Leseliebe: Wir Wochenendrebellen

Wenn es um das Internet geht, ist gerne mal von so genannten Blasen die Rede. Damit ist gemeint, dass jeder von uns sich online in einem bestimmten eigenen Umfeld – der Blase – bewegt. In erster Linie sind die thematisch gebunden, in zweiter Linie ergeben sich daraus natürlich Kontakte, die mit der Zeit oft bedeutsamer werden als die Themen, aus denen sie ursprünglich entstanden sind. So wird das Netz tatsächlich zu einem sozialen Ort, an dem man bei jedem Besuch Menschen wiedertrifft, denen man sich längst verbunden fühlt.

In meiner Blase ist – speziell auf Twitter – Fußball eines der beherrschenden Themen. Dabei spielt es interessanterweise gar keine Rolle, welchem Verein die Menschen, denen ich unter den Flügeln des blauen Birdys begegne, die Treue halten. Man versteht einander auch dann, wenn das beim Kontakt im Stadion vermutlich ganz anders gelaufen wäre. Fast könnte man sagen, Twitter versaue den natürlichen Abneigungstrieb gegnerischer Fans – aber nur fast.

Jason und Mirco. (Pressefoto: Sabrina Nagel)

Jason und Mirco. (Pressefoto: Sabrina Nagel)

An diesem speziellen Ort nun, der Menschen so zusammenbringt, dass ihre Vereinsfarben im Grunde keine Rolle spielen im geteilten Moment, hat es (in meiner digitalen Blase) ein Junge zu gewisser Berühmtheit gebracht, dessen Wunsch diesem Twitter-Prinzip quasi gegenläufig ist: Jason möchte herausfinden, zu welchem Fußballverein er gehört.

Diese Entscheidung kann Jason aber nicht aus dem Bauch heraus treffen, er muss dafür im Vorfeld gewissermaßen Daten erheben, weshalb er seinem Papsi nach dem eher zufälligen ersten gemeinsamen Stadionbesuch das beherzte Versprechen abgenommen hat, mit ihm „alle Stadien zu befahren und alle Vereine zu besuchen, die notwendig sind, bis er Fan eines oder besser seines Vereins“ wird. Über diese Fußballreisen von Vater und Sohn bloggt Mirco von Juterczenka, alias Papsi, seit 2011 im Blog Wochenendrebell, der 2017 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.

„Krieg im Kopf: Oft habe ich alle möglichen Dinge im Kopf. Diese rasenden Gedanken überfordern mich.“

„Krieg im Kopf: Oft habe ich alle möglichen Dinge im Kopf. Diese rasenden Gedanken überfordern mich.“

Wer schon einmal in dem wunderbaren Blog gestöbert hat, weiß, dass es noch einen bisher unerwähnten Aspekt zu den Reisen von Jason und seinem Vater gibt: Der heute 12-Jährige ist Asperger-Autist. Das ist für die Geschichte der beiden einerseits ganz ohne Belang und andererseits unglaublich bedeutsam. Ohne Belang, weil Jasons Autismus „keinesfalls ein Grund (ist), in den Mitleidsmodus zu verfallen“, wie Mirco sachlich feststellt. Und: „Jegliche Form von Betroffenheit ist fehl am Platz. Wir haben den besten Sohn der Welt.“ Bedeutsam ist diese Tatsache, weil Jason auf den Fußballreisen permanent mit Dingen konfrontiert wird, die ihm aufgrund seines Asperger furchtbar zuwider sind – laute Umgebungen, unerwartete Situationen, Menschenmengen, Kinder –, er sie aber im Kontext seiner Vereinssuche und als Faktor dieser Reisen akzeptiert und darüber auch ein Stück weit lernt, damit umzugehen.

Entwicklungsstörung. Ein häufig verwendeter Fachbegriff vermeintlicher Autismus-Experten, der nicht nur meine Frau und mich ratlos zurücklässt. Wir sehen da nichts Störendes in seiner Entwicklung.

Unter dem Titel „Wir Wochenendrebellen“ haben Vater und Sohn nun ein Buch über ihre Reisen geschrieben, das bei Benevento Publishing, einer Marke der Red Bull Media House GmbH, erschienen ist. In Sachen Vermarktung passieren da, so ist zumindest mein Gefühl, gleich mehrere Katastrophen auf einmal: Fußballfans könnten sich aus gutem Grund davon abschrecken lassen, etwas in die Hand zu nehmen, was unter der Flagge von Red Bull läuft. Menschen, die mit Fußball nichts am Hut haben, könnten annehmen, ein Buch, das diesen Sport vermeintlich in den Mittelpunkt stellt, könne für sie ohne Belang sein. Grundsätzlich könnte man auch eine Art Betroffenheitslektüre vermuten, die nur für Eltern interessant ist, die ebenfalls ein Kind mit Asperger-Autismus haben. All diese Ansätze liegen völlig daneben und ich kann nur jedem offenen, interessierten Menschen raten, das Buch zu lesen.

„Andere Menschen sind sehr komisch. Deswegen habe ich beschlossen, mich auf mich zu konzentrieren.“

„Andere Menschen sind sehr komisch. Deswegen habe ich beschlossen, mich auf mich zu konzentrieren.“

„Wir Wochenendrebellen“ stellt letztlich weder den Fußball noch Jasons Entwicklungsstörung in den Vordergrund, sondern entwirft seine Erzählung lediglich vor der Kulisse eines Fußballfeldes. Der Sport dient quasi als die Leinwand, auf der von Juterczenka mit rohen, nahen und voller Liebe geführten Strichen die Geschichte seiner Familie zeichnet, zu der seine Frau, Sohn Jason, dessen kleine Schwester und in zweiter Instanz die Großeltern der Kinder gehören. Und diese Liebe, so kitschig das klingen mag, ist der Grund, warum das Buch so wahnsinnig lesenswert geworden ist. Es mag einem als naives Gutmenschentum ausgelegt werden in Zeiten wie diesen, wenn man Liebe und Verständnis, Respekt und Einfühlungsvermögen als Antworten gibt auf die Fragen, wie wir als Gesellschaft vorankommen können. Das Buch zeigt aber, was passiert, wenn man sich von genau diesen Werten leiten lässt und wenn man sie in seiner Familie lebt.

Meine Frau und ich sind es gewöhnt, eher als schwache, unfähige und freakige Eltern wahrgenommen zu werden.

Mirco von Juterczenka beschreibt eindrücklich, wie die Diagnose ihn und seine Frau aus der Bahn geworfen hat, ihnen aber auch etwas gab, woran sie sich halten konnten. Wobei ihre Hoffnung auf Orientierung zunächst nicht erfüllt wurde, im Gegenteil musste die Familie sich ihren Weg mit dieser Entwicklungsstörung nicht nur Schritt für Schritt selbst erarbeiten, sondern sich auch an Kritik aus dem Umfeld und von Fremden gewöhnen, der von ihnen gewählte Umgang mit ihrem Kind sei zu weich und nachgiebig. „Es zieht sich vermutlich wie ein roter Faden durch die Erziehung unseres Sohnes, dass wir ihm Rücksichtnahme beibringen möchten, indem wir rücksichtslos mit Teilen der Gesellschaft umgehen.“

„Es ist manchmal Behinderung und manchmal Behilflichkeit.“

„Es ist manchmal Behinderung und manchmal Behilflichkeit.“

Jasons Autismus fordert letztlich zwar niemanden mehr als den Jungen selbst, doch während er ihn längst als ebenso behindernd wie behilflich einstuft, treiben seine damit verbundenen Ausraster den Eltern mal die Schamesröte in die Wangen und sie dann in den Wahnsinn, von den gängigen Reaktionen Umstehender ganz zu schweigen. „Selten wurde uns so etwas wie Verständnis, hinnehmendes Mitleid oder völlige persönliche Ausgeglichenheit vonseiten der uns umgebenden Mitmenschen entgegengebracht“, konstatiert Juterczenka trocken. Und doch lautet sein Fazit: „Mein Sohn leidet nicht unter Autismus. Autisten leiden nicht unter Autismus. Sie sind es nur leid, dass ständig über sie und nicht mit ihnen gesprochen wird. Autisten leiden lediglich unter dem rücksichtslosen Umgang ihres Umfeldes mit ihnen.“ Was letztlich die Frage aufwirft, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen und was wir alle dazu beitragen können, dass der menschliche Umgang miteinander nicht sofort hakt, wenn unser Gegenüber gewisse Erwartungen und Konventionen nicht erfüllt, erfüllen kann.

Grundsätzlich halte ich die Erwartungshaltung an Autisten, sie müssen doch wenigstens irgendein außergewöhnliches Kunststückchen vollbringen können, für sehr anstrengend.

„Wir Wochenendrebellen“ ist ein kluges, ein aufrichtiges, ein liebevolles und empathisches Buch geworden. Es ist nachdenklich und ziemlich witzig, es ist fordernd, überraschend und erzählerisch im besten Sinne unterhaltsam. Kurz und knapp, dieses Buch ist ein Spiegelbild seiner Autoren (und der beiden starken Frauen, die ihnen die Freiheit für ihre Reisen geben). Sie sollten es wirklich unbedingt lesen.

Mirco von Juterczenka mit
Jason (Einleitung & Glossar)

„Wir Wochenendrebellen
Ein ganz besonderer Junge und sein Vater
auf Stadiontour durch Europa“
Benevento Publishing
ISBN 978-3-7109-0017-4
Hardcover, 20 Euro

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Hemingway: One cat just leads to another

Dem Autor Charles Dickens wird der Ausspruch zugeschrieben: „What greater gift than the love of a cat!“ Über die Schriftstellerin Patricia Highsmith heißt es: „She was very happy among cats. They gave her a closeness that she could not bear in the long-term from people. She needed cats for her psychological balance.“ Und wie beschrieb es der unvergleichliche Ernest Hemingway? „A cat has absolute emotional honesty: human beings, for one reason or another, may hide their feelings, but a cat does not.“

Wie viele ihrer Kollegen waren die drei Autoren erklärte Katzenmenschen und teilten das Leben mit den schnurrenden Vierbeinern. Besonders für Hemingway, aber auch für Highsmith spuckt die Internetsuche zahlreiche Fotos aus, die diese Liebe zeigen, wobei Hemingways Gefährten („One cat just leads to another“) offenbar grenzenlose Freiheiten genossen: Sie sitzen beim Essen genauso selbstverständlich neben seinem Teller, wie sie ihm während der Arbeit über den Schreibtisch spazieren.

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Da wir bei unserer Geburt nach einem komplizierten, streng geheimen System unabänderlich in Katzen- und Hundemenschen unterteilt werden, erscheint es aussichtslos, die Faszination zu beschreiben, die von den sanftohrigen Tigern ausgeht: Die einen wissen ohnehin darum und die anderen werden kaum zu belehren sein. Fest steht, wer einmal in einer hoffnungslos stressigen oder herzlos traurigen Situation eine schnurrende Katze zu einer warmen Kugel in seinem Schoß eingerollt hatte, sich dem Gefühl hingebend, das ihr gleichmäßiges, sonores Brummen auszulösen vermag, dem feinen Vibrieren, das von dem sanften, selbstzufriedenen Fellknäuel ausgeht, wird den Tigern zwangsläufig verfallen: Eine zufriedene Katze ist der Inbegriff von ausgeglichener Ruhe und ihre zärtlichen Hingabe zu jenen Menschen, die sie sich erwählt, hat birgt ein Vertrauen, das grenzenlos ist und über jeden Zweifel erhaben.

Hemingway und Luminara

Katzen sind treu und klug, haben einen eigenen Kopf und einen unbestechlichen Charakter. Sie sind Individualisten, die ihre Freiheit lieben und sich nicht vorschreiben lassen, zu wem sie gehören; auch nicht davon, wo ein gefüllter Futternapf auf sie wartet. Ihre Zuneigung ist ehrlich und geht keine Umwege. Genauso selbstverständlich, wie sie die Gesellschaft anderer suchen und genießen, schaffen sie sich andererseits Freiräume, in die sie sich vor zu viel Nähe flüchten wie in eine schützende Höhle. Sie sind die bestmöglichen Gefährten – und besser, als mit einer Katze zu leben, ist es womöglich nur, sein Leben mit zwei Katzen zu teilen.

Hinweis Buch

Fuck you, bodyshaming: Lektion in Selbstliebe

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, geht so: Vor gut drei Jahren saß ich vor einem sehr hell erleuchteten Spiegel, in der Erwartung, für einen Fernsehauftritt geschminkt zu werden. Die dafür zuständige Maskenbildnerin trat neben mich, musterte mein Gesicht und sagte dann: „Na, bei Ihnen muss man ja ganz schön kleistern.“ Ich lächelte höflich gegen meine Irritation an, folgte mit meinen Blicken den Kreisen, die sie mit ihren Fingern in die Luft zeichnete, und hörte als nächstes den Satz: „Aber mutig, dass Sie sich trotzdem vor die Kamera trauen.“

Zwar war ich geistesgegenwärtig genug, um zu erwidern: „Ich gehe so ja auch auf die Straße“, aber der Satz fiel bedeutungsleer in eine Lücke, die sich in meinem Gehirn auftat. Wovon redete die Frau? Während sie also munter kleisterte, fragte ich schüchtern, was sie mit ihrer Bemerkung genau gemeint hatte. Sie hielt inne, offenbar überwältigt von so viel Begriffsstutzigkeit. „Na, Ihre Pigmentflecken!“ Ich betrachtete mein Gesicht wie mit neuen Augen im Spiegel. Pigmentflecken. Ah! Das mussten die ulkigen Verfärbungen sein, die sich ein, zwei Jahre zuvor zum ersten Mal in mein Gesicht geschlichen hatten.

Dunkel erinnerte ich mich an den spanischen Sommer, der mich, anders als seine Vorgänger, nicht gleichmäßig gebräunt, sondern eher zufällig betupft hatte. Klar hatte mich das irritiert, allerdings kannte ich diese Entwicklung schon von meiner kleinen Schwester und hatte ihr so keine weitere Bedeutung beigemessen. Der Körper verändert sich eben, die Haut sowieso, und mir lag es nach einer kurzen aber heftigen Phase mit extremen Hautunreinheiten ein paar Jahre zuvor ehrlich gesagt fern, mir darüber je wieder Sorgen zu machen. Andererseits, war das vielleicht eine totale Verweigerungshaltung? Gab es ein Problem, das ich beharrlich ignorierte?

Hallo, ich heiße Mara und ich möchte über Pigmentflecken reden.

Hallo, ich heiße Mara und ich möchte über Pigmentflecken reden.

Ich brachte den Auftritt gut über die Bühne, die Unterhaltung in der Maske aber blieb mir im Gedächtnis. Die Dame hatte mir empfohlen, mir die Haut abhobeln zu lassen, was sich eher fies anhörte. Aber als ich ein paar Tage später ohnehin bei meinem Hautarzt war, fragte ich ihn nach den Flecken – und was man dagegen tun könne. Seine wie stets pragmatische Antwort lautete: „Nichts.“ Da sei viel Zeug auf dem Markt, mit dem die Hersteller einen Haufen Geld verdienten. „Aber das ist im Prinzip alles Quatsch.“ Er riet mir, im Gesicht Sonnenschutz mit besonders hohem Lichtfaktor zu nutzen. „Und wenn es Sie partout stört, bleiben sie eben aus der Sonne.“ Damit hätte das Thema eigentlich wieder erledigt sein können. Eigentlich…

Erst grämen, dann cremen
„Wie findest du das denn, mit den Pigmentflecken?“, fragte ich meine kleine Schwester bei unserem nächsten Treffen. Die schnaubte und rollte mit den Augen. „Beschissen, aber was soll ich machen? Die sind halt da.“ „Hast du mal versucht, was dagegen zu machen?“ „Ja, aber das bringt alles nichts.“ Ich befühlte mit den Fingern vorsichtig die Haut in meinem Gesicht, als ob die kleinen, verfärbten Stellen spürbar wären. Aber da war kein Widerstand, den meine Finger brechen mussten, kein Hubbel, nichts, was die Bewegung aufhielt. Und doch hatte sich seit der achtlosen Bemerkung der Maskenbildnerin etwas daran verändert, wie ich mich selbst im Spiegel betrachtete, wie ein leises Bedauern darüber, was mit mir und meinem Gesicht passiert war.

Ein paar Tage später goss ich das Wort, das mich neuerdings verfolgte, mit Bedacht ins Netz – und erstarrte. Das Thema wurde dort behandelt wie eine schwerwiegende Krankheit. Ich stieß auf Foren voller Frauen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen wollten, die sich seit Monaten und Jahren grämten und cremten, eine Tube nach der anderen, teuer im Ausland bestellt, alles, um den Teufel aus ihrem Gesicht zu verjagen. Die Tübchen in den USA und in China bestellten, weil dort härtere, schärfere Substanzen erlaubt waren, um das, wovon sie sich so gezeichnet fühlten, aus ihrer Haut auszuradieren, sie dabei aber eigentlich nur zerstörten.

Die Vorher-Nachher-Bilder zeigten hübsche Frauen, deren Haut auf dem zweiten Foto fast wie verbrannt erschien, die dabei aber Hoffnung in den Augen trugen, den Feind zu besiegen. Frauen, die nicht mehr als einen Hauch von Flecken oder Verfärbung im Gesicht trugen, denen man aber weißgemacht hatte, sie seien entstellt, hässlich und kaum mehr vorzeigbar. Ehrlich verzweifelte und traurige Frauen, denen man ein Problem eingeredet hatte, weil sie einer scheinbaren Norm nicht entsprachen und weil man hoffte, so verunsichert Geld mit ihnen verdienen zu können.

Die unerkannte Schwangerschaft
Rückblickend frage ich mich, wieso ich nicht spätestens da die Stimme der Maskenbildnerin aus meinem Ohr geschüttelt und das ärgerliche Thema zu den Akten gelegt habe. Aber manchmal sind wir Menschen eben irrational, knüpft eine dumme Bemerkung, achtlos dahingesagt, an die eigene Geschichte an, weckt alte Geister, und lässt uns entsprechend nicht mehr los. In mir jedenfalls war eine Verunsicherung, die mich einfach nicht loslassen wollte, die ich weiter zu beruhigen versuchte, der ich etwas entgegensetzen musste. Nur: was? Wenn ich weder beim Hautarzt noch online Hilfe finden konnte, blieb eigentlich nur noch die Zunft der Apotheker. Also ging ich in die Apotheke, um mich beraten zu lassen. Mit leiser Stimme fragte ich, was man mir gegen Pigmentflecken empfehlen könne – und geriet direkt an die richtige Person.

„Oh, die sind ganz schrecklich bei Ihnen, das sehe ich schon!“, erklärte die Frau und fragte, ob die Schandflecken ein Relikt meiner Schwangerschaft seien. Äh. Nö. Wie? Ich lernte, es sind (klar!) die Hormone, deren harscher Pinsel für die Flecken verantwortlich ist, weshalb meine Gegenüber ihren ältesten Sprössling dafür verantwortlich machte. „Aber sie haben es nicht bemerkt?“ „Öh?“ „Die Schwangerschaft?“ Ja davon liest man ja dauernd: Frauen, die sich jahrelang fragen, wer der traurig aussehende kleine Bub ist, der morgens bei ihnen am Frühstückstisch sitzt, weil sie ihre Schwangerschaft nicht bemerkt haben… „Ich war nie schwanger.“ „Ach, auch kein Abbruch oder Abgang?“ „Nein.“ Sie griff mitfühlend nach meiner Hand, was mich einen Schritt zurückweichen ließ. „Das ist dann ja noch schlimmer.“ Ich verstand nicht, wieso ich, ohne es zu wollen, gerade offenbar alles immer noch schlimmer machte. „So eine komplett sinnlose Laune der Natur.“ Hatte die Frau ernsthaft Tränen in den Augen? Und bebte ihre Stimme?

Wie bescheuert man sein kann
Ich floh. Aus der Apotheke, aus dem Thema, aus der aufgezwungenen Not. Eine Apotheke weiter griff ich beherzt ins Regal (immerhin hatte ich mich ja online informiert), kaufte hautfreundliche Sonnencreme mit LSF 50 und ein Serum, das die Bildung neuer Pigmentflecken verhindern sollte. Ich verließ den Rest des Sommers die Wohnung niemals, ohne zuvor Sunlotion benutzt zu haben, tupfte das Serum und hielt mich stärker als sonst aus der Sonne. So richtig glücklich machte mich nichts davon – und eine wie auch immer geartete Verbesserung meines Hautbildes konnte ich auch nicht feststellen. Was ich aber feststellen konnte, war, dass die Sonne mir fehlte. Und irgendwann später, als ich zufällig Bilder jenes Sommers betrachtete, in denen die Pigmentflecken zum ersten Mal aufgetaucht waren – und auf denen ich einfach nur glücklich aussah–, dass ich echt komplett und vollkommen die Schnauze voll hatte.

Der aktuelle Urlaub hat mich mal wieder völlig verunstaltet. Es ist ein Trauerspiel...

Der aktuelle Urlaub hat mich mal wieder völlig verunstaltet. Es ist ein Trauerspiel…

Ich hatte die Schnauze voll davon, mir von wildfremden Menschen erzählen zu lassen, wie ich auszusehen und wofür ich mich zu schämen hatte. Davon, Geld auszugeben für Produkte, die nachweislich nichts veränderten. Und ich hatte die Schnauze ganz besonders voll davon, mit Ende dreißig durch eine einzige, dumme Bemerkung in die Gedankenfalle getappt zu sein, die mich an jenem Abend erwischt hatte, und auf diesen Unsinn tatsächlich zu hören. Wie saublöd war ich eigentlich? Klar, ich konnte mir die Gründe dafür herleiten, aber ich wollte sie nicht mehr gelten und mich vor allem nicht von ihnen dominieren lassen. Ich wollte aber auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern ich wollte diese Geschichte erzählen.

Fuck you, bodyshaming
Weil es an jedem verdammten Tag passiert, das kleine Mädchen, junge Frauen, ältere Damen, Kids, Chicks, Teenager, Girls und Women durch flapsige Bemerkungen, doofe Sprüche und vermeintlich wohlwollende Kommentare angegriffen werden. Weil wir, die Frauen, auf einem gewissen Level ein Leben lang angreifbar bleiben für und von Teile(n) einer Gesellschaft, die von uns und unseren Körpern das Unmögliche verlangen. Die uns in Vorstellungen und Förmchen pressen und uns erklären, was schön ist und annehmbar, woran wir arbeiten müssen und was wir so lassen dürfen, wie es ist.

Weil es immer noch gesellschaftlich akzeptabel ist, Frauen zu allererst nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Weil es für die permanente Herabsetzung von (zumeist weiblichen) Körpern sogar ein Wort gibt: Bodyshaming. Weil viele von uns diese Werturteile internalisiert haben, wir nach etwas streben, einem altersunabhängigen Ideal, das es einfach nicht gibt, es sei denn, man hat den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als sich der Pflege seines Körpers zu widmen. Weil wir viel zu oft unsere Wertigkeit davon ableiten, als läge die in unserem Spiegelbild. Bullshit!

Wir sind großartig!
Wir sind so viel mehr als unsere Körper und deren Tagesform. Wir sind Frauen. Wir sind Töchter, Schwestern, Geliebte. Wir sind beste Freundinnen, Mütter, Ehefrauen. Wir sind Entdeckerinnen, Poetinnen, Schultern zum Ausweinen. Wir sind groß und wir sind klein, blond und brünett, mutig und verunsichert. Wir sind strahlend, abgearbeitet, kreativ, einfallsreich. Wir sind Erzieherinnen, Leuchtturmwärterinnen und Hirnchirurginnen, Aktivistinnen, Seelentröster, Nervensägen. Wir sind laut und wir sind leise, wir können alles alleine und brauchen Hilfe. Wir sind stark und wir sind anlehnungsbedürftig, wir sind Mechanikerinnen und Moderatorinnen, unendlich traurig und unfassbar glücklich.

Wir sind offen und wir sind verschlossen, wir sind verliebt und wir werden geliebt, wir fliegen irgendwann zum Mars und wir waten durchs Meer, wir sind alles, was wir sein möchten und noch viel mehr, wir ziehen uns zurück und wir wachsen über uns hinaus. Und nichts davon verändert sich durch die Flecken auf unserer Haut oder die Kilos auf unseren Hüften, auch nicht durch die Dellen unserer Schenkel oder die ersten grauen Haare. Unsere Körper sind das Haus, in dem wir wohnen, das mit uns wächst und sich entwickelt. Wir sind schön, von innen und von außen, genau so, wie wir beschließen zu sein, wie das Leben uns prägt und wir uns ihm zeigen.

Es heißt, die Haut sei das Spiegelbild unserer Seele. Jedes Jahr, wenn der Sommer kommt, zeichnet meine Seele einen Teil ihrer Geheimnisse mit sanftem Pinsel in mein Gesicht. Die Flecken, die unter ihrer Hand entstehen, sehen aus wie Wolken, wie Kontinente, wie Sandburgen. Sie verraten, wo ich schon gewesen bin und wo mein Leben mich noch hintragen wird. Und wenn der Sommer vorbei ist, baut meine Seele ihre Leinwände ab, verpackt sie bis zum nächsten Jahr, wenn sie erneut darauf zu zeichnen beginnt. Es sind Seelenlandschaften, die für eine kurze Zeit des Jahres auch auf meiner Oberfläche zu sehen sind. Ich finde sie wunderschön.

Thomas Hirschhorn // SPERR

Noch bis zum 4. September läuft in Wiesbaden die Biennale, und dabei werden auch öffentliche Plätze bespielt. So reibt sich der eine oder die andere vermutlich seit einiger Zeit verwundert die Augen über die vermeintliche Ansammlung von Ramsch und Sperrmüll auf dem Faulbrunnenplatz, tatsächlich handelt es sich dabei aber um das Projekt SPERR von Thomas Hirschhorn.

Inmitten dieser ausrangierten Habseligkeiten sitzen 24 Stunden am Tag reglos und stumm zwei Personen als Teil der Skulptur. Wenn man dort länger verweilt, jene Skulptur, die vorbeieilenden Menschen, anfahrende Busse und schlafende Obdachlose beobachtet, verschwimmen die Grenzen zwischen Installation und Umfeld mehr und mehr. Ein spannendes Projekt.

Kunst ist Leben ist Kunst.

Kunst ist Leben ist Kunst.

Müdes Europa, muntere Künstler

Am Donnerstag hat unter dem Motto „This is not Europe“ die Wiesbaden Biennale begonnen. Bis zum 4. September dauert das Festival, bei dem zum einen Gastspiele im klassischeren Sinne dargeboten werden, zum anderen unter dem Slogan „Das Asyl des müden Europäers“ Performances, Ausstellungen, Musik und mehr. Unter anderem bespielt wird das Alte Gericht, und zwar von Thomas Bellinck aus Belgien. Er lässt die Besucher durch ein Museum wandern, das aus einer Zukunftssicht aufs heutige Europa zurückschaut und sein Scheitern nacherzählt.

Wiesbaden ist nicht der erste Ort, an dem Bellinck seine Exponate ausstellt, Ausstellung und Gebäude ergänzen sich aber wunderbar und man wünscht sich beim Durchstreifen der Räume einmal mehr eine permanente kulturelle Nutzung des spannenden Gemäuers. Am Ende dieser „Geisterbahn der europäischen Zukunft“ erwartet einen der Künstler höchst selbst zum Dialog über das Gesehene und Erlebte. Ein Angebot, das im ersten Moment allerdings eher als eine Aufgabe anmutet, denn die Eindrücke dieser Wanderung in der Zukunft sind absolut intensiv.

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Das liegt freilich an der schneidenden Aktualität des Themas, daran, dass die Vorstellung, das Ideal von Europa, von offenen Grenzen und Gemeinschaft zu verlieren, eine sehr reale und bedrohliche ist. Mich hat mehrmals ein beklommenes Gefühl beschlichen und immer wieder die Frage, was wir alle tun können, um die aktuelle Tendenz zu Mauern in den Köpfen und Herzen vieler Menschen wieder umzukehren. Mehr noch, dem Schwachsinn, den AfD & Co. verbreiten, den Nährboden zu entziehen und die Menschen, die auf Hass und Abgrenzung setzen, ihren unsäglichen Irrtum klarzumachen. Dabei geht es mir nicht darum, zu behaupten, die europäische Idee sei eine ohne Schwächen. Aber wie derzeit an vielen Stellen die Errungenschaften eines gemeinschaftlichen Europas, auch der Friede, in dem wir alle das Privileg hatten, aufzuwachsen, so leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, führt der Rundgang schmerzhaft vor Augen – dieses Gefühl hallt lange nach.

Eine weitere spannende Idee des Festivals ist Die Kirche, ein Projekt des Niederländers Dries Verhoeven, bei dem jeden Tag um 18 Uhr eine Beerdigung stattfindet. Am ersten Festivaltag wurde die multikulturelle Gesellschaft zu Grabe getragen, nicht ohne zuvor bei einem ungewöhnlichen Gottesdienst von ihr Abschied zu nehmen. Der war in seinen Ritualen zwar stark an katholische Messen angelehnt, allerdings mit durchaus bizarren Ausprägungen – so wurde beispielsweise als Predigt eine Stelle aus Thilo Sarrazins Pamphlet „Deutschland schafft sich ab“ vorgetragen sowie der monokulturellen Gesellschaft und den deutschen Werten gehuldigt. Gerade nach den frischen Eindrücken aus dem Alten Gericht fiel all das auf sehr fruchtbaren Boden. Und warf die Frage auf, was genau stellen sich jene eigentlich vor, die eine Abkehr von der multikulturellen Gesellschaft fordern, in der wir leben? Und, so naiv das auch klingen mag, wo ist eigentlich das Problem, sich auf einander einzulassen, voneinander zu lernen und gemeinsame Wege zu finden?

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Mit Angst, Zukunft und Angst vor der Zukunft beschäftigt sich auch Julian Hetzel in seinem Stück „Sculpting Fear“, das beinahe mehr als Tanzperformance denn Theater daherkommt. Aber was in der Politik gilt, bewahrheitet sich für die Kunst umso mehr – wozu Grenzen ziehen, wenn die Übergänge letztlich doch immer fließende sind. Es gehört bei einer Aufführung, die derart viele Fragen aufwirft, vielleicht sogar zur Folklore, dass eine Handvoll Zuschauer nicht bis zum Ende durchhalten, sondern das Erlebnis im Malsaal abbrechen. Aber wieso eigentlich darf die Performance dem Publikum nicht ähnlich viel abverlangen wie den Künstlern? So viel nur, es lohnte sich definitiv, bis zum Ende zu bleiben – von durchhalten kann ohnehin keine Rede sein.

Abschließend sei gesagt, für mich waren das sicher nicht die letzten Eindrücke, die ich auf der Biennale gesammelt habe. Allen kulturell und politisch Interessierten kann ich nur eine absolute Empfehlung aussprechen, in den kommenden zehn Tagen ebenfalls Zeit dort zu verbringen.


Noch mehr Futter zur Biennale gibt es in diesem Video des Wiesbadener Kurier.