Bob Dylan bei Vollmond

Sie war immer der Meinung gewesen, der Mann im Mond sähe ein wenig aus wie Bob Dylan. Obwohl sich das auf die Entfernung natürlich schwer sagen ließ. Jetzt saß er direkt neben ihr auf der Bettkante und sie stellte fest, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte: Er sah wirklich ein wenig aus wie Bob Dylan. Und blass – er war so blass, dass es ihr fast unheimlich war; sie war sich nicht sicher, ob es nicht sogar möglich sein musste, durch ihn hindurch zu sehen. Aber die Entfernung zwischen der blassen, schmalen Gestalt und sich selbst noch weiter zu verkürzen, um es auszutesten, das wäre ihr unhöflich vorgekommen – also saß sie bewegungslos da und lauschte ins Dunkle.

Er war ganz plötzlich gekommen, als die Stille der Nacht ihren Höhepunkt erreicht hatte und damit unerträglich geworden war, so unerträglich, dass die Tränen wie kleine, traurige Fontänen aus ihren dunklen Augen geschossen kamen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. „Warum weinst du?“, hatte er sie gefragt, gleich als erstes, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte; doch sie vermochte ihm keine kluge Antwort darauf zu geben. „Weil ich traurig bin,“ hatte sie schließlich gemurmelt und ihn aus halb verschlossenen Lidern heraus angestrengt angeblinzelt. Ihre Wangen waren noch feucht von den gerade vergossenen Tränen. Es schien ihr, als umgebe den Mann im Mond ein leichter Windhauch, der die Nässe trocknete wie ein Fön, nur kühler, aber nicht unangenehm.

Foto: günther gumhold/pixelio.de

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„Warum weinst du noch?“, hakte er nach, und rückte dabei ein wenig näher an sie heran. Nein, es schien, als könne man nicht durch ihn hindurchsehen, fiel ihr dabei auf – und irgendwie war diese Erkenntnis beruhigend. „Warum weinst du noch?“, wiederholte er, ungeduldig. „Weil ich so müde bin,“ antwortete sie, selbst überrascht von ihren Worten. „Warum liegst du dann so wach hier rum?“, wollte er von ihr wissen. „Ich kann nicht schlafen.“ „Seit wann?“ Wieder überlegte sie. „Seit vielen Jahren schon!“, stellte sie dann verwundert fest. „Erinnerst du dich, wann du das letzte Mal geschlafen hast?“, wollte der Mann im Mond da von ihr wissen: „Wie das war, was da passiert ist?“ Bilder tauchten da in ihr auf, die sie längst vergessen geglaubt hätte. Die lästigen Tränen spülten sie ans schummerige Licht der Nacht und sie flüsterte, „jemand hat gesungen. Ein Schlaflied, ich weiß nicht mehr, wie es hieß.“

Der Mann im Mond grinste schief. „Das kriegen wir hin,“ rief er aus. „Meine Verwandtschaft ist sehr musikalisch.“ Langsam ließ sie sich da in die Kissen zurücksinken, unsicher, was der blasse Kerl von ihr wollte. Und beinahe geneigt, ihn zu verscheuchen, statt sich auf seinen Vorschlag einzulassen. Doch plötzlich erklang da eine Gitarre – und eine Stimme, rauchig und doch zart, bohrte sich über das Ohr in die Tiefen ihres Herzens, „I’ll give you shelter from the Storm“ – und da schloss sich ihr Geist in sich selbst, wendete sich der unruhig gewordene Blick nach Innen und sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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