selbst nie zum Zentrum einer Geschichte machte. Bei unseren Gesprächen entschied ich mich also ein ums andere Mal für den direkten Austausch: sie, ich. Ihr den Raum geben, um zu erzählen, ihre Einladung annehmen, dasselbe zu tun. Wir sprachen unregelmäßig, aber intensiv. Wenn ich ihre Stimme hörte, war sie sofort nah.

Wie geht Sterben. Wie lässt man los. Wann ist der Zeitpunkt gekommen. Darüber habe ich viel nachgedacht, seit ich vor einigen Wochen bei meiner Tante im Krankenhaus war. Sie dort besuchen zu können, war ein Geschenk. Bei aller Offenheit ist sie immer eine sehr private Person gewesen. Sie mochte es nicht, sich zu beschweren, selbst, wenn es Gründe gegeben hätte, wie Schmerzen.

Ihr unerschütterlicher Optimismus wirkte auf mich aber nie aufgesetzt, sondern hatte eine unfassbar wärmende Kraft, für die ich sie bewundert habe. Sie wusste, dass sie bei mir Kummer ansprechen könnte. Sie wollte es aber nicht. „Davon, dass ich mich ärgere oder traurig bin, wird es auch nicht besser“, hat sie oft gesagt. „Manchmal hilft es, zu reden.“ „Aber wir reden doch.“

Wenn man Liebe wie die Ringe eines Baumes betrachtet, gehörte ich nicht zum innersten Ring ihrer Beziehungen. So habe ich immer darauf vertraut, dass sie den Menschen dort erzählt, worüber sie in unseren Gesprächen ein schützendes Tuch breitete.

Der erneute Besuch in der Klinik, nicht wissend, es würde das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Worte, Gesten, geteiltes Verständnis. Ihr Mut, sich verletzlich zu machen. Meine Erkenntnis, auf dem Heimweg, dass wir immer zu wenig Zeit haben mit denen, die wir lieben. Und wir doch aufhören müssen, uns das vorzuhalten. Denn wenn wir beschenkt sind mit einer Vielzahl von Beziehungen, mit Menschen, die uns wichtig sind und wir ihnen, teilt sich Zeit immer mehr auf, stiftet jede Lebensphase neue Verbindungen.

Die alten reißen nicht ab, sie verändern sich, wachsen mit, um uns herum – und wir mit ihnen. Geteilte Momente mit meiner Tante bedeutete, geteilte Momente mit Einer, die mich fast von meinem ersten Schrei an kannte. Es gibt davon in meinem Leben fast niemanden mehr, allein das macht ihren Tod zu einer heftigen Zäsur. Wahr ist aber auch, dass es schwerfällt, sich eine Welt vorzustellen, in der meine Tante nicht mehr existiert. Wenn jemand immer da gewesen ist, erliegen wir manchmal der Illusion, dieser Mensch bliebe für immer. Festzustellen, dass dem nicht so ist, bringt einen unbeschreiblichen Kummer mit sich.

Wie funktioniert Erinnerung, was macht einen Menschen aus, was bleibt? Wie ich meine Tante erinnere, das sind nur Puzzlestücke, Fragmente eher, dessen, wer und was sie alles gewesen ist. So viele Menschen können von ihr erzählen. In all diesen Geschichten lebt sie weiter, wie auch in den Herzen derer, die sie weitertragen, sich erinnern, ihr in Liebe verbunden bleiben, weil Liebe eben: bleibt.

Ja. Meine Tante war eine Naturgewalt; in ihrer Liebe bis zum Schluss. Man sagt manchmal, ein Mensch sei wie ein Baum, unerschütterlich und sicher. Vielleicht ist der Baum mein Onkel. Und meine Tante war in diesem Bild das Baumhaus, das sich an ihn schmiegte und von ihm gehalten wurde, aus ihrer Verbindung Kraft schöpfte – und immerzu weitergab. Sie war der menschliche Ort, an den alle flüchteten vor dem Regen, an dem aber auch gefeiert wurde und so viel gelacht; wo immer Platz war für alle, die ihre Werte teilten und ihr Liebe erwiderten.

Ein Raum, der sich weitete mit ihrem Herzen, ihre Menschen aufnahm, immer da war, verlässlich und warm. Ein innerer Ort, der bleibt. Ein Gefühl, das ihren Tod überdauern wird. So, wie die Liebe zwischen ihr und uns, die nur in diesem ersten Moment des Kummers nicht weiß, wohin.

Bald aber wird sie uns wieder begegnen in zärtlichen Erinnerungen, wird dunkle Nächte erhellen und uns begleiten auf allen Wegen, die wir noch gehen. Weil es jetzt zwar eine Welt gibt, in der meine Tante nicht mehr so existiert, wie wir es kannten. Aber sie niemals aus dieser Welt verschwunden sein wird.

Danke. Für alles.

Forever my favorite Panda

Da, wo ich herkomme, im hessischen Teil des Odenwaldes, nennen die Leute die „fünfte Jahreszeit“ Fasching. Da, wo ich jetzt lebe, in Wiesbaden, wie sie wollen. Dazwischen achtzehn Jahre Mainz: Fastnacht. Das Wort hatte ich zuvor nie gehört. Nun wurde mir eingebläut, wer andere Begriffe für die närrischen Tage nutzt, werde der Stadtgrenzen verwiesen.

Ich bemühe mich also ums korrekte Wording und die Liebe zur Dollerei; vollends warm bin ich nie damit geworden. Die prägendste Erinnerung an jene Ausnahmetage ist aus der Schulzeit, als zum Schlager „Biene Maja“ plötzlich alle „Biene Mara“ sangen. Zuhause erzählte ich strahlend, ein Song von Karl Gottschalk sei auf mich umgedichtet worden – Namen waren nie meine Stärke.

Jakob verliebt sich in den Bruchweg

Manches ändert sich mit Kindern, in diesem Fall dem Sohn meiner jüngeren Schwester. Der Zauberneffe ist vier Jahre und zwei Monate, als ich ihn zum ersten Mal mit an den Bruchweg nehme, wo er sich unsterblich verliebt. Diese Liebe ist für mich magisch, weil ich ihr viele der schönsten Stunden mit Jakob verdanke.

Zurück zur Fastnacht. Wieso Mainz ein Karnevalsverein ist, musste man mir als Zugezogener natürlich erst erklären. Beleidigung der gegnerischen Fans selbstironisch ummünzen, sowas würde heute jedem Marketingmenschen um die Ohren gehauen, damals hat es funktioniert. Ein echter Don eben.

Jakob findet Fastnacht wundervoll, auch, wenn er sie Fasching nennt. Er verliebt sich in jedes überteuerte Fastnachtstrikot und als er mitbekommt, dass Fans sich im Stadion verkleiden, ist er begeistert: Da müssen wir hin. Ich versuche, herauszufinden, wie dieses gut gehütete Wissen zu ihm durchgedrungen ist, dann fahre ich los, um uns plüschige Riesenkostüme zu kaufen. Wenn ich mir das schon antue, will ich wenigstens nicht frieren.

Pandaaugen, aber in echt

Es ist Februar 2019 und wir stehen als Pandas verkleidet im Block. Jakob, er ist mittlerweile zwölf, liebt alles daran: die Kostüme, die Fahnen, die Fastnachtslieder. Er fragt jeden nicht-kostümierten Fan mit so viel Vorwurf, wieso er normal gekleidet aufgetaucht ist, dass alle Angesprochenen ganz kleinlaut werden. Als ihm irgendwer unvorsichtigerweise erzählt, zum Auswärtsspiel in Berlin kämen die Fans auch im Kostüm, reißt er mit leuchtenden Augen den Kopf zu mir rum: Wir haben Karten für die Partie. Ich ergebe mich innerlich und mache eine mentale Notiz, die Kostüme zu packen.

Drei Tage vor dem Spiel bei Hertha BSC fangen meine Augen an, seltsame Dinge zu tun. Erst schwillt das eine leicht zu, dann das andere stark und am Tag vor der Abreise sehe ich ganz ohne Kostüm aus, wie eine Panda. Ich komme ins Grübeln. Kann ich so mit Jakob die Reise antreten? Er hat sich diesen Ausflug so gewünscht. Auswärts sind wir bisher nur gemeinsam in Darmstadt gewesen, zudem wird es sein erster Flug, er ist total aufgeregt. Ich beschließe, die Entscheidung in allerletzter Sekunde zu treffen.

Am Morgen des Abfluges bekomme ich das linke Auge nur halb auf. Jakobs Blick ist bang. Ich spüre, wie hin und her gerissen er ist: Er will unbedingt nach Berlin, weiß aber nicht, ob er mich darum bitten oder Rücksichtnahme zeigen soll. Ich packe unsere Zahnbürsten in die ansonsten fertigen Koffer, schreibe meiner Familie einen Zettel, knuddle die Katzen – und wir verlassen die Wohnung. Den Zustand des Zauberneffen als aufgeregt zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Den kriegen sie ohnehin nicht!“

Weil ich lange nicht geflogen bin, haben wir viel Zeit eingeplant. Am Flughafen finde ich mich trotzdem erstmal nicht zurecht. Irgendwas ist komisch, mir ist nicht klar, wie diese unfassbar langen Schlangen zustande kommen, wo die Menschen anstehen, was da ist. Als Jakob und ich Hand in Hand durch einen Flur laufen, in dem rechts von uns Menschen aufgereiht sind, ahne ich nicht, dass meine Unbedarftheit uns gerade die Reise rettet. Am Morgen ist ein verdächtiges Gepäckstück in einem Terminal gesichert worden, der Flughafen ist komplett überlaufen, die Menschen neben uns stehen an, um in die Halle zu kommen, in die wir so selbstverständlich hineinspazieren.

Als wir den lichtdurchfluteten Raum betreten, springt uns eine kleine, uniformierte Frau in den Weg und fragt, wohin wir wollen. Ich nenne unser Gate und sie erklärt, wir müssten ans Ende der Schlange zurück und uns anstellen, um korrekt in die Halle zu kommen. Da beginne ich, zu begreifen. Als ich ihr unsere Abflugzeit nenne und frage, ob das wirklich nötig sei, sagt sie: „Den kriegen Sie ohnehin nicht.“ Ich sehe Jakobs aufgerissene Augen, spüre, wie mir ein feiner Schweißfilm den Rücken hinunterläuft und grüble fieberhaft, was ich tun soll.

Als das Funkgerät der Frau knirscht und sie uns den Rücken zudreht, ziehe ich mit dem Mute der Verzweiflung den verdutzten Jakob hinter mir her zu einer Anzeige. Von da bewegen wir uns selbstbewusst auf eine Schlange in der Hallenmitte zu. Ein Ordner kommt und sagt, hier dürften wir erst anstehen, nachdem wir in der vorherigen Schlange… Ich behaupte ohne zu zögern, das hätten wir ja, was das Chaos solle und ob er wisse, wie die Chancen stehen, mit dem Kind, das heute zum ersten Mal fliegt und sich unfassbar freut, noch die Maschine zu kriegen. Dabei ziehe ich den ehrlich verzweifelten Jakob in sein Sichtfeld.

Notlüge für den Zauberneffen

Es müssen dessen große, feuchte Augen gewesen sein: Der Mann lässt uns passieren und gibt uns den Tipp, eine Kollegin anzusprechen, die eben die Schlange abläuft, um Familien mit kleinen Kindern bevorzugt zu behandeln. Jakob flüstert besorgt: „Du hast den Mann angelogen.“ Ich küsse entschuldigend seinen Schopf. „Notfall“, flüstere ich und vermesse mit den Augen die Schlange.

Wir bewegen uns unendlich langsam durch die Halle. Ich habe keine Ahnung, wie nah wir generell am Gate sind und die Zeit tickt unnachgiebig. Irgendwann nähert sich die Ordnerin, der es obliegt zu urteilen, welche Familien sie vorzieht. Ich schubse Jakob in ihre Richtung, der sie fragt, ob er vielleicht weiter vor dürfe, er habe solche Angst, seinen ersten Flug zu verpassen. Dabei weint er und ich möchte mitweinen, weil es ein unvergesslicher Tag für ihn werden sollte, aber bitte nicht so.

Die Frau hat Erbarmen und bugsiert uns mit sich an der Warteschlange vorbei. Je weiter wir Richtung Gate vordringen, umso mehr verkleidete Nullfünfer*innen sehen wir aus der Ferne und es ist eine komplett surreale Situation, zwischen Clowns, Giraffen und Monstern nicht zu lachen und zu tanzen, sondern um jeden Meter zu kämpfen. Mittlerweile sind wir kurz vor der Gepäckdurchleuchtung. Vor uns steht eine sechsköpfige Familie, deren Flieger zwei Stunden nach unserem startet. Auf unsere Frage, ob wir vordürften, verneinen sie. Jakob weint schon wieder und ich blinzle mit meinem zugeschwollenen Auge gegen diesen Tag an.

Als Pandas ins Stadion

Ganz vorn am Band steht ein Mann mit Frau und Kind. Er ruft Jakob zu, ob der Angst vorm Fliegen hätte. „Nein, davor, mit meiner Tante das Flugzeug zu verpassen.“ Der Mann winkt uns vor. Als wir an ihm vorbeilaufen, deutet er auf mein verquollenes Auge: „Für Sie ist das heute nicht der erste beschissene Tag, was?“ Dann lacht er schallend. Ich beiße mir auf die Zunge, wir knallen unser Gepäck aufs Band und einige Minuten später kommen wir mit hängenden Zungen an dem Bus an, der auf die letzten Passagier*innen wartet, um sie zum Flugzeug zu bringen. Sobald wir sitzen, fällt alle Anspannung von Jakob ab. Er erklärt den Umstehenden lachend, dass wir fast den Flieger verpasst hätten. Wir treffen Kerstin, deren Anwesenheit mich unglaublich beruhigt, denn mein Reset dauert länger als das des Zauberneffen.

Im Flieger geben wir unsinnig viel Geld für Essen und Getränke aus und Jakobs Strahlen lässt jedes Flutlicht blass wirken. „Vorhin dachte ich noch, ich fliege nie wieder, aber das ist jetzt schon ganz schön“, erklärt er kauend, während ich immer noch ein wenig nachzittre.

Die große Stadt fasziniert Jakob, noch mehr aber begeistert ihn, dass wir an jeder Ecke eine Handvoll verkleideter Nullfünfer*innen treffen. Wir schlüpfen im Hotel in unsere Kostüme und machen uns als Pandas auf zum Stadion. Mein Auge ist mittlerweile Zweidrittel offen. Jakob redet ununterbrochen, ich komme weder gedanklich noch physisch hinterher. So ist das also, wenn man alt wird, denke ich. Der Zauberneffe dreht sich zu mir um. „Weißt du, wenn du irgendwann nicht mehr laufen kannst, fahre ich dich im Rollstuhl zum Stadion. So, wie du mich getragen hast, wenn ich müde war und nicht mehr laufen konnte.“ Ich spüre mein Herz platzen bei der Vorstellung, noch alt und grau mit ihm ins Stadion zu gehen und bin plötzlich gar nicht mehr müde. Als wir am Stadion ankommen, fühle ich mich leicht.

Etwas, das nur uns gehört

Im Block traut Jakob sich, die Jungs von der Szene anzusprechen. Vincent erklärt ihm, wie sie mit Mülltüten die Klappsitze vierfarbbunt einkleiden und er hilft begeistert. Wir verlieren das Spiel komplett unnötig, aber wen interessiert das an so einem Tag? Danach machen wir uns mit Oli auf in die Kneipe des Berliner 05-Fanclubs, in dem an diesem Abend Stefan Hofmann vorbeischaut und von der Arbeit im Vorstand berichtet.

Irgendwann machen wir uns auf den Weg ins Hotel, wo wir im Bett Pizza essen, bis unsere Augen fast zufallen. Ich döse schon, als Jakob plötzlich nach meiner Hand greift. Er hält sie ins Licht und betrachtet sie lange, dann sagt er feierlich: „Mara, weißt du, was das Schönste ist an Mainz 05?“ „Dass wir immer verlieren?“ Ich kichere, Jakob lacht, dann schüttelt er den Kopf und drückt meine Hand. „Dass es uns beiden ganz alleine gehört. Für immer.“ Meine Panda-Augen werden feucht. Ich drücke Jakobs Hand und flüstere ihm ins Ohr: „Für immer.“

Mainz 05: Fehler, die sich wiederholen

Als die damals Verantwortlichen des 1. FSV Mainz 05 am 10. November 2019 die Trennung von ihrem Cheftrainer Sandro Schwarz verkündeten, erklärte Rouven Schröder, der Schritt sei „eine Niederlage, die alle Verantwortlichen betreffe“. In der Pressekonferenz an jenem Sonntag ließ der einstige Sportvorstand sich nur so halb entlocken, wer bei den intensiven Gesprächen, an deren Ende laut Vereinsmitteilung die „einvernehmliche Trennung“ stand, den entscheidenden Schritt gemacht hatte. Letztlich fühlte sich das Auseinandergehen an, wie das Ende eines Abnutzungskampfes, in dem viele Fehler passiert waren.

Identifikationsfiguren, die am Ende gehen mussten: Svensson und Schwarz. (Foto: Imago/Koch)

Der einstige Spieler Schwarz, bei Amtsantritt von den älteren Fans – damit meine ich nicht qua Personalausweis, sondern in Sachen Vereinszugehörigkeit – begeistert aufgenommen, hatte sich im erweiterten 05-Umfeld nie den Rückhalt erarbeiten können, der nötig schien, damit dieses sich in einer echten Krise geschlossen hinter ihn stellte. Der Vorwurf dafür ging damals an die Vereinsführung, die es in turbulenten Zeiten nicht geschafft hatte, den Coach zu befreien vom vermeintlichen Makel, mit der Zweiten Mannschaft aus der 3. Liga abgestiegen zu sein. Immer wieder wurde Schwarz von außen darauf reduziert.

Wie ein Autounfall, der zum zweiten Mal passiert

Als Schröder & Co. damit begannen, den Trainer fürs Umfeld zum einen sichtbar zu stärken, ihn zum anderen aber mit den Anhänger*innen unter anderem bei einem Fanabend in den Austausch zu bringen, war es bereits zu spät. Das in Teilen schwierig gewordene Umfeld des Clubs verweigerte sich dem Zusammenhalt – und Schröder benannte genau das bei jener PK im November 2019 als einen der Gründe, warum es gemeinsam nicht weitergehe.

Von Anfang an keine gute Lobby: Ex-Trainer Sandro Schwarz. (Screenshot: M05)

In gewisser Weise fühlen sich die letzten Wochen an, als habe man denselben Verkehrsunfall ein weiteres Mal beobachtet. Allerdings unter völlig anderen Vorzeichen, was die Sache noch unverständlicher macht. Schröder musste sich nach der Trennung von Schwarz den Vorwurf gefallen lassen, er sei vom „Mainzer Weg“ abgewichen, nachdem er sich diesem doch einige Jahre zuvor scheinbar auch verpflichtet hatte, als er nämlich nach fünf Niederlagen am Stück im Saisonendspurt an Trainer Martin Schmidt festhielt und man so den Klassenerhalt schaffte.

Die Parallelen der Entwicklung zu 2019 sind auffällig

Im November 2023 sind bei Mainz 05 aber Menschen in der Verantwortung, die den Mainzer Weg quasi erfunden haben. Und natürlich kann man nach der offiziellen Kommunikation der letzten Stunden sagen, dieser wurde doch gar nicht verlassen, denn was können Heidel und Schmidt dafür, dass Bo Svensson von seinem Amt zurücktritt. Die Frage muss aber doch sein, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und da sind die Parallelen zu 2019 frappierend.

Wer den zunehmend mitgenommenen Svensson in den zurückliegenden Wochen, ob analog oder digital, bei den Pressekonferenzen erlebte, stellte sich irgendwann die Frage, wieso der Trainer auf dem Podium keine Unterstützung erhielt. Es ist in unruhigen Zeiten schließlich nicht unüblich, dass auch ein Sportverantwortlicher dort Platz nimmt, um Fragen abzufedern, die sich um die Zukunft des Coaches drehen. In der Mitgliederversammlung hat Christian Heidel am Montag gesagt, kein Journalist traue sich, ihm die Trainerfrage zu stellen. Seinem Coach aber wurde sie permanent gestellt, anfangs in Sachen Verlängerung des Vertrages, später in der Erwartung, er möge die eigene Tauglichkeit bewerten. Warum hat man ihn mit diesem Thema Woche für Woche alleine gelassen?

Svensson und Schwarz: Selbst ihre stärksten Kritiker

Was Svensson und Schwarz typmäßig sicherlich eint, ist die Tatsache, dass keine Kritik oder Analyse von außen härter mit ihnen umspringen kann als jene, die beide im Inneren selbst anlegen. Das Gefühl, vollumfänglich für eine Situation verantwortlich zu sein und in einer Krise immer wieder zuerst und mit voller Härte bei sich selbst anzusetzen, kann lähmend sein. Es ist eine Lähmung, die sich bei beiden Trainern in der Schlussphase ihrer Tätigkeit bei Mainz 05 beobachten ließ – und aus der ihnen nicht herausgeholfen wurde.

Am Ende alleine gelassen? Ex-Trainer Bo Svensson vorm Pokalspiel. (Screenshot: M05)

Natürlich kann man in beiden Fällen auch trefflich darüber streiten, ob die Trennungen nicht notwendig waren, ob neue Impuls nicht doch hilfreich sind, ob die These von einem Mainzer Weg, der beinhaltet, gemeinsam in die Krise hinein und aus ihr herauszugehen im heutigen Fußball einfach keinen Platz mehr hat. Man kann sich dann aber auch fragen, was die Identität eines Clubs wie Mainz ausmachen soll, wenn nicht diese inneren Besonderheiten. Und auf diese Frage sollten die Verantwortlichen möglichst ein paar Antworten finden. Denn wenn selbst Bo Svensson, der sich seit 16 Jahren als 05er versteht, der den Verein mit jeder Faser seines Wesens lebt, der ihn aus einer schier unmöglichen Situation im Winter vor drei Jahren gerettet hat, wenn also selbst dieser Trainer und Mensch im erweiterten Umfeld des Clubs in der ersten ernsthaften Krise seiner Amtszeit so wenig Kredit hat, wie zuletzt zu beobachten war: Wer hat hier dann überhaupt noch über eine guten Tag hinaus Kredit?

Und natürlich spielt die Frage nach diesem Kredit eine Rolle für das, was passiert ist, denn es braucht nun wirklich niemand glauben, dass ein Trainer zurücktritt, der spürt, er ist getragen im Vertrauen und es gibt eine Basis für den gemeinsamen Weg aus der Krise.

Woher soll die notwendige positive Wucht kommen?

Als Christian Heidel im Dezember 2020 zurückgekehrt ist zu 05 hat er offen darüber geredet, wie verändert er das Umfeld des Clubs wahrnehme. In seiner Amtszeit seither betont er ab und an, die Fans hätten sich wieder hinter 05 versammelt, er nehme in der Stadt eine ganz andere Stimmung hinsichtlich des Vereins wahr. Am Montag bei der Mitgliederversammlung bedankte er sich sogar für das gute Gespür der 05-Anhänger*innenschaft in der schwierige Situation. Das klang da schon, als sei der Wunsch Vater dieses Gedankens. Der Vergleich zur Lage des Vereins kurz vor der Trennung von Schwarz wurde an jenem Abend auch gezogen, allerdings von Fanseite. Die Verantwortlichen selbst können ihn vielleicht nicht ziehen, weil sie damals nicht in Verantwortung waren und sich die Vorgänge im Nachhinein womöglich nicht erarbeitet haben. Anders jedenfalls ist nur schwierig zu erklären, wieso niemandem die Parallelen aufgefallen sind, als die Sache noch zu retten gewesen wäre.

Nach der Trennung von Schwarz haben es die Spieler um Kapitän Danny Latza damals geschafft, sich aus dem Gefühl der Ohnmacht zu befreien, ihren Trainer komplett im Stich gelassen zu haben – und eine kurzzeitige Leistungsexplosion hingelegt. Langfristig war die Trennung von Schwarz dennoch der Auftakt in eine in der 1. Liga beispiellose Vereinskrise im Innen und Außen, die erst gestoppt wurde, als Christian Heidel, Martin Schmidt und Bo Svensson wieder zu Mainz 05 kamen. Damals war es die ungebremste Euphorie über die Rückkehr der drei Identifikationsfiguren, von der die Kraft ausging, diese schier ausweglose Krise gemeinsam zu meistern.

Wovon genau soll eine ähnliche positive Wucht, die ja zweifellos nötig ist, jetzt ausgehen? Es ist eine Frage, auf die Antworten besser gestern als heute gefunden werden müssen. Ebenso wie auf diese: Wenn die Ansage lautet, der Verein steht über allem und allen – was ja nicht falsch ist: Wofür genau möchte Mainz 05 in Zukunft stehen?

WM-Aus der DFB-Frauen: Vergleiche zur Unzeit

Das historisch frühe Aus der deutschen Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland ist extrem schmerzhaft. Die öffentlichen Reaktionen sind es allerdings auch.

Es hatte sich im Vorfeld der WM schon eine unheilvolle Sicht aufs Turnier angekündigt, als es plötzlich vielfach hieß, die Frauen sollten in Australien „den deutschen Fußball retten“. Oder: Man wolle doch mal sehen, ob sie es besser hinbekommen würden, als zuletzt die Männer: Vorrunden-Aus in Russland und in Katar, Vorrunden-Aus bei der U21. Das müssten die Frauen besser können. Nicht?

Die WM als schmerzhafte Erfahrung. Aber an Alexandra Popp hat das frühe Aus ganz sicher nicht gelegen … (Foto: IMAGO / Eibner)

Selbstverständlich ist der Anspruch des Teams, das da nach Australien gereist ist, eine Vorrunde zu überstehen. Übrigens völlig unabhängig von deren Besetzung. Aber wieso müssen sich die Spielerinnen in Sachen Leistung plötzlich permanent mit den Männern vergleichen lassen, auch von denen, die in Sachen Geld und Strukturen gerne betonen, Vergleiche führten nirgendwo hin?

Immerhin, der – sportlich sicher zu hoch ausgefallene – 6:0-Sieg gegen Marokko im ersten Spiel ließ eine Welle der Euphorie durch deutsche Wohnzimmer schwappen. Die ja geteilt sind in Sachen Fußball der Frauen: Da sitzen einerseits Fans, deren Begeisterung über Jahre quasi mitgewachsen ist, zum anderen jene, die sich haben anstecken lassen von den tollen Spielen bei der Europameisterschaft in England.

Begeisterung ist viel mehr als ein Hype

Die Reaktionen auf das erst ein Jahr zurückliegende Turnier zu verkürzen auf einen „Hype“ um den Fußball der Frauen ist falsch und schädlich, zumal dem Begriff in Sachen Wortbedeutung immer auch die Unterstellung einer Übertreibung innewohnt. Die Fußballerinnen haben hier in Deutschland aber mit der EM 2022 und weltweit gesehen – Stichwort US-Team – auch schon mit der WM 2019 lediglich begonnen, Früchte zu ernten, die über sehr lange Zeiträume gereift sind.

Sie tun das gegen enorme Widerstände, das gilt sowohl historisch, als auch noch in der Gegenwart (und wiederum für viele Länder gleichermaßen). Es ist wichtig, diese Tatsache in die aufkommende Häme nach ihrem Ausscheiden hinein wieder und wieder zu betonen. Wer die derzeitige Debatte verfolgt, könnte leicht auf die Idee kommen, mit dem Aus des DFB-Teams in der Vorrunde sei ein übermäßig gepampertes Projekt gescheitert. Nichts ist ferner von der Wahrheit.

Denn ja, es spielt bis heute eine Rolle, dass es Frauen innerhalb des DFB von 1955 bis 1970 verboten war, Fußball zu spielen. Sie haben in dieser Phase parallele Strukturen gebildet, Menschen für sich begeistert, für ihre Belange gekämpft. Der DFB hat sie halbherzig unter sein Dach geholt, damit sie nicht ungehindert wachsen, ihnen die Spielzeit verkürzt und monatelange Winterpausen eingeführt. Diese doppelte Blockade wirkt nach. (Für die Situation in anderen Ländern empfehle ich diese Lektüre.)

Wer wollte bestreiten, wie fabelhaft sich die Männer in der Zeit, unter stetiger Förderung, entwickeln konnten? Debatten wie jene um Equal Pay und Equal Play sind deswegen kein kurzfristiges Phänomen aufgrund einer guten EM, sie sind vielmehr überfällig und kommen nun Verband für Verband mit einer Generation von Spielerinnen zusammen, die sie mutig auf den Plan bringt.

Mangel an den elementarsten Strukturen

Dem Fußball der Frauen mangelt es weiter an den elementarsten Strukturen. Das beginnt schon im Nachwuchs, wo Leistungszentren wie bei den Jungs nicht bloße Zukunftsmusik sind, sondern fast schon wie Science-Fiction klingen. Mal ganz abgesehen davon, in wie vielen Regionen es für Mädchen gar keine Angebote gibt, sie als Kinder mit den Jungs spielen – und dann aus dem System fliegen, stundenlange Fahrten auf sich nehmen müssen oder aufhören.

Dass die schlechteren Ausbildungsmöglichkeiten, Versorgungen und medizinischen Strukturen eng mit dem hohen Verletzungsaufkommen bei den Spielerinnen zusammenhängen, ist längst zur Binsenweisheit geworden, gegen die aber viel zu wenig unternommen wird.

Wie nachrangig die Frauen weiterhin auch im DFB behandelt werden, ließ sich ganz wunderbar an der Nachfolgeregelung für Oliver Bierhoff ablesen: Rudi Völler verantwortet die Nationalteams der Männer und der U21 als Direktor, denen mit Blick auf die EM 2024 im eigenen Land besondere Bedeutung zugemessen wird. Die WM 2023 wurde einfach ignoriert.

Der strukturelle Mangel betrifft die Vereine und geht weiter beim Blick in die Ligen, ignoriert und unterversorgt in quasi allen relevanten Themen. All das liegt seit langem offen auf dem Tisch, ohne, dass viel passieren würde. Auch Sichtbarkeit bleibt ein Problem: Wer soll sich für Spiele begeistern, die wenn überhaupt meist im Pay-TV oder wackligen Streams zu sehen sind? Selbst die Übertragung der WM stand in vielen Ländern bis zuletzt auf der Kippe.

Wenn nun aber eine selbstbewusste Generation von Spielerinnen die eigene Sichtbarkeit in sozialen Medien nutzt – die für sie aufgrund der eklatanten Gehaltsunterschiede eine viel größere Bedeutung hat, als für die Männer –, wird der Vorwurf formuliert, derlei habe sie vom besseren Spielen abgelenkt. Wer Koalas häkelt, bringt demnach keine Leistung. Und wenn der DFB mit der Serie „Born for this“ endlich auch einen Fokus auf seine Frauen lenkt, heißt es, damit habe man ihre Bedeutung überhöht.

Spielerinnen haben immer Themen neben dem Platz

Gleichzeitig ist zu vernehmen, die Pleite der Spielerinnen wiege schwerer als jene der Männer, weil sie sich aufs Turnier konzentrieren konnten und nicht abgelenkt waren von Debatten wie der um die One-Love-Binde. Was wirklich witzig ist, denn anders als die überbezahlten männlichen Profis müssen die Frauen sich immer parallel zum Fußball mit anderen Dingen beschäftigen, allein schon, weil die meisten von ihnen nur vom Sport nicht leben können.

Und wenn doch, dann nicht über ihre Zeit als Spielerin hinaus.

Diese „Argumentation“ übersieht zudem, dass Themen wie die Frage nach der Übertragung der Spiele natürlich ebenfalls hineinwirkten in das Team. Oder dass sich die Spielerinnen bewusst für jene Binde entschieden haben, die mahnt vor Gewalt gegen Frauen. Das ist nicht einfach so passiert, sondern aus dem Bewusstsein heraus, was diese vielfach erleben müssen. Es ist keine Symbolpolitik, sondern zeigt ein Bewusstsein für Verletzlichkeit in einer männlich dominierten Gesellschaft.

Zur intensiven sportlichen Aufarbeitung des Turniers gehört Kritik an den teils rätselhaften Leistungen nicht nur dazu, sie ist auch wichtig. Doch sie sollte eben nicht passieren, ohne zugleich die Strukturen anzusprechen. Denn wie weit die DFB-Spielerinnen unter den mangelnden Voraussetzungen in all den Jahren immer wieder gekommen sind, ist das eigentlich Erstaunliche. Dies gilt übrigens auch nach wie vor: Die U19 ist gerade fast unbemerkt von der größeren Öffentlichkeit Zweite bei der EM geworden.

Es ist aberwitzig, nun so zu tun, als ob die noch sehr neue Gleichstellung in Sachen Unterkünften und Vorbereitung rund um große Turniere alles aufwiegen würde, was in den Jahren zuvor versäumt worden ist. Wer gerade jetzt anfängt, den Fußball der Frauen mit jenem der Männer zu vergleichen – oder gar gleichzusetzen – beteiligt sich an einer wichtigen Debatte allenfalls populistisch.

Schwimmbaddusche

Unter der Schwimmbaddusche
sind die Körper
aller Frauen
genau richtig.
Die alten und jungen
die großen und kleinen
die weichen und muskulösen.
Unter der Schwimmbaddusche
wogt ein Meer aus Brüsten
zart und mächtig
spitz und flach
hängend und aufrecht
in friedlichem Einklang.
Unter der Schwimmbaddusche
grüßen Stimmen
so freundlich
wie Schweigen
hängen Gedanken
neben Träumen
in der schwülen Luft.
Unter der Schwimmbaddusche
verschwimmen Grenzen
verschwindet Scham
ist alles ein großes Wir
hier drinnen
die wir das Geheimnis des Beckens teilen
da draußen
und davon, was passiert
wenn unsere Herzen
unter Wasser
die Luft anhalten.
Unter der Schwimmbaddusche
sind alle Körper
genau richtig
genau glücklich.