Lungenbrand

Als unsere Beziehung längst vorbei war, da mussten wir uns noch auseinanderreißen. Wann dieses Reißen anfing, darüber haben er und ich später unterschiedlich geurteilt. „So um Weihnachten rum“, war seine Einschätzung. Damit meinte er, um Weihnachten rum, in dem Jahr, bevor der Januar kam – und das Wir auch nach außen aufhörte, zu existieren. So, wie es das im Innen längst getan hatte. Ich dachte anders darüber. „Im Sommerurlaub!“, schrie die wütendste aller Liebesnarben, tief in einer Falten meines Herzens versteckt – und meine Seele nickte leise. Doch damit meinten sie nicht den Sommerurlaub, bevor Weihnachten kam, bevor der Januar kam und das Wir aufhörte, zu existieren. Sondern den Sommerurlaub im Jahr davor. So war es in jedem Fall ein Abschied in Raten. Unzählig viele, kleine und größere Raten, an deren Abbezahlung wir uns gegenseitig verletzten. Wann der Wunsch, gehen zu können, so stark wurde, dass er mir mehr Luft nahm, als meine Lungen aufgeben konnten, um mich existieren zu lassen, weiß ich noch auf die Stunde genau. Blass sei ich, hat er damals gesagt – also sind wir spazieren gegangen. Aber in der Kühle des Dezembernachmittages verweigerte das Organ sich der neuen Luft, wollte ihr keinen Platz machen: so lange er noch neben mir ging.

Der Winter, in dem das Wir aufhörte zu existieren. (Foto: GesaD/pixelio)

Der Winter, in dem das Wir aufhörte zu existieren. (Foto: GesaD/pixelio)

Das war so um Weihnachten rum. Um Weihnachten rum, kurz bevor der Januar kam und das Wir aufhörte, zu existieren. Aber nicht in diesem Januar, sondern noch einen vollen Januar später. Und so wurde diese Zeit die Schlimmste – als seine Gegenwart begonnen hatte, mir die Luft aus den Lungen zu drücken. Denn ich wusste, das Wir hatte aufgehört zu existieren, damals, im Sommerurlaub; aber weil ich keine Luft hatte, konnte ich sie auch nicht holen. Holen aber musste ich sie doch, um ihm zu sagen: Das Wir ist uns abhanden gekommen. Und du und ich, wir müssen ohne einander weiter machen. So aber war ich zum Schweigen verurteilt. Ein ganzes Jahr lang.

Immer hat es aber in diesem Jahr Momente gegeben, als ich dachte, die Luft in meinen Lungen würde genügen. Wenn ich sie gesammelt hatte, über viele schweigende Stunden. Dann saß ich auf seinem großen Bett, in dem wir unsere Distanz teilten, sah ihn leise an und versuchte zu sprechen; doch kein Wort verließ mich und er konnte die Schreie meines Herzens nicht hören. Bis schließlich der Moment kam, in dem ich nur nicken musste, damals, als er „du willst es ja gar nicht mehr!“, gezürnt hat, auf meinem Bett ist das gewesen – und ich habe aus meinem Fenster in den weiten Himmel geschaut. Nach draußen, wo so viel mehr Luft war als drin bei uns – und nur stumm genickt. „Das habe ich nicht nötig!“, hat er gerufen und ist aus der Wohnung gestürmt. Ich wollte dem Leben ein leises „Danke“ murmeln, doch auch dafür fehlte mir die Luft. Bis ich genug davon zusammen hatte, ist er schon zurück gewesen, „was sollte ich denn machen, ohne dich?“, hat er gefragt – und ich hatte noch nicht genug Luft, um ihm zu erwidern: „Erwachsen werden.“ Und: „Mich leben lassen.“

So ging das ein paar Mal in der folgenden Zeit, er hat sich in Wut geredet, während ich meine Luft zu sammeln versuchte – und dann ist er davongestürmt, nur um Stunden später wieder vor der Tür zu stehen, flehend. Einmal ist er zum Stürmen sogar in einen Flieger gestiegen, weil wir bei Freunden zu Besuch waren. Fünf Tage des Schämens sind das gewesen, wenn ich in die Augen der beiden sah. Schlimmer noch, wenn sie mich zur Seite nahm und fragte, „warum lässt du das mit dir machen? Wieso darf der dich so behandeln? Wann willst du endlich anfangen, zu kämpfen?“ Keine einzige Antwort habe ich gewusst, kein guter Grund ist mir mehr eingefallen; und jede Träne hat sich durch mein Gesicht gepflügt wie ein Drescher. Im Boden wollte ich versinken, doch er hat mir nicht aufgemacht. Das war so um Weihnachten rum.

Und dann kam der Januar. Und es war endlich der Januar, in dem ich genug Luft beisammen hatte, um zu sagen, was längst heimlich Wahrheit geworden war: „Das Wir hat aufgehört zu existieren. Und du und ich, wir müssen ohne einander weiter machen.“

Dann bin ich gegangen, nur um Stunden später aufzuschrecken, als es klingelte, an meiner Tür. Da stand er, ich wusste es, auch ohne ihn zu sehen – und sagte, ich wusste es, auch ohne ihn zu hören: „Was soll ich denn machen, ohne dich?“ Ich habe mit dem Rücken zur Tür gesessen, als das Klingeln kam und die Frage; und die Worte sind von draußen nach drinnen gekrochen, doch sie konnten mir die Luft nicht mehr nehmen, weil ich hier, in meiner Sicherheit, genug davon gesammelt hatte. „Erwachsen werden“, habe ich leise gegen das schützende Holz gemurmelt. Und: „Mich leben lassen.“

Hör mein Lied, Violetta

du wurdest tot geboren
bist langsam nur erwacht
Gott hat dich auserkoren
in jener schwarzen Nacht

der Krieg begann, da warst du drei
deine Kindheit ging daran vorbei
Tränen im Luftschutzbunker
Kinderspiele im Garten
Mutti versetzt die Klunker
ihr findet Handgranaten
die Deutschen habt ihr schon bald erkannt
die Englische aber – hat einen verbrannt…
Kinderspiele im Krieg
Hitler glaubt noch an Sieg
und in der großen Stadt
wird lange keiner satt

im Kinderzug nach Bayern
da wirst auch du versendet
in heißen Tränen brennt die Frage
wann dieser Krieg nur endlich endet

Ketten
rasseln
Kettenhund
Brüste
schwingen
Muttermund

das Heimweh zersetzt
dein zitterndes Ich
Angst, Hund, Mutter, Sehnsucht
– erinnerst du dich?

nach dem Krieg noch jahrelang Katzen gefressen
die Schrecken der Jahre doch niemals vergessen

der Vater landet im fernen Russland
ein deutsches Schicksal viel zitiert
„heut kommt er wieder!“, glaubt deine Mutter
– deine Angst, dass sie den Verstand verliert

da steht er plötzlich in der Tür
„Violetta es zog mich zurück zu dir;
hörst du mein Lied, Violetta, sag“
– und schließlich doch zu früh ins Grab

Foto: gino73/pixelio.de

Foto: gino73/pixelio.de

es endet ein Krieg
doch nicht das Sterben
und noch immer liegt
die Welt in Scherben

mit dem Schlitten im Schnee gewesen
unter erste Röcke geschaut
Kind-Seele versucht zu genesen
und auf ein neues Glück gebaut

das Glück kam langsam und in Dosen
es wächst keine Dorne ohne Rosen

Berlin verlassen
zurückgekehrt
Frauen gekostet
Glück vermehrt

Leder
Roller
so verwegen
Klage
Richter
Kindersegen

wie sehr hast du diese Jahre genossen
für kurze Zeit wurde nirgends geschossen

geliebt schließlich die eine
sie liebte viel zu viel
Hochzeit Kinder Ehekrieg
Scheidung Trauerspiel

du willst dich rächen, an allen Frauen
dafür, wie dein Herz hier bricht
das große Herz aber sehnt sich nach Heimat
Rache? nein, das kannst du nicht

eine neue Liebe dir gefunden
das Glück nur kurz bewahrt
dein Herz hat den Schock nie überwunden:
ihres war kalt und hart

zwei Kinder hat auch sie dir geboren
die wurden, wie du einst, auserkoren

die Liebe deiner Kinder
ist dir wie ein neues Land
doch ihre Mutter bricht dein Herz
mit ruhiger und geschickter Hand

die Ehe
ein Kühlschrank
und festgefroren
die Kinder
sie wärmen
nur halbverloren

gefesselt und geknebelt
in einem Bett blind weiß
für deine große Liebe
zahlst du hier den Preis
wie kannst du den Krieg überwunden haben
nun soll’n wir dich in diesem Bett begraben
und dann die Frage
hat der, der nur gibt
sich nach all der Zeit
einfach tot-geliebt

die Wahrheit hat sich feige versteckt
doch ich habe sie ausgemacht
mit ihrer kalten, toten Liebe
hat sie dich leise umgebracht

gestorben bei Waffenruhe
als echtes Sonntagskind
Tränen an deinem frischen Grab
sag mir, wie Frieden klingt?

This is not a Lovesong

Ich könnte jetzt behaupten, dass ich gar nicht mehr genau weiß, wie das zwischen uns beiden mal angefangen hat. Weil es ja schon so lange her ist. Aber es wäre gelogen. Ich erinnere mich an jeden noch so kleinen Moment. Zwölf Monate, seitdem wir uns das erste Mal bewusst gegenüberstanden. Zwölf Monate, in denen mein Herz immer nur für dich geschlagen hat. Als wir die ersten Worte miteinander wechselten, habe ich mich erinnert daran, dass ich dich auch zuvor schon das ein oder andere Mal gesehen hatte. Nur eben nie – gekannt. Du warst der mit der Freundin, die auf französische Filme stand. Und die immer wirkte, als würde sie jeder anderen Frau, die dir zu nahe kam, die Zähne in den Hals schlagen. Doch ich musste keine Angst haben um meinen Hals, damals – denn ich habe mich nicht für dich interessiert.

Mittlerweile hatte sich zwischen dich und diese Freundin ein Ex geschoben und sie schlug nun Frauen die Zähen in den Hals, die nach einem anderen Mann den Kopf drehten – ihrem Neuen. Und du schienst mir irgendwie ganz anders als früher noch, ich weiß nicht, vielleicht – reifer? Wenn ich damals schon meinen Irrtum geahnt hätte… In dem Moment der ersten Worte, damals im September, hatte ich ein Bein auf einen Mauervorsprung geschwungen, die Hand über die Augen gelegt und versuchte, trotz strahlenden Sonnenscheins etwas auf dem kleinen Drehmonitor zu erkennen, der neben meinem rechten Fuß stand. „Ein bisschen weiter zusammen, Jungs!“, rief ich den beiden Kindern vor der Kamera zu, „und dann machen wir das gleich noch mal“. Und plötzlich bist du hinter mir gestanden, wolltest auch auf den Monitor gucken, der zeigte, worauf genau dein Kumpel Max gerade die Kamera richtete. Du hast deine Hand wie selbstverständlich auf meinem rechten Knie abgelegt, dich vorgebeugt und dabei kratzig gemurmelt, „wow. Das sind mal lange Beine. Und dazu so beweglich.“

Ich erinnere mich mit jeder Faser meines Körpers an unseren ersten Kuss. (Foto: Stephan B./pixelio)

Ich erinnere mich mit jeder Faser meines Körpers an unseren ersten Kuss. (Foto: Stephan B./pixelio)

Eigentlich hätte ich dich von dem Moment an einfach dämlich finden müssen. Die mindeste Erwartung aber, die ich an mich selbst hätte haben können, damals, wäre wohl die gewesen, mir zu merken, dass du ein kleiner Macho bist. Ein Aufreißer. Ein Frauentyp. Dumm nur, dass meine Alarmglöckchen in jenem Moment offenbar zu Tisch saßen. Und darum nicht verhindern konnten, dass ich dir verfallen war, in der Sekunde, in der deine Hand mein Knie zum ersten Mal streifte, deine raue Stimme sich zum ersten Mal in mein Ohr wandt.

Ich erinnere mich mit jeder Faser meines Körpers an unseren ersten Kuss. Dein Wohnzimmer, in dem wir nach einem Abend auf der Rolle gelandet waren. Deinen Kumpel, der mit seiner Perle noch auf ein Bier mit zu dir gekommen war, nur damit du und ich einen Vorwand hatten, gemeinsam in deine Wohnung zu gehen, statt jeder alleine nach Hause. Nicht, dass wir den gebraucht hätten: Immerhin sind wir zwei erwachsene Menschen, auch wenn wir uns so nicht verhalten; zumindest nicht – miteinander. Aber irgendwie war da von Anfang an ein Zögern, vielleicht auch eine Feigheit? Und wir brauchten diesen Vorwand als Starthilfe. Als wir uns endlich zum ersten Mal küssten, dämmerte draußen bereits der Morgen. Dein Kumpel war schon Stunden zuvor nach Hause gegangen. Aber wir nahmen uns unsere Zeit. Und irgendwie war es ja auch süß, wie wir zwei da so umeinander saßen, völlig überfordert davon, dass wir uns gern hatten, gegenseitig – eigentlich doch die schönste Sache der Welt. Und dass wir scharf aufeinander waren, ganz offensichtlich, aber uns nicht mal trauten, die zwei Meter Couch zwischen uns Stück für Stück zu verringern.

Irgendwann dann, als ich mit neuem Bier aus der Küche kam, mich wieder setzte und nach den Kippen griff, die vor mir auf dem Tisch lagen, hast du meine Hand festgehalten. Du hast mich angeschaut, irgendetwas gemurmelt von Mut und vom Küssen und ich konnte nichts tun, nur atmen, ganz konzentriert atmen, weil mein Körper wie von Stromstößen geschüttelt wurde und ich mich fühlte, als würde ich explodieren, von dieser kleinen Berührung schon, wie eine bisher ungeahnte Abhängigkeit. Schließlich bist du von der Couch aufgestanden und vor mir auf die Knie gegangen, meine Hand lag noch immer warm in deiner – und da sind wir beiden verschmolzen, zum ersten Mal. Unsere Münder, erst. Unsere Körper, später. Und auch ein kleiner Teil unserer Seelen.

Doch wir hatten nicht den Mut, über das, was sich da ganz zart zwischen uns anbahnte, zu sprechen. Sind umeinander getanzt, wie um ein Feuer, dem man nicht zu nahe kommen will, weil man Angst hat, sich zu verbrennen daran. Von dem man aber auch nicht zu fern abrücken möchte, weil man doch weiß, es hält so wunderbar warm; und das eigene Gesicht strahlt fremd von diesem verwirrenden Glanz, im Widerschein der züngelnden Flammen. Reden, das hat nie funktioniert zwischen uns. Nur der ganze Rest ging wie von selbst, sich sehen, sich spüren, sich begehren, sich anvertrauen, sich zuhören, sich Zeit geben und nehmen – all das hätte so schön sein können; doch du hast es nicht zulassen wollen. Feige bist du gewesen, auch zu feige um mir zu sagen, dass dein Gefühl kleiner blieb als meines, das nicht aufhören wollte zu wachsen. Stattdessen hast du dich immer wieder auf alte Verletzungen und neue Ängste rausgeredet. Und mich nicht gehen lassen, aus Angst, erst dann zu merken – wir hätten doch beide dasselbe gewollt.

Also, festhalten, Hoffnung nähren, in dem du immer wieder an meine Seite zurückgekehrt bist, schmeichelnd, liebevoll einmal, fordernd und besitzergreifend beim nächsten – immer mit dem rechten Wort zur rechten Zeit. „Du bist doch die Beste“, „alle anderen sind blass neben dir“ – so einfach war das. Nur, wieso hast du sie dann gefickt, all die Anderen? Und bist immer wieder mit einem neuen, fremdsüßen Geruch behaftet unter meine Laken zurückgekrochen; und ich? Habe dich gelassen… Meinen Stolz vergraben, meinen Mut und meine Aufrichtigkeit, vor lauter Sehnsucht. Weil wir doch alles hatten, bevor du loszogst, es zu zerstören; ich vielleicht hoffte, die Zeit stünde auf meiner Seite und dir gut zu Gesicht. Bei all dem kann ich dir noch nicht einmal einen Vorwurf machen, weil ich mich anstecken ließ von deiner Feigheit. Weil ich sie mir übergezogen habe wie einen maßgeschneiderten Mantel und, darin eingewickelt, mit lockerer Stimme immer wieder betont, dass wir ja nur Spaß haben. Du und ich. Freundschaft Plus, haben wir das genannt, was in Wirklichkeit Freundschaft Minus war: Minus Respekt. Das Minus haben wir uns selbst eingebrockt, weil wir nicht ehrlich zueinander waren.

Die Wahrheit habe ich vor dir und auch mir selbst verborgen, bis sie sich nicht länger in Ketten legen ließ, denn ich liebte dich. Ich hatte angefangen dich zu begehren, als deine Hand auf mein Knie gefallen war. Angefangen dich zu mögen, als wir nachts, in verrauchten Clubs, die Köpfe zueinander steckten und geflirtet haben, als ginge es um mehr als nur das bisschen Sex. Und angefangen dich zu lieben, als ich die erste Nacht in der Wärme deiner Umarmung verbracht habe. Mich nicht gewälzt habe und nicht wollte, dass du gehst, sondern mich wohl gefühlt habe und sicher in deiner Nähe. „Irgendwas ist so komisch an dir!“, hast du bei unserem letzten Treffen gesagt – und mir hat eine einzelne Träne salzig im Augenwinkel gebrannt. Du konntest ja nicht wissen, dass wir uns nicht wiedersehen werden; weil ich nun anfangen muss, dich zu vergessen. Um dich zu vergessen aber, darf ich dich nicht mehr sehen. Diese Wunde halte ich nur ohne Hingabe verschlossen.