An dich werd’ ich denken: Die erste Liebe

111 Himmel

1. Grund
Weil wir noch keine Angst davor haben, zu scheitern

Wo fängt die Liebe eigentlich an – und wann? Und ich meine damit nicht die Liebe, die uns gilt: Von unseren Eltern, die unser Ankunft nicht erwarten konnten. Von der Verwandtschaft, die nicht damit aufhören will, uns zu knuddeln und zu kneifen. Von Mamas Freundinnen und Papas Kumpels, die uns einfach nur total süß finden. Von unseren Geschwistern, die, bei aller Eifersucht, nie mehr ohne uns sein möchten. Nicht die Liebe also, die uns entgegengebracht wird, noch dazu von Menschen, die irgendwie per Definition nicht anders können, weil sie zu dem kleinen Kosmos gehören, in den wir hineingeboren werden. Weil sie sich mit für uns verantwortlich fühlen und ihnen unser Wohlergehen am Herzen liegt. Ich meine auch nicht das Gefühl, mit dem wir wiederum auf die Zuneigung dieser Menschen reagieren – sondern die erste Liebe, die wir aus uns selbst heraus für einen anderen entwickeln. Die erste bewusste Auseinandersetzung mit diesem Gefühl und seiner Entstehung. Damit, dass da etwas in uns passiert, was sich nicht kontrollieren lässt: die erste Verliebtheit.

Wenn wir uns an unsere erste Liebe erinnern, dann wandern unsere Gedanken meist zurück zu jenen Jugendlieben, für die wir erstmals große, romantische Gefühle gehegt, mit denen wir die ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt haben. Doch dabei übergehen wir die süßesten aller Herzklopfmomente – die, bei denen wir geliebt haben, ohne recht zu wissen, was das ist. Die unschuldigen Anfänge all dessen, was uns den Rest des Lebens begleiten wird: unsere Sandkastenliebe. Als Kinder lieben wir mit großer Ernsthaftigkeit und zugleich vollkommen furchtlos. So, wie wir uns die Rutsche herunterstürzen, ohne auch nur einen Gedanken an aufgeschlagene Knie oder aufgeschürfte Unterarme zu verschwenden, begegnen wir auch den Menschen, die uns berühren: mit offenem Herzen und fliegender Begeisterung. Was kann uns schon passieren? Was sollte denn auch schiefgehen? Das Gefühl, das da wie aus einem langen Schlaf in uns erwacht, hat eine solche Macht, es wäre lächerlich zu glauben, eine Gefahr gehe davon aus, ihm unverdrossen zu folgen; und zu vertrauen. Auf dieses Herzklopfen und darauf, dass sich nur Gutes daraus ergeben wird.

Der erste Junge, dem ich bereit war, mein Herz zu schenken, hieß Ingo – und diese Zuneigung war von einem erstaunlichen Pragmatismus geprägt. „Willst du mit Ingo später mal Kinder haben?“, fragten meine Eltern, belustigt darüber, wie ernst ich ihnen meine Pläne für ein gemeinsames Leben mit dem ebenfalls Vierjährigen vortrug. Meine achselzuckende Antwort: „Ich hätte ja nichts dagegen, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Ingo schon weiß, wie das geht.“ Und wo wir beide später mal wohnen wollten? „Lieber bei euch als bei seinen Eltern, bei denen im Treppenhaus riecht es immer so komisch.“ Unklar, ob die Beziehung an diesem seltsamen Geruch scheiterte oder daran, dass Ingo den Kindergarten ein Jahr vor mir gen Schule verließ, mit Sicherheit lässt sich nur so viel sagen: Die Geschichte verlief sich im Sande.

Ja, ich will. (Foto: Gabi Kutscher)

Ja, ich will. (Foto: Gabi Kutscher)

Und so war mein Herz frei für die zweite, ungleich intensivere Kindergartenliebe zu einem Jungen, der bis heute zu meinem Leben gehört: Alexander. Unsere Mütter waren Freundinnen und wir gehörten quasi per Geburt zum Leben des jeweils anderen dazu, waren einander nicht nur von Kindesbeinen, sondern schon von dicken Babywaden an bekannt. In unserem letzten Kindergartenjahr kam zu der wohligen Freundschaft, auf die wir uns stets verlassen konnten, eine Neugierde aufeinander, auch eine kindliche auf das fremde Geschlecht – und schließlich das unbestimmte Gefühl, der andere spielt eine größere Rolle im eigenen Kosmos als all die anderen Kinder, mit denen wir unsere Zeit verbringen. „Mama, der Alex wollte wissen, wie es unter meinem Rock aussieht“, erzählte ich arglos beim Mittagessen. „Und, hast du es ihm gezeigt?“ „Na klar, er ist ja mein bester Freund. Aber erst musste er mir zeigen, wie er da aussieht.“ Und ich erinnere mich tatsächlich noch daran, wie wir uns nach dem Mittagsschlaf zusammen in den Waschraum des Kindergartens schlichen. Hier, wo sonst so profane Dinge passierten wie das tägliche Zähneputzen, ließen wir im Wortsinne die Hosen voreinander runter und betrachteten mit großem Interesse die fremde Anatomie. Danach liefen wir Hand in Hand in den Hof und spielten den Rest des Tages Ritter und Prinzessin, ohnehin unser liebstes Spiel. In diesem letzten Kindergartensommer verbrachten wir unendlich viel Zeit miteinander. Ich übernachtete oft bei Alex, tagsüber spielten wir He-Man und Skeletor, nachts schlief ich im Gästezimmer, bis er auf seinem schwarzen Pferd vorbeigeritten kam, um mich aus den Fängen böser Räuber zu befreien – und mit in sein Schloss zu nehmen. Dort fand uns seine Mutter am nächsten Morgen, eng umschlungen unter der mit bunten Raumschiffen und Planeten bedruckten Kinderbettwäsche.

Als in diesem Juni ein Wanderzirkus unseren Kindergarten besuchte und einer der Gaukler nach einem besonders mutigen Mädchen fragte, war es allein meine Hand, die in die Höhe schnellte. Als er nach einem furchtlosen Jungen fragte, reckten beinahe alle ihre Arme, doch es war gerade Alexander, den der Mann herausdeutete und mit mir zu sich bat. Als wir so nebeneinander standen, umringt von den anderen Kindern, die neugierig die Hälse reckten, legte er uns eine lebendige Schlange um die Schultern und erklärte, hiermit seien wir beide afrikanisch verheiratet. Ich erinnere mich an den Kopf der Schlange nahe an meinem Gesicht. An mein Herzklopfen und unsere feuchten, bonbonverklebten Hände, die fest ineinander verhakt waren. An das Brennen auf den Wangen und das Kribbeln in meinem Bauch. An Alex’ weit aufgerissene himmelblaue Augen, sein freches Grinsen und an den zarten Kuss, mit dem wir, halb verschämt, halb stolz, diese Heirat vor allen anderen besiegelten. Damals wussten wir weder, dass unsere „Ehe“ nicht von langer Dauer sein würde (in der ersten Klasse ließ er mich sitzen, weil er sich – kein Scherz – unsterblich in den Feueralarm der Schule verknallt hatte), noch, dass unsere Freundschaft ein Leben lang bestehen bleiben würde. Doch wir vertrauten uns mit all dem Mut unserer wild schlagenden Kinderherzen dem Moment an, überzeugt davon, er werde uns nicht verraten.

Hinweis Buch

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