One is the loneliest Number

Die einzigen Stimmen, die ich seit Tagen gehört habe, sind die in meinem Kopf, sie flüstern leise „er ist fort“ und ich denke – wieder. Mein Blick schweift aus dem Fenster über die Lichter meiner Stadt und hinunter zu dem abgetretenen Fleck vor meiner Haustür, dort hat er oft gestanden, geklingelt, gewunken und in die Sprechanlage gelacht, bevor ich ihn hineingelassen habe. Nun steht er nicht mehr dort, steht da niemand mehr, weil es kein scheiß Film ist, den ich von hier oben betrachte, sondern mein Leben. In dem eben niemand mit Rosen vor meiner Tür steht, sondern meine traurig-müde Feststellung, dass es besser für uns sei, einander nicht mehr zu sehen, klaglos und ohne Nachfragen akzeptiert wird.

Was hätten Rosen gebracht, jetzt, wo die Lüge zwischen uns Platz genommen hat. (Foto:  Gerhard Hermes/pixelio.de)

Was hätten Rosen gebracht, jetzt, wo die Lüge zwischen uns Platz genommen hat. (Foto: Gerhard Hermes/pixelio.de)

„Als ob“, kichern hämisch die Stimmen in meinem Ohr, brennend dringen ihre Zungen über die kleine Muschel in meine Seele ein und schreien: „Alleine seid ihr ja nie gewesen!“ „Nein“, stimmte ich leise zu. Da waren immer Fremde bei uns. Mal ist es die Andere gewesen, die den Platz zwischen uns größer gemacht und dabei meine Luft weggeatmet hat, weil da nur Luft war für zwei. Ein andermal der Rest der Welt, der ihn auch nicht glücklich machen kann, so wie niemand, nicht einmal er selbst, weil es nicht in ihm ist, nie war – oder er es verloren hat; was macht das noch für einen Unterschied. Dann wieder hat die alte Hure Vertrautheit sich zu uns gesellt, die nie etwas wegatmet von der Luft, die uns Zweien zur Verfügung steht, sondern sie anzündet, damit wir uns erwärmen können an ihr, an uns, einander, näherrücken, er zu mir, ich zu ihm, Trost finden in einer Umarmung, von der wir wissen, sie wird zerbrechen am Licht des herbeieilenden Tages – und uns doch willig ihr ergeben, immer wieder, klammern gegen das Verlieren.

Schließlich hat uns die Angst besucht, ihre kleine Schwester Zweifel fest an der Hand hinter sich her zerrend und alles kaputt gemacht, was da gepflanzt und in ängstlicher Liebe bewacht worden ist. Und immer war es er, der Wache gehalten hat in den Nächten des Angst-Besuches, dabei nicht aufmerksam genug gewesen ist, sondern abgeschweift mit seinen Gedanken, in eine Welt, die ihn lockte, mit ihren falschen Versprechungen. So ist es wieder kalt geworden in unserer Höhle, ungemütlich, weil die Welt hineingebrochen kam, uns zu erschrecken. Nun also die Lüge – und da ist es still geworden zwischen uns. Er redet noch und bittet um Vergebung, doch ich kann seine Worte nicht hören, denn die Lüge hat mich getrennt von ihm, alle Verbindungen abgekappt, so sehe ich nur die Bewegung seiner Lippen, aber verstehe nicht ihren Klang. Zu groß die Angst, es könnten mehr Unwahrheiten folgen und das beleidigen, was war, bevor ich ging, als dass ich seinen Worten noch Gehör schenken könnte. Unten, im Herzhof, liegt unsere Liebe, die nie sein durfte, doch das ist nicht neu, dort haben wir sie schon vor langer Zeit versteckt, auch vor uns selbst. Jetzt schaufelt der Winter eine zweite Grube im Pfeifen des Windes, in der wird unsere Freundschaft beerdigt. Die Andacht ist heute, er wird nicht kommen. Ich habe ihn von der Gästeliste gestrichen.

Willst du gehen, lass mich vor dir sterben

Weißt du wie man einfach verschwindet,
wie gut die Zeit mir dir verrinnt
die uns bleibt, bis wir gehen,
lass mich vor dir sterben…

Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Nachbarin oft auf mich aufgepasst, eine Frau mit einem Herzen, in dem Platz ist für die Welt und mehr. Für mich hieß sie „Tante Ilse“ und ich mochte es gerne, Zeit bei ihr zu verbringen. Es ging dort nicht streng zu, sondern warm und herzlich; außerdem konnte sie den besten Streuselkuchen der Welt backen und im Garten hinter ihrem Haus stand eine große Schaukel, auf der sie mich bis in den Himmel schubste. Mit ihr in dem kleinen Häuschen, das immer ein wenig verwunschen wirkte, wohnten ihr Mann –„Onkel Karl“, nachdem ich damals meinen Lieblingsplüschtier benannt habe – und ihr Sohn Wolf, der einmal vor Jahren, als junger Kerl, im Übereifer das neue Auto meines Vaters gegen die Grundstücksmauer gesetzt hatte. Unterm Dach, in einer kleinen Wohnung, die ich vor allem als Farbe erinnere – grün – wohnten Tante Ilses Eltern.

Selten habe ich zwei Menschen gesehen, die so zärtlich waren miteinander.  (Foto: Helene Souza/pixelio.de)

Selten habe ich zwei Menschen gesehen, die so zärtlich waren miteinander. (Foto: Helene Souza/pixelio.de)

Die beiden hätte ich als kleines Mädchen stundenlang beobachten können. Selten habe ich in meinem Leben zwei Menschen gesehen, die so zärtlich, so liebevoll waren im Umgang miteinander. Mehr als ein halbes Jahrhundert Ehe hatte die Grenzen zwischen den beiden weggewaschen und sie waren Eins geworden in ihrer aufrichtigen Zuneigung füreinander. Die Liebe, die Ilse an die Welt verteilte, hatte sie federleicht gelernt von diesen Zweien. Jahre später, als ich schon aufs Gymnasium ging, wurden beide fast gleichzeitig krank und schließlich bettlägerig. Wolf war damals längst ausgezogen – so wurde aus seinem früheren Kinderzimmer eine Krankenstation. Ich weiß noch, dass Ilse und Karl damals zwei echte Krankenhausbetten anschafften, in denen man aufrecht sitzen konnte und an deren Rand sich ein Tablett befestigen ließ, und über den Betten hin- und her bewegen.

Ich bewunderte Ilse dafür, wie sie sich um ihre Eltern kümmerte. Einen kranken Menschen rund um die Uhr zu versorgen zehrt mit der Zeit an den Kräften, auch wenn man ihn noch so liebt. Doch da war nichts Leidendes an ihr, keine stumme Fügung, fast strahlte sie so etwas wie ein stilles Glück darüber aus, ihren Eltern nun von der Liebe, Geduld und Energie zurückgeben zu können, mit der sie selbst einst von ihnen beschenkt worden war. Ab und an besuchte ich die beiden Alten nach der Schule oder am späteren Nachmittag, wenn alle Hausaufgaben erledigt waren. Dann saß ich zwischen ihren Betten und sie wollten ganz genau wissen, was in der Welt außerhalb ihres kleinen Zimmers geschah.

Mit der Zeit ging es beiden immer schlechter und ich begriff langsam, dass dies kein vorübergehendes Tief war: Sie würden sterben, beide. Der Gedanke traf mich kalt und unvermittelt – mit dem Tod war ich in meinem jungen Leben bisher noch nicht in Berührung bekommen, nun riss er sein fürchterliches Maul auf und der Gestank, der mir daraus entgegenschwappte, ängstigte und verstörte mich. Bei einem meiner Besuche schlief Ilses Vater noch, als ich kam. Ich wollte mich bereits wieder aus dem Zimmer schleichen, um ihn nicht zu wecken, aber da winkte seine Frau mich zu sich und deutete mir an, ich solle mich neben sie setzen. Ihr Atem ging schwer und sie wusste längst nicht mehr, wie sie sich legen sollte, da ihr Körper voll wunder Druckstellen war. Aber ihre Augen waren immer noch so strahlend und wach wie vor all der Zeit, als ich sie als kleines Kindergartenmädchen kennengelernt hatte.

Sie sprach leise und flüsternd, setzte ihre Worte dabei genau – und ich spürte den Ernst, der sanft über der Situation lag, auch wenn ich ihn vielleicht damals noch nicht vollständig begreifen konnte. „Weißt du, was er heute gesagt hat?“, fragte sie mich, den Blick zärtlich ihrem schlafenden Mann zugewandt. Ich schüttelte stumm den Kopf. „Ich soll ihn nicht alleine lassen.“ Sie lächelte mich an mit einer Kraft, die den Raum erhellte. „Ich hab ihm versprochen, dass ich bleibe, bis er gegangen ist.“ Dabei hielt sie mich, mit ihren alten, faltigen Händen, die schon so viel Kummer hinweggetröstet und Liebe verteilt hatten – und aus denen immer noch tiefes, ehrliches Glück über dieses Leben zu mir übersprang.

In derselben Nacht ist ihr Mann gestorben. Tante Ilse rief nachmittags bei uns an und sprach die Worte gefasst, „mein Vater ist jetzt tot“. „Wie geht’s deiner Mutti damit?“, fragte mein Paps – und ich hörte Ilses Stimme aus dem Hörer rauschen, wie sie sagte, ihre Mutter sei sehr gefasst und: „Ich denke, sie bleibt noch ein bisschen bei uns.“ Am nächsten Morgen wurde ich geweckt durch das Klingeln des Telefons. Alle außer mir schienen noch zu schlafen, doch ich konnte mich nicht überwinden, den Anruf entgegen zu nehmen. Ich wusste doch ohnehin schon, wer es war – und warum.

Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt,
schreit den Namen meines Vaters, 
der mich machte
zu einem glühenden Verehrer der Sachen des Lichts.
[Tomte – Schreit den Namen meiner Mutter]

When Harry fucked Sally

Wir haben immer behauptet, wir wollten unsere Freundschaft retten. Dabei waren wir nie Freunde. Und doch weiß ich noch, wie das angefangen hat – und daran wird auch die Zeit nichts ändern; diese alte Hure war ohnehin noch nie in der Lage, etwas anderes zu tun mit meinen Wunden, als sie zu salzen. Das verlängert ihre Haltbarkeit und macht meine Haut rot leuchten, weshalb die Leute denken, schau nur, wie gesund das Kind aussieht. So war das früher schon. Die Wunden, die Tränen, die roten Wangen und der Rotkäppchensaft.

Als ich dich das erste Mal gesehen habe, da hat nicht mein Herz einen Schlag ausgesetzt. Da war kein Kitsch, da haben keine Grillen gezirpt und auch der scheiß Himmel hat sich nicht aufgetan. Du warst ein pummeliger kleiner Junge, ich Mitte Zwanzig und du etwas jünger, hast auf einer Mauer gesessen und gejammert. Über deine Ex, der du das Bett in der neuen Bleibe aufgebaut hattest, nur um hinterher festzustellen, sie vögelt darin nun einen anderen. Irgendwas war putzig daran, wie du diese Geschichten erzähltest. Tragischkomisch, vielleicht. Obwohl du ein kleiner, pummeliger Junge warst, fand ich dich irgendwie sexy. Vielleicht war es auch nur dein gebrochenes Herz, das mich angezogen hat. Mein Ex hat immer gesagt, ich hätte das Rote Kreuz auf der Stirn. Ich tue nicht unbedingt gern Gutes. Aber ich mag es, wenn Menschen glücklich sind; ganz einfach. Und Sex macht glücklich, manchmal. Also schliefen wir miteinander.

Sex macht glücklich; manchmal. Also schliefen wir miteinander. (Foto: Jörg Brinckheger/pixelio.de)

Sex macht glücklich; manchmal. Also schliefen wir miteinander. (Foto: Jörg Brinckheger/pixelio.de)

Die Nacht dauerte zu viele Biere und erst als der Morgen graute wagtest du, mir einen Kuss von den wundgeredeten Lippen zu klauen. Da war also plötzlich doch ein Moment des Zaubers, als du vor mir auf die Knie gingst und mich mit einer Zartheit überraschtest, die mir ins offene Herz stach. Das ich nicht geschützt hatte, im Glauben, von dir ginge keine Gefahr aus. Noch während unsere Lippen sich suchten und fanden, eröffnete das Karussell in meinem Kopf die nächste Runde. Was machen wir denn hier? Verpflichtet mich dieser Kuss? Und dieser? Bauen wir gerade Mist? Immerhin, deine Freunde sind meine und meine deine und die Hälfte meiner Mädels mit deinen Jungs zusammen. Nein, keine Romantik, dafür plötzlich eine Hitze und ein Begehren, dass mir ganz flau davon wurde, ich dich am Hosenbund griff – und der Rest ist Geschichte; die einzige, die wir haben, denn alle anderen hat die Zeit verwischt.

Unsere Affäre schwankte zwischen diesem unbedingten Wollen und einer seltsamen Verstocktheit. Wenn wir uns sahen, war ich nur Körper; kein Gefühl, kein Gedanke, nur dieses Brennen, das sich wider meinen Verstand stellte, dir immer wieder die richtigen Worte zuflüsterte, sich dir entgegenreckte, aufbäumte, unter, um dir – und die Welt verschwamm. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob der Sex gut war. Vielleicht nicht. Da war nur dieser wilde Hunger, auf dich, in deiner Nähe oder Abwesenheit. Und wenn du mich länger nicht berührtest brannte meine Haut nach deiner. Wir waren wie eine Kassette auf FastForward, bis das Band riss und wir mit den kaputten Enden in den Händen keine Einigung darüber fanden, welchen Song es zuletzt gespielt hatte. Du wolltest unsere Freundschaft nicht kaputt machen und ich habe das nicht hinterfragt. Dabei waren wir keine Freunde. Als unsere Körper zum ersten Mal gegeneinander prallten, kannten wir uns 72 Stunden. Da war keine Freundschaft; nur deine Angst, in dich hineinzuhorchen und herauszuhören, was es war, das du wolltest. Vielleicht auch, dass es eben nicht ich war. Dabei hätte ich das doch weggesteckt, damals.

Dein Körper hörte auf, meinen zu suchen und meiner, deinen zu finden. In meiner Nähe aber fühltest du dich wohl. Wir kannten uns nicht, als wir unserem Begehren nachgaben und auch nicht, als wir es einfingen und in einen Käfig sperrten. Kennen lernten wir uns erst jetzt, doch waren zu feige, uns einzugestehen, wir lernten dabei zu scheitern. Weil ich in der Hoffnung auf dich zu schwamm, dir wieder die Klamotten vom Leib zu reißen und darunter auch dein Herz zu finden. Du aber nur eine Decke suchtest, warm und unkompliziert, die dich wärmte, bis dein Herz geheilt war. Was dann passierte, war vielleicht vorhersehbar. Ich wurde deine Decke, wir fast so etwas wie Freunde. Du hattest andere Frauen. Ich wartete, doof und geduldig, auf den Moment in dem du begreifst, dass am Ende doch ich die Richtige für dich bin. Ließ mich wechselnd abweisen und ausnutzen – wie ein dummer Teenager.

Einige deiner Worte flüstert mein Herz noch heute manchmal, wenn ich schlafe. Einige deiner Blicke brennen auf ewig in meiner Seele. Einige deiner Berührungen haben auf meiner Haut kleine Feuermale hinterlassen. Niemals wird mein Herz mir erklären können, wieso es im hitzigen Dunkel einer Julinacht plötzlich aus meiner Brust fiel und begann, dich zu lieben. Die Tatsache habe ich mit mir herumgetragen, abgewogen, versteckt, offenbart und am Ende zur Munition gemacht. Du hast dir daraus den Grund gestrickt, warum wir nicht funktionieren, bevor du ein letztes Mal unter meine Decke schlüpftest. Weil das zu trivial war und auch die Tatsache, dass du mir hinterher gestehen musstest, da gibt es eine neue Frau in deinem Leben, haben wir uns noch einen letzten Versuch vorgegaukelt, bevor es endgültig vorbei war. Das Ende war kein Paukenschlag, sondern ein langer und schmerzhafter Prozess ohne coolen Soundtrack. In den Tagen danach habe ich alle Mails gelesen, die wir uns je geschrieben haben: 3109 – darin kein Wort darüber, wieso wir uns weder füreinander entscheiden noch voneinander lassen konnten. Sie zu löschen hat 47 Sekunden gedauert; banal – doch diesmal stimmte wenigstens die Musik.

Se7en Seconds

Ich habe mal gelesen, dass wir unterbewusst binnen sieben Sekunden entscheiden, ob wir mit unserem Gegenüber ins Bett gehen – theoretisch. Vielleicht sind es auch nur zwei. Oder doch neun. Jedenfalls eine verdammt kurze Zeit, um auch nur irgendetwas über den Menschen zu erfahren, der da plötzlich neben uns sitzt und sein Bier bestellt, um anschließend mit einem charmanten „Hi, und du bist also…“ herüberzulächeln. Zu kurz, um irgendetwas Sinnvolles über diese unbekannte Person herauszufinden, außer vielleicht, dass sie einem ein bisschen im Bauch kribbelt und auch noch ein bisschen woanders – ganz ohne dass man weiß warum; oder etwas dagegen tun kann. Es ist nun nicht so, dass ich ein Verfechter dieser Regel bin, die sicherlich irgendetwas damit zu tun hat, was unser Körper am anderen ausmacht, ob unsere Genpools gut zusammenpassen und wie schlau und überlebensfähig unsere Kinder wären, wenn wir denn welche bekommen würden, miteinander, versteht sich. Aber man muss eine Sache nicht unbedingt verfechten, um ihr zu verfallen…

With a little help from my Guinness... (Foto: Andreas Senftleben/pixelio.de)

With a little help from my Guinness… (Foto: Andreas Senftleben/pixelio.de)

Ich jedenfalls kann mich nicht in einen Mann verlieben, der mir nicht beim ersten Treffen derart in den Magen fährt, dass mir schwindelig davon wird, mein Mund trocken, meine Hände feucht, mein Kopf so leer wie die nächtliche Wüste; mein Hormonhaushalt aufgewühlt. Natürlich rede ich auch mit Männern, in deren Gegenwart mir nicht schwindelig wird und mein Puls unter 120 bleibt, aber sie landen mit dem ersten Blick in der „guter Freund“-Kiste und kommen da schlicht und ergreifend nie wieder raus. Das Tolle daran ist, dass ich mehr als eine handvoll großartiger männlicher Freunde habe, die ein wichtiger Baustein in meinem Leben sind, mit denen ich garzugern Glühwein trinkend über den Weihnachtsmarkt wandere, Fußball schaue oder nächtelang Gespräche führe. Aber sie sind für mich geschlechtslos. Und obwohl ich die bange Vermutung habe, dass auch in einer Freundschaft Frauen für die beteiligten Männer immer Frauen bleiben, mit kleinen oder großen Brüsten, schönen oder langweiligen Augen und einem spektakulären bis untragbaren Hintern, möchte ich mich gerne der Illusion hingeben, dass auch sie in mir keine Frau, sondern nur die gute Freundin sehen.

Die Sieben-Sekunden-Männer aber fahren mir zuerst tief in den Magen und anschließend mit meinen Hormonen Karussell, ohne dass ich noch in der Lage bin, irgendetwas anderes zu tun, als mich in ihrer Nähe herumzudrücken, und dabei das aufregende Kribbeln in jeder Pore meines Körpers zu genießen. Und eigentlich gar keine Lust habe, vor den Satz „zu mir oder zu dir?“ noch irgendwelche Umwege einzubauen. Für das, was ab jetzt über die Leinwand meines Kopfkinos flimmert, bin ich eigentlich mindestens zu schüchtern. Gut also, wenn ich über einen solchen Mann nicht gerade morgens im Büro stolpere, sondern abends in der Kneipe, wo das eine oder andere alkoholische Kaltgetränk dabei behilflich sein kann, etwaige Hemmungen abzubauen. Von gewissen Schüchternheitsblockaden abgesehen ist aber die eigentliche Kunst keinesfalls, den Sieben-Sekunden-Mann ins heimische Bett zu locken, um dort eine schlaflose, schwitzige Nacht lang miteinander die Laken zu zerwühlen; die Kunst ist vielmehr, genau das nicht zu tun, sondern zu erkunden, ob er auch für mehr als das taugt, und sich dabei nicht von den Kanonenkugeln, die er auf den eigenen Magen loslässt, wohlig beirren zu lassen.

Denn ich bin mir zwar sicher, dass ich der Zwei-Sieben-Neun-Sekunden-Regel die eine oder andere verdammt aufregende und unvergessliche Nacht verdanke, habe aber auch den bösen Verdacht, dass sie umgekehrt die eine oder andere Beziehung mitverschuldet hat, aus der mir später ein unangenehmes „warum bin ich noch mal mit diesem Typen zusammen gewesen?“-Gefühl zurückgeblieben ist. Sich bei der Partnerwahl allein auf die körperliche Anziehung zu verlassen, schafft zwar vielleicht neben genialem Sex auch besonders intelligenten und robusten Nachwuchs, leider ist dabei aber nicht gesagt, ob man sich – wenn der erste Spieltrieb nachlässt – auch darüber hinaus noch etwas zu sagen hat. Ich würde deswegen aber natürlich niemals irgendwem dazu raten, dem Reiz der Sieben-Sekunden-Männer (oder Frauen) abzuschwören. Aber vielleicht gibt es neben dem Kribbeln im Bauch ein paar andere Dinge, die man heimlich in der ersten Nacht erkunden kann. Den anderen nach dem Sex also nicht gleich rausschmeißen, sondern ein bisschen von seiner Nähe kosten. Seinen Geruch tief in die Nase ziehen, um zu sehen, ob auch das ein Kribbeln auslöst. Ihn heimlich beim Schlafen beobachten – und vielleicht mal ausprobieren, wie gut der eigene Kopf in die Armkuhle des fremden Menschen passt. Einfach um zu wissen, was man hier gerade erlebt hat: Ein aufregendes kleines Abenteuer; oder doch den stürmischen Anfang von etwas ganz Besonderem…

Lippenbekenntnisse

Wenn zwei Menschen sich küssen, geraten ihre Körper in Aufruhr: Der Kuss kurbelt die Hormonproduktion an, die Nebenniere jagt Adrenalin durch den Körper, der Blutdruck schnellt in die Höhe und der Puls verdoppelt sich gar. Außerdem sorgen Endorphine dafür, dass die Schmetterlinge im Bauch der Zungentänzer wild umeinander flattern – und als positiver Nebeneffekt tun die Küssenden sogar etwas für ihre Abwehrkräfte, weil der fremde Speichel Bakterien enthält, die das Immunsystem des Gegenübers herausfordern. Doch wenn Zwei sich küssen, denken sie im besten Falle an nichts von alldem. Sondern geben sich dem wohligen Gefühl hin, das sie überkommt, wenn ihre Lippen die ihrer besseren Kusshälfte berühren, ohne zu erinnern, dass ihr Körper gerade das Stresshormon Kortisol in geringeren Mengen als sonst üblich produziert, oder ihr eigener, angeregter Speichelfluss für optimale Zahnpflege sorgt. Denn wenn Zwei sich küssen, denken sie im besten Falle: an gar nichts. Sind Gefühl statt Gedanke.

Gefühl, statt Gedanke. (Foto: brandtmarke/pixelio.de)

Gefühl, statt Gedanke. (Foto: brandtmarke/pixelio.de)

Wer küsst muss nicht lieben, aber wer liebt, muss küssen. Kommt die Liebe ins Spiel, bringt sie am Anfang nur Küsse von Bedeutung mit sich. Einer ihrer schönsten ist nicht der erste – sondern der zweite Kuss. Weil er das nervöse Fiebern vor sich herschiebt, die bange Frage, ob es ihn geben wird. Geht es dem anderen nach dem ersten Lippenkonzert wie mir, wünscht auch er sich, dass wir gemeinsam weiterspielen? Oder haben sich Bier und Sehnsucht bis zur Bedeutungslosigkeit in diesen ersten Kuss gemischt – so dass der zweite ausbleiben wird? Der zweite Kuss ist es, vor dem wir wie in besten Teenagertagen zittern und der uns, wenn er endlich auf unseren wartenden Lippen landet, erlöst wie Dornröschen nach hundert Jahren Schlaf. Er ist es auch, bei dem wir nach einem atemlosen, blinden Moment einmal heimlich blinzeln, um unseren Gegenüber zu sehen – ihm dabei vielleicht ins gleichfalls blinzelnde Auge schauen und darin sehen, was unser eigenes Herz zum Schwingen bringt, im Moment des aufrichtigen Lippenbekenntnisses.

Jeder erste Kuss mit einem neuen Menschen hat Schmetterlinge im Gepäck, egal wie es danach weitergeht. Ob er nun von der Neugierde getrieben, schlicht vom Bier geschwängert oder von der Leichtigkeit getragen ist, das erste Schmecken an fremden Lippen ist immer aufregend und besonders. Zu oft scheuen wir zurück vor diesem ersten Kuss, weil wir nicht sicher sind, ob er eine Bedeutung entwickeln wird im Schlagen der Zungen – und sollten ihn doch viel häufiger wagen, um uns bezaubern zu lassen; sei es einfach nur für den Moment. Im Kuss eines geliebten Menschen kann all der Trost liegen, den unser Herz in einem Moment des Zauderns oder Schmerzes benötigt, um nicht zu brechen am Schlag des Schicksals. Nichts von dem, was uns bedrückt, kann ein solcher Kuss zwar rückgängig machen, doch legt er sich über unsere Seele wie ein Vorhang, schirmt sie ab vor dem, woran sie bittere Falten wirft.

Ein zitterndes Beben jagt uns der verbotene Kuss durch den Körper, wenn wir ihm unsere Lippen öffnen. Nicht die fremde Hand am verheirateten Hintern, nicht das Aufbäumen des anderen in der Dunkelheit unseres Schoßes markiert den Betrug des Herzens, das daheim auf uns wartet, sondern dass wir die fordernden Lippen dessen, mit dem wir betrügen, gierig annehmen und erwidern. Schlechte Küsse! „Nein, vielen Dank, meine Speichelproduktion funktioniert erstklassig, du brauchst mich echt nicht mit deinem mitzuversorgen“, ist ein besonders unangenehmes Beispiel dafür. Küsse, bei denen man Angst hat vor Zungenklau, ausgeleierten Backen oder gar Kieferbruch, Ed von Schlecks, von denen nur eines zurückbleibt – eine Geschichte, über die man noch Jahre später mit schüttelndem Gesicht bei der besten Freundin lästern kann.

Der Kuss, der nicht sein sollte, weil er in einem auslöst, was der andere beschließt zu verschweigen. Und dem Tränen folgen werden, weil der erste Kuss zugleich der letzte war, obwohl man darin den Anfang von etwas Besonderem zu schmecken glaubte. Küsse zwischen Zweien, die in ihrem Alltag nicht dieselbe Sprache sprechen. Wenn das atemlose Schweigen im Moment des zarten, vorsichtigen Zurückweichens doch verstanden wird und man dann, um die nachfolgende Pause im Ansatz auszubremsen, weiterküsst, um nur nicht stammeln zu müssen – und um den Geschmack des Fremden nicht zu verlieren. Man weitergeht, unterm Sternenhimmel, eine fremde Hand so selbstverständlich und fest um die eigene geschlossen, als würden einen nicht schon tags darauf zwei Flugzeuge in verschiedene Himmelsrichtungen davontragen.

Kinderküsse, unschuldig und süß, hinter Schultüten und in Baumhäusern, mit zarten, eben noch unberührten Lippen, die nach Caprisonne und Sauerampfer schmecken. Der besorgte Kuss einer Mutter. Der tröstende Kuss eines Vaters. Der verstehende Kuss der besten Freundin. Der versteckte Kuss eines heimlichen Verehrers. Handküsse. Luftküsse. Abschiedsküsse, Begrüßungsküsse, letzte Küsse, wütende Küsse. Versöhnungsküsse. Gehauchte Küsse, leidenschaftliche Küsse. Gebissene Küsse. Liebesküsse. Und in jedem Kuss eine neue Welt.