Gefüllte Oliven

Es war nicht seine Schuld. Es war nicht seine Schuld – und ich wusste das auch. Er gab sich ja Mühe, das konnte ich doch auch sehen – und es nutzte doch nichts, schon lange nicht mehr, er machte mich wahnsinnig. Alles, was er sagte, machte mich wahnsinnig. Alles, was er nicht sagte. Alless was er tat – und alles, was er nicht tat. „Ich möchte dir doch nur helfen“, würde er sagen, wenn er zu mir in die Küche kam und meine heilige Ordnung zerstörte, seine klobigen, ungeschickten Finger in meinen Rührteig steckend oder beim Versuch, wenigstens das Gemüseschneiden ohne Panne zu absolvieren. Was natürlich unmöglich war, er schnitt die Zwiebeln zu groß, die Tomaten in Streifen, schälte die Gurken nicht sauber. Er hielt die Mandeln im Inneren der grünen Oliven für Kerne und bemerkte sein Missgeschick erst, als er fast ein ganzes Glas davon gepult hatte, während ich mit Hanne im Wohnzimmer saß und Kaffee trank, rauchte und im Scherz Pläne schmiedete dafür, ihn endlich zu verlassen.

Foto: w.r.wagner/pixelio.de

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„Was soll denn das nun wieder, was hast du dir dabei gedacht, die schönen Mandeln!“, herrschte ich ihn an, als ich schließlich zurück in die Küche kam, um die Pizza zu belegen, Pizza für mich und die Mädels, nicht für ihn, auch nicht für die anderen Männer, die der Mädels. Nur, dass die alle unterwegs waren, auf Sauftour, oder Fußballspielen, oder was weiß ich, nur meiner, meiner nicht. Meiner saß ja in der Küche und pulte Mandeln aus den Oliven, für die ich extra noch zum Feinkosthändler gefahren war, weil Annika sie so mochte. Und ich herrschte ihn dafür an, herrschte ihn an wie eine dieser Frauen, die ich früher gehasst hatte: zum Kotzen. „Es tut mir leid, Schatz, es tut mir so leid“, jammerte er dann – und machte damit alles noch schlimmer. Er versuchte, seine Hände so unauffällig wie möglich mit dem Küchenschwamm zu bearbeiten, denn gegen Mandeln war er allergisch und nur daran konnte er denken, seitdem ihm klar geworden war, dass er in den vergangenen Minuten ein Glas davon zwischen seinen Fingern gerieben hatte. Das hatte ihm zwar nicht geschadet, so viel war offensichtlich, aber jetzt. Jetzt machte er sich Sorgen, auf diese panische, irrationale Art und Weise, so war das immer bei ihm, mit diesen Allergien. Und dazu jammerte er und entschuldigte sich – so war das auch immer.

„Warum verlässt du ihn nicht?“, fragte mich Hanne, während Annika ihn lobte, weil er so sensibel war, so gar nicht machomäßig – und weil er sich doch so bemühte. Und sie wünschte ja, ihr Albert wäre auch ein wenig so wie mein Mann, aber das ist doch auch nicht verwunderlich, wenn eine wie Annika sich das wünscht. Grundschullehrerin, den ganzen Tag von kleinen Kindern und Lehrern umgeben – und Zuhause einen Typen, der von ihr verlangte, dass sie seine Unterhosen bügelt, kein Scherz. Mit den Fingern die Kanten der Schränke abfuhr, wenn er abends von seinem Angeberjob zurückkam, um zu kontrollieren, ob seine kleine Hausfrau, denn das war sie für ihn, eine Hausfrau, ihr Halbtagsjob – so nannte er das und sie widersprach nicht, weil harmoniesüchtig – und ihr Halbtagsjob galt nicht für ihn, ob seine kleine Hausfrau also auch alles ordentlich sauber gemacht hatte. Nein, einen wie Albert, den wollte ich nicht geschenkt; obwohl. Den hätte man wenigstens verlassen können. Mit Albert, das war eindeutig, der war emotional total unterbelichtet, keine Chance auf Besserung, und mit seiner Vorstellung von Beziehung und Gesellschaft dermaßen hängen geblieben – also. Wäre ich Annika, Albert hätte ich längst verlassen.

„Warum verlässt du ihn denn nicht?“, also Hanne, während sie ihr Rotweinglas schwenkte. Ich konnte nicht antworten, natürlich, auf diese Frage hatte ich selbst keine Antwort – erst recht keine gute, und selbst wenn. Konnte ich nicht antworten, den Mund voller Pizza, mit Oliven, ohne Mandeln und so richtig wollte es mir heute nicht schmecken. Auch nicht der Wein, nicht einmal die Gesellschaft der Mädels. „Jetzt sag nicht wieder, er bemüht sich doch so“, fauchte Hanne lautstark, dabei hatte ich keinerlei Anstalten gemacht. Aber Annika, die zuckte zusammen, ausgerechnet Annika. Dabei wurde bei der Zuhause immerzu nur gefaucht und gekeift, seltsam eigentlich, dachte ich kauend, wie man sich da noch so erschrecken kann. „Aber er bemüht sich doch so“, sagte ich; dann doch.

Im Bett war es dasselbe. Er schwitzte und zappelte und hängte sich rein, aber es nützte nichts, alles war falsch. Was er tat und was er nicht tat, was er sagte und was er nicht sagte, wie er mich anfasste und wie nicht, es machte mich wahnsinnig, er machte mich wahnsinnig. Und erzeugte in mir eine Wut, die war so ekelhaft und mächtig, ich wollte mit mir selbst nichts zu tun haben. Im Bett war es genau genommen besonders schlimm, dieses sinnlose Gezappel, dieser treue Blick aus den fragenden mache-ich-es-richtig-Augen, das verdammte Bemühen. Anfangs hatte ich noch versucht, irgendwie an ihm vorbei zu fühlen, mich an ihm vorbei zu bewegen, aber es klappte einfach nicht. Ich konnte meinen Anspruch in der Küche an ihm vorbeibauen, ich konnte wegsehen, wenn er ängstlich und mit eingezogenem Kopf rückwärts einparkte, als sei es ein Kunststück, ich konnte die unendlich langweiligen Geschichten über seinen grauenvollen Job ignorieren. Aber ich war nicht bereit, nie gewesen, ihm im Bett etwas vorzuspielen, ich wollte verdammt noch mal auf meine Kosten kommen, das war mein gutes Recht, darauf hatte ich einen Anspruch, wenn man so will – und er tat das schließlich auch.

Dann seine Konsequenz, wenn es wieder nicht klappte und er sich plötzlich seinerseits alles verkniff, nur um es mir in die Schuhe zu schieben, dabei konnte ich sehen, konnte an seinem Gesicht ablesen, wie verkniffen alles war. Und dass er könnte, wenn er wollte, das nun aber eben nicht, nur um mich zu bestrafen; dabei war es mir vollkommen egal. Und dann, kurze Zeit später, wenn er mich schlafend wähnte, seine rüttelnden Bewegungen unter der Decke, die er für unauffällig hielt. Und er glaubte ja, ich schliefe, weil ich früher immer schnell und gut eingeschlafen war neben ihm, aber so war das längst nicht mehr. Und da lag er nun und fummelte und keuchte sich in die Armbeuge, mir hatte er den Rücken zugewandt und dachte tatsächlich, ich bekäme von alledem nichts mit, es war erbärmlich. Wie hätte ich es also wissen sollen. Wie hätte ich da wissen sollen, dass dieses Gekeuche, in jener Nacht. Wieso macht er das auch, den Kuchen. Wo ist er überhaupt hergekommen, um diese Uhrzeit. Der Kuchen. Ich verstehe das nicht. Ich meine. Irgendetwas musste ich doch tun, mit den Mandeln. Die werfe ich doch nicht einfach so weg.

im immer des Meer

Im immer des Meer
im immer des Meer
ist mein Herz dir in die Augen gefallen
und fand dort, auf dem grünen Grund
deiner Angst das Echo seines Schlages

immer im Meer
wurde das Salz mir in die Haut gebrannt
und suchte dort
unterm schlagenden Dach
deiner Sehnsucht die Ruhe meiner Seele

im immer des
schlugen die Augen dir am Boden auf
und flüchteten dort, in furchtloser Nacht
meinem Schlagen, der Hitze, deiner Liebe.

Bob Dylan bei Vollmond

Sie war immer der Meinung gewesen, der Mann im Mond sähe ein wenig aus wie Bob Dylan. Obwohl sich das auf die Entfernung natürlich schwer sagen ließ. Jetzt saß er direkt neben ihr auf der Bettkante und sie stellte fest, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte: Er sah wirklich ein wenig aus wie Bob Dylan. Und blass – er war so blass, dass es ihr fast unheimlich war; sie war sich nicht sicher, ob es nicht sogar möglich sein musste, durch ihn hindurch zu sehen. Aber die Entfernung zwischen der blassen, schmalen Gestalt und sich selbst noch weiter zu verkürzen, um es auszutesten, das wäre ihr unhöflich vorgekommen – also saß sie bewegungslos da und lauschte ins Dunkle.

Er war ganz plötzlich gekommen, als die Stille der Nacht ihren Höhepunkt erreicht hatte und damit unerträglich geworden war, so unerträglich, dass die Tränen wie kleine, traurige Fontänen aus ihren dunklen Augen geschossen kamen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. „Warum weinst du?“, hatte er sie gefragt, gleich als erstes, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte; doch sie vermochte ihm keine kluge Antwort darauf zu geben. „Weil ich traurig bin,“ hatte sie schließlich gemurmelt und ihn aus halb verschlossenen Lidern heraus angestrengt angeblinzelt. Ihre Wangen waren noch feucht von den gerade vergossenen Tränen. Es schien ihr, als umgebe den Mann im Mond ein leichter Windhauch, der die Nässe trocknete wie ein Fön, nur kühler, aber nicht unangenehm.

Foto: günther gumhold/pixelio.de

Foto: günther gumhold/pixelio.de

„Warum weinst du noch?“, hakte er nach, und rückte dabei ein wenig näher an sie heran. Nein, es schien, als könne man nicht durch ihn hindurchsehen, fiel ihr dabei auf – und irgendwie war diese Erkenntnis beruhigend. „Warum weinst du noch?“, wiederholte er, ungeduldig. „Weil ich so müde bin,“ antwortete sie, selbst überrascht von ihren Worten. „Warum liegst du dann so wach hier rum?“, wollte er von ihr wissen. „Ich kann nicht schlafen.“ „Seit wann?“ Wieder überlegte sie. „Seit vielen Jahren schon!“, stellte sie dann verwundert fest. „Erinnerst du dich, wann du das letzte Mal geschlafen hast?“, wollte der Mann im Mond da von ihr wissen: „Wie das war, was da passiert ist?“ Bilder tauchten da in ihr auf, die sie längst vergessen geglaubt hätte. Die lästigen Tränen spülten sie ans schummerige Licht der Nacht und sie flüsterte, „jemand hat gesungen. Ein Schlaflied, ich weiß nicht mehr, wie es hieß.“

Der Mann im Mond grinste schief. „Das kriegen wir hin,“ rief er aus. „Meine Verwandtschaft ist sehr musikalisch.“ Langsam ließ sie sich da in die Kissen zurücksinken, unsicher, was der blasse Kerl von ihr wollte. Und beinahe geneigt, ihn zu verscheuchen, statt sich auf seinen Vorschlag einzulassen. Doch plötzlich erklang da eine Gitarre – und eine Stimme, rauchig und doch zart, bohrte sich über das Ohr in die Tiefen ihres Herzens, „I’ll give you shelter from the Storm“ – und da schloss sich ihr Geist in sich selbst, wendete sich der unruhig gewordene Blick nach Innen und sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

One is the loneliest Number

Die einzigen Stimmen, die ich seit Tagen gehört habe, sind die in meinem Kopf, sie flüstern leise „er ist fort“ und ich denke – wieder. Mein Blick schweift aus dem Fenster über die Lichter meiner Stadt und hinunter zu dem abgetretenen Fleck vor meiner Haustür, dort hat er oft gestanden, geklingelt, gewunken und in die Sprechanlage gelacht, bevor ich ihn hineingelassen habe. Nun steht er nicht mehr dort, steht da niemand mehr, weil es kein scheiß Film ist, den ich von hier oben betrachte, sondern mein Leben. In dem eben niemand mit Rosen vor meiner Tür steht, sondern meine traurig-müde Feststellung, dass es besser für uns sei, einander nicht mehr zu sehen, klaglos und ohne Nachfragen akzeptiert wird.

Was hätten Rosen gebracht, jetzt, wo die Lüge zwischen uns Platz genommen hat. (Foto:  Gerhard Hermes/pixelio.de)

Was hätten Rosen gebracht, jetzt, wo die Lüge zwischen uns Platz genommen hat. (Foto: Gerhard Hermes/pixelio.de)

„Als ob“, kichern hämisch die Stimmen in meinem Ohr, brennend dringen ihre Zungen über die kleine Muschel in meine Seele ein und schreien: „Alleine seid ihr ja nie gewesen!“ „Nein“, stimmte ich leise zu. Da waren immer Fremde bei uns. Mal ist es die Andere gewesen, die den Platz zwischen uns größer gemacht und dabei meine Luft weggeatmet hat, weil da nur Luft war für zwei. Ein andermal der Rest der Welt, der ihn auch nicht glücklich machen kann, so wie niemand, nicht einmal er selbst, weil es nicht in ihm ist, nie war – oder er es verloren hat; was macht das noch für einen Unterschied. Dann wieder hat die alte Hure Vertrautheit sich zu uns gesellt, die nie etwas wegatmet von der Luft, die uns Zweien zur Verfügung steht, sondern sie anzündet, damit wir uns erwärmen können an ihr, an uns, einander, näherrücken, er zu mir, ich zu ihm, Trost finden in einer Umarmung, von der wir wissen, sie wird zerbrechen am Licht des herbeieilenden Tages – und uns doch willig ihr ergeben, immer wieder, klammern gegen das Verlieren.

Schließlich hat uns die Angst besucht, ihre kleine Schwester Zweifel fest an der Hand hinter sich her zerrend und alles kaputt gemacht, was da gepflanzt und in ängstlicher Liebe bewacht worden ist. Und immer war es er, der Wache gehalten hat in den Nächten des Angst-Besuches, dabei nicht aufmerksam genug gewesen ist, sondern abgeschweift mit seinen Gedanken, in eine Welt, die ihn lockte, mit ihren falschen Versprechungen. So ist es wieder kalt geworden in unserer Höhle, ungemütlich, weil die Welt hineingebrochen kam, uns zu erschrecken. Nun also die Lüge – und da ist es still geworden zwischen uns. Er redet noch und bittet um Vergebung, doch ich kann seine Worte nicht hören, denn die Lüge hat mich getrennt von ihm, alle Verbindungen abgekappt, so sehe ich nur die Bewegung seiner Lippen, aber verstehe nicht ihren Klang. Zu groß die Angst, es könnten mehr Unwahrheiten folgen und das beleidigen, was war, bevor ich ging, als dass ich seinen Worten noch Gehör schenken könnte. Unten, im Herzhof, liegt unsere Liebe, die nie sein durfte, doch das ist nicht neu, dort haben wir sie schon vor langer Zeit versteckt, auch vor uns selbst. Jetzt schaufelt der Winter eine zweite Grube im Pfeifen des Windes, in der wird unsere Freundschaft beerdigt. Die Andacht ist heute, er wird nicht kommen. Ich habe ihn von der Gästeliste gestrichen.

Der Tag, als Herrn Meyer ein Engel vom Himmel fiel

Da war sie. Und die Frage, ob Engel Männer oder Frauen waren (oder gar geschlechtslos) für immer beantwortet. Engel waren weiblich und entsprachen allen Klischees, die er in seinem Leben je gehört hatte. Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, nein – denn es sind Frauen. Große Frauen mit goldenem Haar und wogenden Brüsten. Und sie können einem überall begegnen. Herr Meyer hatte keinen guten Tag gehabt, heute. Und auch nicht gestern oder vorgestern – eigentlich schon eine ganze Weile nicht mehr, wenn er sich recht besann. Nur, wann es angefangen hatte, daran vermochte er sich nicht mehr so recht zu entsinnen. Vielleicht, als ihn seine Frau zum zweiten Mal betrogen hatte? Wobei das erste Mal irgendwie nicht zählte, denn das erfuhr er erst Jahre später… Aber nein, Herr Meyer schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, in den vergangenen 17 Jahren nur schlechte Tage erlebt zu haben; immerhin war er in dieser Zeit regelmäßig und gerne seinem Job nachgekommen, hatte den Kontakt zu seinen beiden erwachsenen Söhnen gepflegt und einige Reisen unternommen, wenn auch zumeist alleine, wie es ihm unterwegs zur Regel geworden war.

Herr Meyer war ein wenig nervös, denn es war seine erste Begegnung mit einem Engel. (Foto: WP)

Herr Meyer war ein wenig nervös, denn es war seine erste Begegnung mit einem Engel. (Foto: WP)

Ihm fiel ein Stein von Herzen. Er hatte in den letzten 17 Jahren, bei Licht besehen, sogar eine Menge guter Tage gehabt. Die Arbeit als Buchhalter machte ihm Spaß, mochten andere sie auch als langweilig empfinden, ihn faszinierte das Spiel mit den Zahlen, das Drehen an der Rechenmaschine, das Tackern auf dem Taschenrechner. Ja, an den Computer hatte er sich erst gewöhnen müssen, aber er war nicht unflexibel – zudem waren seine Jungs ganz fix mit diesem Zeug, die hatten ihm geholfen. Doch er hatte die Intelligenz des Rechners unterschätzt… Herr Meyer wunderte sich ein wenig darüber, dass es „der“ Engel heißt – wo sie doch Frauen waren. Mochte sein, dass dies vor ihm niemand gewusst hatte, aber es war doch infam, einfach davon auszugehen, Engel kämen in männlicher Gestalt daher! Verstohlen warf er einen Seitenblick auf seine Engelsfrau. Sie war so nah, dass es ihm einen sanften Schauer den Rücken herabrieseln ließ. Vielleicht, wenn er die Hand ausstreckte und sich auch noch ein wenig herüber lehnte… Aber nein, das war völlig unmöglich, was sollte sie von ihm denken? Herr Meyer war ein wenig nervös, denn es war seine erste Begegnung mit einem Engel; sofern er sich erinnern konnte.

Auch als seine Frau ihn zum dritten Mal betrog, ging für Herrn Meyer die Welt nicht unter. Er war traurig. Und schämte sich ein wenig, denn diesmal bekamen die Kinder es mit. Vom ersten Mal hatten sie nie erfahren, beim zweiten waren sie noch so jung gewesen; andererseits vielleicht bereits alt genug, dann aber glücklicherweise im Pfadfinderlager. Aber diesmal, diesmal waren sie bei ihm, als er seine Frau beim Ehebruch ertappte: Welcher Vater wünscht sich das schon? Die Engel, so dachte Herr Meyer, wandelten unerkannt unter den Menschen. Sie fielen den Erdenbürgern nicht auf, wie diese so durch ihre Tage hetzten. Wer nicht ab und an einen Moment inne hielt, zu sich kam und zur Ruhe, der mochte Zeit seines Lebens ungezählte Male an einer von ihnen vorbeilaufen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dabei konnte ein einziger Moment mit diesen göttlichen Wesen, nur eine Begegnung, einen Menschen für immer verändern. Herrn Meyers Frau hieß Gabi. Sie war mit Ende vierzig sieben Jahre jünger als Herr Meyer selbst, doch er würde es nicht glauben, wenn er ihr heute zum ersten Mal gegenüberstünde. Ihre Haut war noch immer so sanft und rosig wie ein reifender Pfirsich, ihre Haare waren dicht und lang und braun und wunderschön. Sie rochen so aufregend wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte, nach Mandeln und Honig und wilden Rosen. Ihre Brüste waren straff und reizvoll, ihr Schenkel drall und sie steckte voller Träume.

Herr Meyer liebte alles an seiner Frau. Und konnte es ihr nicht einmal verübeln, dass sie ihn betrog. An ihm waren die Jahre nicht so spurlos vorübergegangen; dann war er auch nie eine Schönheit gewesen. Seine Haare waren in der Mitte des Kopfes licht und vom vielen Sitzen und Buch halten hatte er einen kleinen Bauch bekommen, der quoll ihm in zwei Ringen über die Hose, wenn er saß. An schlechten Tagen konnte er den Ehering nicht vom Finger bewegen, aber das tat er ohnehin nur zum Röntgen. Am Anfang hatte Gabi ihn noch liebevoll wegen seiner beginnenden Platte geneckt und beim Sex spaßhaft in den Bauchansatz gekniffen, doch irgendwann war ihr Lachen dünner geworden und der Sex seltener und dann hatte sie begonnen, nach anderen zu schauen. Herr Meyer hatte in den 32 Jahren seiner Ehe keine andere Frau angesehen, nicht einmal im Traum. Doch nun starrte er den Engel an. Sie hatte langes, goldenes Haar und ein weiches, rundes Gesicht. In ihren Augen lag ein strahlender Schimmer. Herr Meyer war sich sicher, alle Engel bekamen vom großen Vater einen Kuss auf die Stirn gehaucht, bevor man sie in ihren Dienst entließ. Davon, so glaubte er, strahlten ihre Augen. Und auch der Rest des Gesichts. Es war ihm leicht zugeneigt und Herr Meyer versuchte, einen Blick auf die Augen des Engels zu werfen. Doch diese, von prächtigen dichten Wimpern bedeckt, hatte sie niedergeschlagen.

Das Klingeln des Handys riss Herrn Meyer aus seinen Gedanken. Er zögerte kurz, antwortete dann aber. Es war seine Sekretärin, also, ehemals, die sich nach seinem Befinden erkundigen wollte. Die Gute! Sein überstürzter Aufbruch hatte sie geschockt. Aber wer hatte damit auch rechnen können? Er hatte sich eben zu sicher gefühlt. Verfluchter Computer… Wenigstens würde ihm das Eingeständnis seiner Schuld den Prozess ersparen. Aber der Job war weg und das Geld ebenfalls. Anstatt Gabi ein besseres Leben zu bieten, würde er ihr nun Schulden hinterlassen. Der Gedanke betrübte ihn. Wenn Gott der Vater der Engel ist, so muss eine prächtige, stolze Walküre, eine tapfere Kriegerin, ihre Mutter sein, überlegte Herr Meyer. So vereinen die Engel in sich ein liebevolles, schwebendes, sanftes Wesen mit Intelligenz, Kraft und Mut. Seine Söhne hatten sich sehr loyal verhalten, nachdem sie in jener Nacht, als die Spätvorstellung im Kino ausfiel, weil außer ihnen niemand gekommen war, die Mutter bei ihren Spielereien erwischten: gegenüber beiden Elternteilen. Es machte ihn glücklich, denn so hatte er versucht, sie zu erziehen. Sie verhielten sich ihm gegenüber extrem zärtlich und waren voller aufrichtiger Zuneigung, die Mutter verurteilten sie nicht – und irgendwann dann waren sie sowieso ausgezogen, die Treffen wurden seltener, auch wenn sie häufig telefonierten.

Ganz plötzlich hob der Engel den Kopf und sah zu Herrn Meyer herüber. Beinahe hätte er den Augenblick verpasst, weil er so in Gedanken war. Es schien ihm, als hätte ein Strahl der Morgensonne sein Gesicht getroffen, als sie ihm so plötzlich unverwandt ins Gesicht sah. Die Sonne, so dachte er noch, muss wohl die Taufpatin der Engel sein, denn dass oben im Himmel ein Jeder getauft wird, dessen war er sich sicher. Der Engel strahlte und blickte doch ebenso verwundert drein, wie Herr Meyer es in diesem Moment von sich selbst annahm. Vorsichtig hob er die Hand und winkte zu ihr hinüber. Sie erwiderte seine Geste mit einem Lächeln. Wie ein Rausch überkam es ihn da.

Sie saß im vordersten Auto in der doppelreihigen Schlange. Die junge Frau am Steuer des roten Mitsubishis war selbst nicht auf den Mann aufmerksam geworden, der im Wagen rechts neben ihr an der zweispurigen Ampel auf grünes Licht wartete. Erst als ihr Sohn Max von der Rückbank krähte „schau mal wie der alte Mann guckt“, hatte sie ihre Aufmerksamkeit von der Einkaufsliste in ihrem Schoß auf das andere Auto gelenkt. Beinahe schien es ihr, als habe er darauf gewartet. Sein Blick, eben noch seltsam entrückt, bekam etwas Friedliches und er winkte zu ihr herüber. Voller Sympathie für den scheinbaren Kauz erwiderte sie seinen Gruß mit einem Lächeln.

***

„Und dann?“ Marie sah ihren Mann völlig fassungslos an und konnte zunächst nicht auf seine Frage antworten. Eben hatte sie Max, der ganz verwirrt war von den Ereignissen des Nachmittages und lange geweint hatte, endgültig in den Schlaf gesungen. „Dann ist er losgerast, geradaus in die T- Kreuzung. Und im nächsten Moment hat es auch schon einen riesigen Schlag getan. Minuten später waren Polizei und Sanitäter vor Ort. Der Arzt meinte hinterher, er sei sofort tot gewesen.“ Björn stand von seinem Stuhl auf, kam um den Tisch herum und nahm seine aufgeregte Frau in den Arm. Mit der Hand streichelte er ihr sanft übers Haar, das wie ein goldener Wasserfall über ihre Schultern glitt. „Jetzt beruhige dich erst einmal. Du wirst den komischen Alten bald vergessen haben. Ich bin ja bei dir, mein Engel.“