Geschichte ohne Heimat

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Eine meiner lebendigsten Erinnerungen an meinen Großvater ist diese: Seit einer Weile bin ich zum Studium in Mainz und arbeite dort beim Unifernsehen. Es bereitet mir unfassbare Freude, weil ich das glücksbringende Gefühl habe, etwas zu tun, womit ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Besonders stolz bin ich auf einen Beitrag über die Vertreibung Mainzer Juden während des Zweiten Weltkriegs, für den ich mit der Zeitzeugin Gerti Meyer-Jorgensen sprechen konnte, eine Begegnung, die mich tief berührt hat. Damals besucht mich mein Opa zum ersten und einzigen Mal in der neuen Wahlheimat, und ich zeige ihm mit glühenden Wangen den Beitrag. Als die Bilder auf dem Schirm erloschen sind, steht ihm die Zornesröte im Gesicht und er stößt grollend hervor: „Euch junge Leute interessiert bloß, was die Juden mitgemacht haben. Wieso beschäftigst du dich nicht stattdessen mit deiner eigenen Geschichte?“ Danach hatte er es eilig, aufzubrechen.

Ich war enttäuscht und verwirrt. Enttäuscht, weil mein Großvater, dessen erklärter Liebling ich als Mädchen gewesen bin, alles andere als ein Fan meines persönlichen Lebensentwurfs war. Er hielt von meiner Entscheidung für ein Studium wenig, sein Besuch in Mainz erfolgte widerwillig und ich hatte gehofft, ihm mit dem Film zu zeigen, dass ich etwas mit meinem Leben anstellte, was seine Zustimmung verdiente. Verwirrt, weil ich nicht wusste, wovon er sprach: Was meinte er mit meine eigene Geschichte? Ich hatte im Heranwachsen zwar immer mal den Begriff Donauschwabe gehört, konnte diesen aber nicht wirklich zuordnen. Und mein Großvater war ein schweigsamer Mann, der selten über seine Geschichte und die Erlebnisse während des Kriegs sprach. So waren es lediglich Bruchstücke, die ich als junge Erwachsene kannte – und mit diesen beschäftigte ich mich kaum. Was weniger an (m)einer jugendlichen Ignoranz lag, als am komplizierten Verhältnis zu meinem Opa und seiner Seite der Familie.

Das Flucht-Tagebuch meiner Urgroßmutter. (Foto: WP)

Das Flucht-Tagebuch meiner Urgroßmutter. (Foto: WP)

Eine weitere besonders lebendige Erinnerung an meinen Großvater muss zeitlich relativ nah an der ersten liegen, damals saßen wir im Garten meiner Eltern am Kaffeetisch. Ich erzählte von einem Film, der den Zweiten Weltkrieg zum Thema hatte und der mich sehr beschäftigte, unter anderem durch die Darstellung der SS-Soldaten. Mein Opa grollte, immer machten nur Menschen Filme zu diesem Thema, die nichts davon verstünden, und ich stellte herausfordernd die Frage, wieso er glaube, mehr dazu sagen zu können? „Weil ich bei der SS war.“ Der Satz schwebte über dem Kaffeetisch wie eine Wolke vor der Sonne. Meiner überraschten Mutter fiel beinahe die Kuchengabel aus dem Mund, die Lebensgefährtin meines Opas brummte ihn unwillig auf Ungarisch an und ich begann zögerlich, Fragen zu stellen. Es ist in meiner Erinnerung das einzige Mal, dass mein Großvater sich auf ein Gespräch einließ, das all diese Themen berührte, und es blieb kurz. Andere Teile des Puzzles habe ich später aus Dokumenten und Filmen erfahren, vieles habe ich bis heute nicht so nah an mich herangelassen, dass ich es als einen Teil meiner eigenen Geschichte verstehen konnte – doch genau das ist es.

Als kleiner Bub lebte mein Opa mit seinen Eltern und seinem Bruder in Apatin, einer Stadt im heutigen Serbien, wo seine Vorfahren sich einst entlang der Donau angesiedelt hatten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde die Situation für die so genannten Volksdeutschen immer komplizierter. Obwohl viele von ihnen Apatin als die eine Heimat verstanden, wurden sie im Umkehrschluss als Deutsche empfunden und spätestens in den letzten Kriegsjahren vielfach in Lager interniert. Mein Opa und sein Bruder Josef schlossen sich, wie viele junge Männer ihres Alters, den deutschen Truppen an, die in den Dörfern damals gezielt Soldaten anheuerten. „Ein Tag, an dem du nicht eine deutsche Frau vergewaltigt und einen deutschen Soldaten getötet hast, war ein schlechter Tag“, diesen Satz zitierte mein Großvater in den seltenen Momenten, wenn er über jene Zeit sprach. Die Partisanen, die durch die deutschen Dörfer zogen, sollen ihn in ihre Megafone gebrüllt haben. „Wir waren Nachbarn, Freunde, Brüder. Plötzlich wirst du mit deiner Familie zur Zielscheibe eines Hasses, mit dem du nichts zu tun hast.“

Mein Urgroßvater und sein Enkel in Apatin. (Foto: privat)

Mein Urgroßvater und sein Enkel in Apatin. (Foto: privat)

Im Oktober 1944 entschloss sich meine Uroma, die Mutter meines Großvaters, mit den beiden Schwiegertöchtern und ihrem Enkel zur Flucht. Ihre Söhne waren da bereits im Krieg und ihr Mann wollte nachkommen. Die Ehefrau meines Großvaters konnte sich letztlich nicht von ihrer Mutter trennen und blieb zurück, sie wurde interniert und starb im Lager an Typhus. Meine Uroma floh mit ihrer schwangeren Schwiegertochter und dem Enkel per Schiff aus der Heimat und dokumentierte die folgenden Monate in einem Tagebuch. Als mein Opa vor einigen Jahren starb, landete dieses samt seiner Sammlung über die Geschichte der Donauschwaben in meinem Besitz. Bis vor wenigen Wochen habe ich nie einen Blick in die Aufzeichnungen geworfen, was mich heute innerlich den Kopf schütteln lässt, aber letztlich in der angesprochenen komplexen Beziehung begründet ist, die ich mit meinem Opa hatte. Seine Mutter, meine Uroma, habe ich noch kennengelernt und sehr geliebt, sie war für meine kleine Schwester und mich die Zwiebackoma, weil sie die Taschen ihres Hauskittels immer voller Krümel der Gebäckstücke hatte, die sie bis ins hohe Alter so gerne knabberte. Den Bogen zu schlagen zwischen ihr und der Geschichte in diesem Tagebuch ist mir erst kürzlich gelungen: Manchmal dauert es eben seine Zeit, bis wir Schätze erkennen und bergen können, die uns das Leben schenkt; so wie ich diese Geschichte, die auch meine eigene ist.

Mein Großvater war ein sturer Mann, der wenig aus der eigenen Geschichte gelernt hat. Der Verlust seiner Frau, die Erfahrungen des Krieges und das Gefühl, von den eigenen Wurzeln gewaltsam getrennt worden zu sein, haben ihn sein Leben lang geprägt. Als er starb, sagte der Pfarrer bei seiner Beerdigung über ihn, er habe meinen Opa als einen Menschen kennengelernt, der den Verlust seiner alten Heimat nie verwunden hat und dem es nicht gelungen ist, in der neuen wirklich anzukommen. Die Vertreibung, das ungute Gefühl einer eigenen Schuld und eine diffuse Wut darüber, nicht willkommen gewesen zu sein an dem Ort, den ihm das Schicksal zuwies, all das ergab im Herzen meines Großvaters eine Ambivalenz, aus der viel Wut erwuchs – und wenig Einsicht. Was die bizarre Folge hatte, dass er in Diskussionen um Flüchtlinge und Zuwanderung stets fluchte, Deutschland werde von Ausländern überrannt: Die Enttäuschung darüber, als Rückkehrer mit verschlossenen Armen empfangen worden zu sein, brachte ihn nicht dazu, andere herzlicher willkommen zu heißen. Es war ein Widerspruch, der mich zunehmend erzürnte und der wütende Diskussionen zwischen uns entfachte.

Original und Abschrift des Vorworts im Tagebuch. (Foto: WP)

Original und Abschrift des Vorworts im Tagebuch. (Foto: WP)

Die Flucht hatte meine Uroma über Ungarn nach Niederösterreich geführt, wo ihr zweiter Enkel zur Welt kam und sie und die Schwiegertochter kurzzeitig Besuch von meinem Opa und seinem Bruder erhielten. Als der Krieg schließlich vorbei war hoffte sie, wie viele Menschen aus ihrem Dorf, zurückkehren zu können in die Heimat. Doch an der Grenze wurden die Volksdeutschen von den englischen Besatzern nicht zurückgelassen und meine Uroma schreibt dazu:

„Später haben wir erfahren, dass sie uns nicht nach Jugoslawien gelassen haben, weil die Partisanen die Volksdeutschen dort gefangen haben. Die Männer wurden fast alle erschossen, Frauen und Kinder ins Lager gesperrt. Gott sei Dank, dass uns dieses Schicksal erspart wurde.“

Nach über einem halben Jahr Flucht und Vertreibung sowie des Lebens in der Fremde, war es für meine Uroma dennoch ein sehr großes Unglück, nicht nach Hause zurückkehren zu können. Ob ihr Mann und die Söhne noch am Leben waren, wusste sie schon seit langer Zeit nicht mehr. Zurück in der Übergangsheimat Österreich konnten sie bei der Familie, die sie zuvor beherbergt hatte, nicht wieder leben. Was in dieser Zeit neben der Angst um ihre Lieben besonders aus den Zeilen meiner Urgroßmutter spricht ist, wie sehr sie sich schämt, so von anderen Menschen abhängig zu sein. Ausgerechnet sie, die ihr Leben immer mit beiden Händen selbst im Griff gehabt hatte, musste permanent bitten und betteln.

„Diese Leute hatten vom Krieg nichts mitbekommen und nichts verloren und hatten auch kein Verständnis für unsere Lage.“

Es ist dieser Satz im Tagebuch meiner Uroma, der für mich emotional noch deutlicher als all die anderen eindringlichen Worte, die sie findet, die Brücke schlägt zu der Situation, die wir heute erleben. Wenn ich beobachte, wie Europa, wie Deutschland mit den Flüchtlingsströmen umgeht, mischen sich in den letzten Tagen glücklicherweise immer mehr positive Meldungen unter jene, aus denen zuletzt so häufig Dummheit, Ignoranz und auch Hass gesprochen haben. Und dafür bin ich wahnsinnig dankbar. Es kann aber nur der Anfang einer Veränderung in unserer Gesellschaft sein, die uns alle dahin führt zu begreifen, dass Heimat kein Besitz ist, den wir in Westeuropa verwalten, sondern ein Menschenrecht, das zu teilen unsere Pflicht ist. Eine, die sich schon allein aus der Menschlichkeit ergibt, die jeder von uns hoffentlich in sich trägt, aber auch eine, die sich aus der Geschichte gerade unseres Landes ableitet.

Refugees Welcome

Die wenigsten von uns können glücklicherweise ermessen, was Krieg und Flucht bedeuten, wie sie ein Menschenleben prägen und welche Not sie mit sich bringen. Dafür können wir uns in diesem Land ganz besonders glücklich schätzen. Aus der Heimat fliehen zu müssen schlägt eine Wunde, die niemals ganz aufhört zu pochen. Aber sie kann erste Heilung erfahren in den offenen Armen, mit denen Flüchtlinge in der neuen Heimat empfangen werden.

3 thoughts on “Geschichte ohne Heimat

  1. Hallo liebe Wortpiratin, ein schöner Artikel. Die Familien meiner Mutter und die der Mutter meines Mannes waren auch Flüchtlingsfamilien. In unserer Gegend, dem Erzgebirge, gibt es unheimlich viele Sudetendeutsche und durch den Bergbau auch ehemalige schlesische Bergarbeiterfamilien. Und gerade hier scheint sich dieser Hass vermehrt zusammenzubrauen?!

    Leider ist wahrscheinlich dieses Thema nie an die jüngere Generation kommuniziert worden, du besitzt mit diesem Tagebuch einen wahren Schatz!

    Bei uns und in der Familie meines Mannes existieren nur bruchstückhafte Fetzen, keiner sprach über Details oder gar Gefühle. Das Thema war tabu, bzw. wurde die Erinnerung an die Heimat eben hochstilisiert. Das Grauen wurde ausgeblendet. Mein Großvater war auch bei der SS-das habe ich spät und auch nur andeutungsweise erfahren, nie von ihm persönlich. Er war immer sehr liebevoll zu mir -auch zu seinen Töchtern. Vom Krieg sprach er nie kritisch, das hat mich immer ziemlich verwirrt.

    Sicher ist es ein großer Fehler, dass dieses Schweigen.. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ehemalige Flüchtlingskinder -wie meine Schwiegermutter, die damals als Dreijährige zu Fuß aus Schlesien herkam- teilweise völlig unreflektiert und empathielos über das Thema Flüchtlinge reden. Ihr Vater starb damals bald nach der Ankunft an einem Magendurchbruch und hinterließ die Frau mit ihren vierjährigen Zwillingen und einer älteren Tochter. Ich verstehe es nicht, wenn da Herzenskälte herrscht.

    Und vielleicht wäre es gut, wenn dein Schatz irgendwie nicht im Kästchen bleibt…

    Liebe Grüße von Nicole

    • Liebe Nicole,

      danke für deine ausführlichen Gedanken zu diesem Thema. Ja, mich irritiert an dieser Art des Umgangs auch vor allem, dass eben aus den eigenen Erlebnissen scheinbar so gar kein positives Verhalten gegenüber Menschen in ähnlichen Notlagen abgeleitet wird. Ich denke, es hat unter anderem damit zu tun, dass trotz der oft engen emotionalen Bindung an die verlorene Heimat immer das Gefühl vorherrschte, „zurückzukommen“. Und darauf schien es in der Wahrnehmung vieler eine Art Anspruch zu geben, den man Flüchtlingen ohne eine eigene Geschichte in diesem Land nicht zuerkennt.

      Schwer zu beurteilen, welche Mechanismen da arbeiten, aber genau das konnte und kann ich auch nicht nachvollziehen.

      Liebe Grüße,
      Mara

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