Der zwölfte Mann nimmt Abschied

Heute vor vier Jahren stand Robert Enke zum letzten Mal im Tor von Hannover 96. Zwei Tage später nahm er sich in der Nähe seines Wohnhauses das Leben. Für das 05-Fanzine „Die TORToUR“ habe ich mich damals mit seinem Tod, den Reaktionen und der Trauerfeier im Stadion beschäftigt. Wenn man bedenkt, dass ich nach Michael Jacksons Tod tagelang damit beschäftig war, die Augen darüber zu verdrehen, welche Welle der Hysterie durch die Welt (und vor allem das Netz) rollte, mag es seltsam erscheinen, wie sehr mich Robert Enkes Tod schon seit Tagen beschäftigt. Aber letztlich zählt eben immer auch die persönliche Bezugsgröße – und nicht nur gibt es mir nahe stehende Menschen, die mit Depressionen zu kämpfen haben, Robert Enke war als Fußballer zudem Teil eines Systems, dem ich mich ebenfalls zugehörig fühle. Und er hatte als Mensch etwas an sich, auf das man sich irgendwie einigen konnte. Es gibt eben Typen, die polarisieren und solche, die einem sofort sympathisch erscheinen; so einer war Enke. Dazu die Geschichte mit seiner Tochter, das sind irgendwie Bilder, die man nicht vergessen hat, die einen Bezug herstellen zu diesem Menschen, obwohl man ihn nicht oder nur über Fernsehbilder kannte.

So haben wir das damals im 05-Fanzine bebildert. (Montage: C.Karn/Die TORToUR)

So haben wir das damals im 05-Fanzine bebildert. (Montage: C.Karn/Die TORToUR)

Ehrlich, so lange ich denken kann, war mir Hannover 96 einfach egal. Dann kam die Episode mit Hanno Balitsch, der sich zu fein war für Mainz 05 und zu einem Verein wollte, der „oben mitspielt“ – es wurden die 96er. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich über jede Niederlage der Niedersachsen gefreut, mit freundlichen Grüßen an einen, dem die emotionale Intelligenz fehlte für das System Mainz 05. Der Verein lag plötzlich auf der nach Lautern offenen „Ich kann euch nicht ab, das ist nicht rational, das ist einfach so“-Skala kurz hinter der Eintracht. Aber Enke, den mochte ich. Außerdem war er mittlerweile Teil der Nationalelf und mir als Nachfolger von Jens Lehmann lieber als Tim Wiese. Die Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen wird in der Psychologie in Phasen eingeteilt. Dazu gibt es verschiedene Modelle, einige gehen von vier Phasen aus, andere von fünf, gemein ist aber allen, dass am Anfang völliger Unglaube über den Tod steht, der erst mit der Zeit durch heftigere emotionale Regungen wie Schmerz und Sehnsucht, aber auch Wut abgelöst wird. Diese Wut richtet sich gegen etwas Fernes, ein Schicksal, vielleicht einen Gott, jedenfalls das Gefühl überwältigender Ungerechtigkeit darüber, getrennt worden zu sein von einem, den man liebt. Ein Selbstmord bringt all das durcheinander, weil die emotionale Reaktion viel unmittelbarer ist; einen großen Teil davon machen Schuldgefühle aus und die zerstörerische Frage, wieso man den anderen nicht abhalten konnte? Dazu kommt, dass die Wut eigentlich einen direkten Adressaten haben könnte – den Menschen nämlich, den man verloren hat, weil er doch aktiv gegangen ist. Obwohl man aber ein Recht hat auf diese Wut, fühlt sie sich doch schäbig an und gibt zugleich den Schuldgefühlen weitere Nahrung: Erst war man nicht in der Lage, zu helfen – nun macht man dem Verstorbenen noch Vorwürfe dafür, dass er den einzigen Weg gewählt hat, den er für sich offenbar sah.

In ihrem Abschiedsbrief an Robert Enke beschreiben die Spieler der Nationalelf ihre Ohnmacht im Angesicht seines Todes: „Warum konnten wir dir nicht helfen? Warum konntest und wolltest du uns nicht von deinen Problemen erzählen?“ Und weiter: „Es ist für uns alle ein schmerzhafter Gedanke, dass du dich einsam und allein gefühlt haben musst, auch wenn du mit uns zusammen warst. Dass du so oft das Gefühl gehabt haben musst, viel mehr verlieren zu können als ein Fußballspiel. (…) Dein Tod ist so trostlos.“ Als das Länderspiel der Nationalelf gegen Chile abgesagt wurde, zweifelten einige, ob das die richtige Entscheidung war. Oft stand dabei die Frage im Raum, ob Enke selbst es gewollt hätte. Doch das ist im Grunde egal: Weil nach dem Tod eines Menschen (und in dieser Sache macht ein Selbstmord keine Ausnahme) die zählen, denen er genommen wurde, es darauf ankommt, dass sie einen Weg finden, das Geschehene zu verarbeiten. Das Spiel wurde nicht abgesagt, weil man es etwa als unpassend empfunden hätte, an jenem Wochenende zu spielen. Es wurde abgesagt, weil die Spieler nicht anders konnten: „Wir waren nicht in der Lage, ein paar Tage später Fußball zu spielen. Wir konnten nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.“ Und: „Wir alle brauchten diesen Moment der Ruhe, um zu realisieren, was passiert ist. Richtig verstehen werden wir es vielleicht nie.“

Sagt aus Versehen mal etwas Richtiges: Reinhold Beckmann. (Foto: WP)

Sagt aus Versehen mal etwas Richtiges: Reinhold Beckmann. (Foto: WP)

Ganz ähnlich geht es vielen Fans, speziell natürlich denen von Hannover 96. Ein Spieler, mit dem sie über Jahre ihre Wochenenden verbracht haben, fühlt sich so gefangen, so unter Druck, dass er sich vor einen Zug wirft. Natürlich ist es wahr, dass der Großteil dieser Fans Enke nicht im klassischen Sinne kannte, nie mit ihm gesprochen, ihn nie persönlich erlebt hat. Aber das ändert nichts daran, dass sie sich (mit) ihm verbunden fühlen. Er war ein Teil ihrer Welt, ein Mensch, dem sie in kniffeligen Situationen den Rücken stärkten, der samstags nach dem Spiel via Sportschau bei ihnen zu Hause vorbeischaute. Es mag pathetisch klingen, aber man muss jemanden nicht kennen, um ihn zu lieben; zumindest nicht, wenn es um Fußball geht. Der funktioniert eben nicht über den Kopf, ist eine beinahe ausschließlich emotionale Angelegenheit. Diese Nähe führt schließlich dazu, dass auch die Fans sich fragen, was hätten wir tun können, um das zu verhindern? Weil die Fassungs- und Hilflosigkeit der Menschen, die Enke persönlich kannten, sich auf sie ausweitet. Und: Wie kann es sein, dass einer, der uns so lieb und teuer war, eine solche Angst davor hatte, eine vermeintliche Schwäche zu offenbaren, dass er sich stattdessen lieber umgebracht hat? Deswegen wurde Robert Enke auch nicht im Stadion aufgebahrt, weil irgendjemand das Gefühl hatte, das gehöre sich plötzlich so. Es gab dort auch keine Trauerfeier, weil man glaubte, das sei notwendig für Enke oder in seinem Sinne – fast schon eher im Gegenteil. Denn niemand geht wohl davon aus, dass einer, der so im Stillen gelitten hat, auf etwas nahe an einem Staatsbegräbnis Wert gelegt hätte. Wichtig war diese Trauerfeier vielmehr für die Fans. Denn so, wie Teresa Enke sich in der Pressekonferenz am Tag nach Enkes Tod von der Last des Geheimnisses befreite, das sie jahrelang für ihren Mann gehütet hatte, konnten sich die Fans an jenem Tag im Stadion von ihrem Entsetzen und der ersten, unmittelbaren Trauer befreien. Die Gedenkfeier gewährte auch ihnen jenen „Moment der Ruhe“, den Enkes Nationalmannschaftskollegen in ihrem Abschiedsbrief beschreiben – und die Möglichkeit, sich genau so von ihm zu verabschieden, wie sie ihn all die Jahre unterstützt haben: im Kollektiv.

Auszug aus »Die TORToUR« #33 – We’ve got the Book!

Wir geben es ja zu – die TORToUR-Redaktion ist voreingenommen gegenüber »111 Gründe, Mainz 05 zu lieben«. Was sollen wir zu einem Buch sagen, in dem es auf 261 Seiten um nichts anderes geht als die Liebe zu unserem Verein? Das von zwei Kollegen geschrieben wurde, mit denen wir uns den Deckel beim Redaktionstreffen teilen, bei Wind und Wetter gemeinsam das schee Heftsche verkaufen und nichts lieber tun, als über Fußball im Allgemeinen und den FSV im Besonderen zu philosophieren: »Kauft das Buch nicht«? Also bitte, das kann man von uns nicht verlangen. Aber im Ernst: »111 Gründe« ist ein großer Spaß. Weil die Autoren die richtige Mischung aus unterhaltsamem Kokolores und wichtigen Meilensteinen der Vereinshistorie zusammengetragen haben. Weil die unendliche Geschichte, die in Mainz mit den Worten »Damals, als Noveski getackert wurde« beginnt, beim Leser unweigerlich Phantomschmerzen auslöst. Weil das Thurk-Denkmal in dreizehn Zeilen errichtet, umgekippt und wieder aufgestellt wird und die Innenministerkonferenz in gerade zehn Zeilen den Narhallamarsch gesungen bekommt: Mehr hätte sie auch nicht verdient.

Der Autor im Stadion... (Foto: privat)

Der Autor im Stadion… (Foto: privat)

Wer nicht den kompletten Backkatalog der TORToUR und die Vereinschronik auswendig gelernt hat, bekommt Momente der Überraschung, Geschichten zum Schmunzeln und Hintergrundwissen zum Klugscheißen beim Halbzeitgespräch geliefert. »Vieles ist normal geworden«, schreiben die Autoren im ersten Kapitel. »Spiele gegen Stuttgart sind nicht mehr per se Feiertage, wir haben uns an sie gewöhnt. Nach der traurigen Rückrunde (…) mussten wir uns die Frage stellen lassen, ob es überhaupt 111 Gründe gibt, Mainz 05 zu lieben, und ob wir unser Buch nicht lieber 111 Gründe, Mainz 05 geliebt zu haben nennen wollten.« Jeder Fan weiß, dass solche Gedanken die Sommerpause selten überleben und die neue Saison ja eh wieder bei Null losgeht. Für uns nicht: Wir haben schon 111 Punkte.

... die Autorin auf dem Weg dorthin. (Foto: Sebastian Gölz)

… die Autorin auf dem Weg dorthin. (Foto: Sebastian Gölz)

Der Buchtitel klingt nach einer Idee, die einem beim zweiten Schoppen einfällt. War es so?
Wo unser Verleger Oliver Schwarzkopf und unser Agent Dr. Martin Brinkmann die Idee ausgekaspert haben, trinkt man andere Dinge, aber grundsätzlich könnte es so gewesen sein.

Wollte eigentlich der Verlag 100 Gründe, Mainz 05 zu lieben, und Ihr habt auf 111 bestanden?
Genau genommen wollten wir zehnmal elf Gründe liefern und die letzte Seite leer lassen, damit unsere Leser ihren eigenen Grund eintragen können. Wir würden wirklich gerne behaupten, dass die Elf unsere Idee war, würden damit aber sehr schnell auffliegen. Der Verlag bringt schon seit Jahren Bücher in seiner 111er-Reihe heraus. Die Fußballbücher sind lediglich der neueste Streich. Wäre aber mal interessant, wie die damals eigentlich genau auf 111 gekommen sind. Hm… (Inzwischen wissen wir, auch dabei war Alkohol im Spiel…)

Ab welcher Zahl war es wirklich harte Arbeit, weil der Riesling leer und das Buch noch nicht voll war?
Schwierig wurde es ab der Nummer 136… Im ersten Brainstorming haben wir schon gemerkt, dass wir alleine mit Spielern, die wir gerne würdigen wollten, die 111 locker voll bekommen hätten. Es war harte Arbeit, uns auf 111 Gründe zu beschränken. Das Weglassen von Themen war schwieriger als das Schreiben der nun im Buch vertretenen Texte. Denn das hat Spaß gemacht. Wichtige Ereignisse und Menschen zu streichen, hat dagegen wehgetan. Und seit die neue Saison läuft, ist es richtig schlimm, weil wir dauernd weitere Texte über den tollen Start schreiben wollen, über den unfassbar grandiosen Choupo, die tollen Neuen, die Stimmung in der Schluss­phase des Wolfsburg-Spiels – und dann feststellen müssen: Mist, geht ja gar nicht mehr, das Buch ist längst voll!

Euer Grund Nummer 1 heißt »Weil wir nur ein Karnevalsverein sind«. Ist das der wichtigste – oder warum steht er am Anfang?
Die Karnevalsnummer ist einfach so verbunden mit Mainz 05, das ehemals verhohnepipelnde Gesinge der Gegner, das zum positiven Selbstbild wurde, dass es auf jeden Fall ganz weit vorne stehen musste. Und dann war es uns wichtig, einzusteigen mit dem Selbstverständnis, mit einem kleinen Charakterabriss, wie wir den Verein und uns als die Fans verstehen. Das passte natürlich alles bestens unter genau dieses Dach.

Wie einig wart ihr euch?
Was die Zusammenstellung der Gründe angeht, waren wir uns fast immer überraschend schnell einig. Auch wenn mal einer von uns ein Thema vorgeschlagen hat, das der andere erst nicht auf dem Schirm hatte, war es in aller Regel unkompliziert, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Was sicher hilft ist, dass wir häufig ähnliche Einschätzungen oder auch so kleine Schwächen haben. Wir bauen seit Jahren gemeinsam und heimlich ein Dimo-Wache-Denkmal. Wir finden Thomas Tuchel absolut sensationell und simsen uns bei jedem Gegentreffer dieser Saison, Wetti hätte den gehabt. Das war also leicht. Komplizierter wurde es eher bei den Texten selbst. Wir haben vieles gemeinsam verfasst und uns gegenseitig lektoriert, da gab es manchmal richtig Zoff. Auch, weil wir da gnadenlos waren miteinander, Sachen gestrichen haben, auf Kleinigkeiten rumgeritten sind. Da wurde es manch­mal sogar laut, aber selten blutig. Und am Ende gab es Eis und alles war wieder gut.

Bei welchem Punkt wird selbst der langjährige Allesfahrer sagen: Stimmt, war mir bisher gar nicht bewusst?
Hoffentlich bei ganz vielen, denn es hat ja einfach jeder andere Erinnerungen. Uns ging es auch so, wenn wir unsere Texte gegenseitig gelesen haben – man entdeckt dabei immer noch Neues. Und natürlich sind etliche Fakten drin, die man nicht alle ad hoc weiß oder vielleicht tatsächlich zum ersten Mal liest.

Text & Interview
Oliver Heil

THE Book!

THE Book! (Foto: Verlag)