Casablanca: Liebeserklärung beim Poker

Als meine jüngere Schwester und ich kleine Mädchen waren, gab es beim Sonntagsfrühstück ein Spiel, an dessen Entstehung sich niemand aus der Familie erinnern kann: Wer zuletzt an den Tisch kam, lief im Kreis von Stuhl zu Stuhl und gab den anderen einen Kuss. Wir Mädchen machten uns einen Sport daraus, dass dies unser Paps war. Unter fadenscheinigen Gründen lockten wir ihn zurück in die Küche, wenn er bereits saß, nur um dann an ihm vorbei ins Esszimmer zu stürmen, uns hinzusetzen und lautstark zu fordern, er müsse die Kussrunde abhalten.

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Natürlich war ihm klar, was wir da trieben, doch er ließ sich immer darauf ein und hatte vermutlich ebensoviel Spaß wie wir. Ich erinnere mich daran, wie er bei einer dieser Kussrunden scherzhaft nach meinem Kinn griff und mit verstellter Stimme sagte: „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines.“ Was? Er wiederholte den Satz, meine Schwester und ich sahen uns über den Tisch hinweg achselzuckend an: Was meint er? Mein Paps fiel aus allen Wolken: „Was, ihr kennt Casablanca nicht? Dann müssen wir den unbedingt schauen!“

Ich mag damals zehn, elf Jahre alt gewesen sein, meine Schwester entsprechend sieben oder acht und meine Eltern entschieden, sie war noch zu klein, um den Klassiker anzusehen. Ich aber sollte ihn kennenlernen und wir schauten ihn am nächsten Wochenende. An den Film erinnere ich mich weniger als an das gemeinsame Erlebnis und daran, dass ich absolut hingerissen war, wenn Rick (Humphrey Bogart) seiner Ilsa (Ingrid Bergman) den berühmten Satz so lässig zumurmelte.

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Meine Mutter freute es jedes Mal, wenn Sam „As Time Goes By“ spielte – und mein Vater war dem Glanz seiner Augen nach zu urteilen verknallt in Ingrid Bergman. Dass die am Ende mit Victor Laszlo (Paul Henreid) in den Flieger stieg, statt bei Bogart zu bleiben, war mir allerdings absolut unverständlich – wer steigt in irgendeinen Flieger, wenn die Alternative lautetet, mit Mister Superlässig zu leben?

Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich den Klassiker erneut sah. Dabei feststellte, das gezeigte Casablanca wurde hauptsächlich im Studio zusammengebastelt. „As Time Goes By“ ist auf Dauer nicht halb so romantisch wie nervtötend – und viele Dialoge wirken arg zusammengeschustert. Eigentlich lebt der Film tatsächlich nur von der berühmten Zeile: „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines.“ Und das gilt nur für die deutsche Fassung, denn das berühmte Zitat verdankt „Casablanca“ seinen Übersetzern – und einem Zufall.

Im englischen Original spricht Rick nämlich nicht davon, Ilsa in die Augen zu sehen, sondern sagt lediglich: „Here’s looking at you, kid“, ein Satz, den Bogart häufig benutzte, als er Bergman in den Drehpausen Poker beibrachte – und der erst nach einem improvisierten Take im Film landete.

(Aus: 111 Gründe, an die große Liebe zu glauben)

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