Der Vater meiner Kinder

Der Film „Der Vater meiner Kinder“ ist auch eine Hommage: An den französischen Filmproduzenten Humbert Balsan, mit dem Regisseurin Mia Hansen-Løve an ihrem erstes Langfilm-Drehbuch, Grundlage ihres späteren Regiedebüts „Tout est pardonné“, zusammenarbeitete. Und es ist wohl nicht zuletzt dieser persönliche Zugang zu den Figuren, aus dem der ungewöhnliche Film seine erzählerische Kraft schöpft. In unaufgeregten, regelmäßigen Bahnen zirkuliert er in seiner ersten Hälfte um den fiktiven Filmproduzenten Grégoire Canvel (großartig: Louis-Do de Lencquesaing). So gewinnend, wie Hansen-Løve ihren frühen Mentor Balsan in Interviews beschreibt, setzt sie auch Lencquesaing in Szene: Sanft, mit einer gewissen Leichtigkeit, streift er als enthusiastischer Produzent Canvel durchs hektische Paris und scheint dabei durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Ein Mann, der in sich ruht – zumindest auf den ersten Blick.

Ein Mann, der in sich ruht – zumindest auf den ersten Blick.

Aber sicher, einer der Regisseure, mit denen er aktuell zusammenarbeitet, ist eine Diva. Permanent überzieht dieser die anberaumten Drehtage und kostet Canvels Produktionsfirma so Zehntausende Euro – täglich. Mag sein, Canvels persönliche Assistentin Valérie sieht vor lauter finanziellen Bäumen den sicheren Wald nicht mehr, die asiatische Filmdelegation kommt mit mehr als doppelt so vielen Leuten wie angesagt, und weil alle festen Mitarbeiter gebunden sind, muss Canvel sie mit einem ungeübten Praktikanten losschicken. Der Produzent aber scheint von all dem seltsam unberührt, schwebt sogar noch über den Dingen, als die Polizei ihn, dauer-rauchend und dauer-telefonierend, aus dem Verkehr zieht, weil sein Punktekonto die zugelassene Schallgrenze überschritten hat – und er dennoch viel zu schnell unterwegs war.

Die Familie hält Canvel in der Spur
All dies scheint den Produzenten jedoch im Innersten nicht zu erschüttern und dem Zuschauer wird schnell klar, was ihn bei Laune und in der Spur hält im Chaos seiner Arbeitstage: die Familie des passionierten Arbeitstieres, seine drei bezaubernden Töchter und die liebende Frau, zu denen er abends heimkehrt. In warmen, in ihrer Wirkung unglaublich authentisch sich entfaltenden Bildern, erzählt die Regisseurin von diesem Familienleben, vollgepumpt mit Glück. Wie ein Echo klingt das Lachen der Mädchen noch Minuten später nach, schwirren die unbekümmert in die Luft gestreckten Kinderbeine einem durchs Gedächtnis, brennt sich Canvels Aufforderung an seine Älteste ins Bewusstsein: „Es wäre schön, wenn du versuchst, glücklich zu sein.“

Zumindest die Wochenenden versucht der nimmermüde Produzent, sich für seine Frau und die Mädchen Zeit zu nehmen – und wagt sogar eine kurze Urlaubsreise, die jedoch erste Brüche offenbart: Mit dem unvermeidlichen Handy am Ohr setzt er sich aus den Erholungsmomenten ab, „immer das Gleiche“, weint seine Frau, versucht, die gemeinsamen freien Tage abzubrechen, aus hilfloser Wut. Canvel telefoniert indes mit seinen Angestellten und den unzähligen, an internationalen Sets verstreuten Regisseuren, Produktionsassistenten und sonstigen Verantwortlichen, um die Balance seiner Firma „Moon Films“ zu halten.

Denn diese steht längst nicht mehr kurz vor, sondern mitten im Ruin – und im Rückblick lässt sich spekulieren, dass der als lebensechte Vorlage dienende Balsan Gläubiger, Banken und Kopierwerke mit seinem übermittelten Charme bei Laune hielt und ihnen klar machte, der nächste Film würde, endlich, an der Kasse so einschlagen, dass er all seine Schulden mit einem Schlag los wäre. Und sie müssen ihm, dem gewinnenden Mann mit seinem vor Hoffnung und Begeisterung schier platzendem Strahlen, zweifelsohne geglaubt haben…

Die Familie gibt Schutz und Halt – zumindest für eine Weile. (Fotos: Verleih)

Die Familie gibt Schutz und Halt – zumindest für eine Weile. (Fotos: Verleih)

Auf einen Schlag scheint alles verloren
Solange er diese Fassung zudem für sich selbst aufrecht erhält, bleibt auch die Filmfigur Canvel der unberührte, smarte, charismatische Kerl, der durch den Bauch seiner Stadt mit einer Sicherheit gleitet, die einem den Wunsch vermittelt, nur ein kleines Stück an seiner Seite, in seiner Hosentasche gar, durch die Hektik der uns umgebenden Tage zu reisen. Mit beinahe sturer Zuversicht führt er die Gespräche mit Bänkern, ermuntert seine Angestellten und scheint dazwischen die Zeit mit Frau und Töchtern, die Reise nach Italien und das Abtauchen in die Kulturgeschichte Europas, aufrichtig zu genießen. Bis der Moment kommt, in dem Canvel erstmals selbst klar wird, er hat sich verzockt. Die Erkenntnis, dass es so nicht weitergeht – und damit er im Umkehrschluss in diesem Geschäft vermutlich vorerst ausgespielt hat – trifft ihn und den Zuschauer, der seinem Charme wider die Vernunft erlegen war, mit derselben unvorbereiteten Wucht. Wie ein Kartenhaus fällt alles zusammen, woran Canvel geglaubt hat; und erst dieser Zusammenbruch macht deutlich, wie sehr er sich an der scheinbaren Gewissheit festgehalten hatte. Auf einen Schlag scheint alles verloren, der Glaube an die eigene Zukunft, der Mut für seine Projekte, auch und vor allem aber die unbeschwerten Momente mit seiner Familie, aus denen er stets Kraft zu schöpfen vermochte.

Die unerschütterliche Hoffnung, bislang fest in seinem Gepäck eingeschnürt, entgleitet dem Produzenten: Während seine Frau verreist ist und er die Verantwortung für die Töchter trägt, bringt Canvel sich um. Hansen-Løves Förderer hat sich im Alter von 50 Jahren in seinem Büro erhängt, in ihrem Film lässt die gerade 29-jährige Regisseurin ihren Protagonisten zur Waffe greifen und sich in den Straßen von Paris erschießen. Damit endet der Film aber keinesfalls, sondern geht gerade erst in seine zweite Hälfte – und erspart dem Zuschauer so nicht, was nach dem Schuss passiert. Der Film bleibt nah an seinen Figuren, während sie den Verlust des Vaters und Ehemanns zu verkraften haben. Dabei agiert die Regisseurin niemals exhibitionistisch, überzogen oder mit Voyeurismus, sondern entlässt ihr Publikum schlicht nicht aus den Fragen, dem dumpfen Schmerz und dem unvermeidbaren Loch, in das dieser Tod die Betroffenen reißt. „Er hat nur an sich gedacht“, weint die mittlere Tochter Valentine nach dem überraschenden Tod ihres Vaters. „Denk immer daran, wie lieb er dich gehabt hat“, bittet dessen bester Freund das Kind – doch wie soll diese Erkenntnis ihr nun, da er sich aus ihrem Leben geschlichen hat, Trost spenden? Und doch, der Film fällt kein Urteil über den Selbstmord, richtet nicht den Vater und Ehemann, der seine Familie zurückgelassen hat, sondern schildert diesen Tod als etwas, was ihm alleine gehört, worüber niemand außer ihm zu entscheiden oder zu urteilen hat.

Ein positiver Blick auf das Leben
Und der Zuschauer lässt seine erste Wut so sanft los, wie ein Ballon in den Sommerhimmel steigt, und gesteht Canvel seine Entscheidung zu, wider dem Horror, den seine Familie danach zu durchlaufen hat; beinahe scheint es, als seien diese beiden Komplexe gänzlich getrennt voneinander – und sind sie das nicht? So unaufgeregt, wie der Film in seiner ersten Hälfte den zunehmenden Druck auf seine Hauptfigur geschildert hat, verabschiedet er sich nun von Canvel und richtet den alleinigen Fokus auf seine Familie und darauf, wie sie mit seinem Tod zurechtkommt: Seine Frau, die versucht, die Firma im Andenken ihres Mannes zu retten. Seine älteste Tochter, die Verstörendes aus der Vergangenheit des Vaters erfährt und beinahe in einem Nebensatz die erste Liebe erlebt. Die jungen Töchter, deren altersbedingte Unbeschwertheit sie trotz der schrecklichen Vorkommnisse einholt und erneut so tapfer wie munter durchs Leben stapfen lässt.

So entfaltet der Hansen-Løve in der zweiten Hälfte, nach dem massiven Schock durch Canvels Tod, einen unerwartet positiven Blick auf das Leben, kitzelt gar etwas Lebensbejahendes aus den Zuschauern, das in den ersten, erschrockenen, mit der Familie geteilten Tränen, nicht zu erwarten war. Die Regisseurin versucht den Tod ihres Mentors, ihrer Hauptfigur, nicht zu erklären, sondern begleitet sein Umfeld durch einen Abschied, der in all seinem Schmerz eine Unaufgeregtheit in sich trägt, die wie ein erleichterndes Geschenk daherkommt. Ein großer Film.

Der Vater meiner Kinder
Buch & Regie: Mia Hansen-Løve
Darsteller: Louis-Do de Lencquesaing, Chiara Casseli, Eric Elmosnino
Frankreich & Deutschland, 110 Minuten, FSK 12

Zum Leben verführt

„Solange man sich treiben lässt,
ist nichts zu befürchten, ja,
inmitten der Strömung überkommt einen
sogar das Gefühl trägen Wohlbehagens.“
[Christopher Isherwood: Der Einzelgänger]

Was, wenn das Kino all seine Geschichten schon erzählt, und uns nichts Neues mehr zu sagen hat? Wenn wir all das, was uns ein Film verraten wollte, längst wussten? Wenn kein Wort und keine Figur uns mehr zu überraschen vermag? Dann… muss das Kino seine ausgetrampelten Erzählwege und neuen 3D-Pfade verlassen, um uns mit Sinnlichkeit zu überraschen – so wie jetzt der Designer Tom Ford in seinem aufregenden Regiedebüt „A Single Man“. Alles, was der Zuschauer im Verlauf dieser 101-minütigen Verfilmung von Christopher Isherwoods 1964 veröffentlicht Roman „A Single Man“ („Der Einzelgänger“) erfahren wird, deutet sich in den ersten Minuten an: Da ist der britischen Professor George Falconer, der über den Unfalltod seines Lebensgefährten Jim nicht hinwegkommt und auch nicht über den Umstand, von dessen Beerdigung ausgeschlossen worden zu sein, da diese „im Familienkreis“ abgehalten wurde. So satt hat der Mittfünfziger die Last von Trauer und Verlust, dass er beschließt, sich das Leben zu nehmen – und es ist der Tag, an dem er seinen Selbstmord akribisch vorbereitet, den Zuschauer und Hauptfigur miteinander teilen.

Da ist Georges beste Freundin Charlotte (Julianne Moore), die wie er aus London nach Los Angeles kam – und dort auch nach Jahren die Hoffnung auf seine Liebe nicht aufgeben kann, trotz alledem. Oder die Gedanken darüber, was hätte sein können, wäre er keine „scheiß Schwuchtel“; und es fließen Tränen aus Gin von einer Umarmung in die nächste. Da ist der unangenehme Nachbar, der George einen „warmen Bruder“ nennt, und seine Frau, die alle Unfreundlichkeiten ihres Gatten hinwegzulächeln versucht. Und da ist der junger Student Kenny, der zu spüren scheint, dass sein Professor nicht dem blonden Mädchen an seiner Seite freundlich zulächelt, sondern ihn, den jungen Mann, meint, wenn seine Blicke begehrlich über die Campuswiesen schweifen. Die Kunst des texanischen Modedesigners besteht nicht darin, dem Zuschauer seine Figuren nahezubringen, obgleich es ihm gelingt. Auch nicht darin, diese Geschichte zu erzählen, gleichwohl er den Roman gemeinsam mit David Scearce für die Leinwand adaptiert hat. Seine Magie entfaltet dieser Film nicht dank der Erzählung, sondern durch das Gewand, in welches er sie kleidet. Ford reiht mit beinahe dreister Leichtigkeit Momente wie schimmernde Perlen auf und hält sie vor den Augen des Zuschauers ins grelle Sonnenlicht, damit sie ihn zugleich blenden und sich ihm ins Gedächtnis brennen. Jede Szene, jede Einstellung gar, wird zum bildgewaltigen Erlebnis, das Hingabe erfordert und den Mut, sich einzulassen auf die intensive Struktur und ungewohnte Form.

Die Frau im Hintergrund wäre gerne die an seiner Seite.

Die Frau im Hintergrund wäre gerne die an seiner Seite. (Foto: Verleih)

Wie im Zeitraffer bewegt sich George durch seinen (vermeintlich) letzten Tag und die Menschen, die ihm dabei begegnen, sind selten mehr als Projektionsflächen für sein Innenleben. Ist es wirklich die Nachbarsfamilie, die er aus dem Badezimmerfenster beobachtet, ist es der Nachbarsjunge, der einen Schmetterling zwischen seinen vor Aufregung feuchten Kinderhänden zerstauben lässt – oder sind all das nicht Erinnerungen des Professors an die eigene Kindheit? Kühl und entsättigt baut Ford seine Bilder wie kleine Kunstwerke um einen schmerzlich präsenten Colin Firth in der Rolle des Liebenden mit gebrochenem Herzen, der wenigstens im Traum die Chance hat, sich von seinem Mann mit einem zarten Kuss zu verabschieden – und zugleich bricht auch hier der Schmerz gewaltsam auf im Bewusstsein über den Verlust. Trauer und ein metallener Geschmack schwappen aus der dämmerigen Zwischenwelt in den Tag des Professors über, der neben einer Lache aus Tinte erwacht. Und dem Kuss nachfühlend landet sie als kühles Abbild der Erinnerung an diese letzte Berührung auf seinen Lippen, im Auge des neuen Tages. Es ist dieses Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, das sich von der Hauptfigur auf die Zuschauer überträgt. So, wie George selbst beinahe sezierend auf die Welt und die Menschen um sich herum blickt, ihre Bewegungen gleichsam verzögert wahrnimmt und ihre Worte erst registriert, wenn diese bereits verklungen sind, richten sich gleichzeitig die Blicke dieser Umwelt neugierig und verwundert auf den britischen Professor. Wenn er in seiner Vorlesung über die Angst spricht, die Menschen vor Minderheiten haben, als Motor dafür, diese auszugrenzen, ist nicht nur dem Zuschauer klar, welche Minderheit er bar des behandelten Romans meint.

So wagt sich schließlich sein Student Kenny (Nicholas Hoult) nicht nur, Falconer an der Universität auf seine bevorzugte Droge anzusprechen, sondern erfragt auch die Adresse des Lehrers im Instituts-Sekretariat, um später wie zufällig in einer Bar in der Nähe aufzukreuzen. Zuvor verbringt George jedoch einen Abend mit Charlotte, die trinkt, bis sie enthemmt genug ist, um sich ihm mit all ihrer Lust und Frustration anzubieten. Und dabei hofft, er sei seinerseits benebelt genug, um sie nicht abzuweisen. Und er tut es doch, hinterlässt sie offen und verletzt, trotz inniger Freundschaftsbekundungen, traurig und sehnsüchtig; er selbst noch im Glauben daran, sie nie wiederzusehen. Denn Zuhause wartet die geladene Waffe, wartet der Anzug, den er für sein eigenes Totenbett herausgesucht hat, liegen die Abschiedsbriefe bereit und wartet ein letzter Moment vor dem Kamin, bevor eine Kugel sein müde gewordenes Hirn treffen soll. Umtriebig von der Erinnerung an seine erste Begegnung mit Jim (Matthew Goode) landet George jedoch in einer Bar, wo er auf Kenny trifft. Die Farbe fällt zurück in die so entsättigten Bilder, der Professor wirkt um Jahre verjüngt, nun, da ein Lächeln seine Züge entspannt und er sich sichtlich angetan dem Flirt mit seinem jungen Schüler hingibt. Die beiden baden im Meer, Kenny wird dabei zum Retter des Älteren, als dieser von einer Welle niedergedrückt wird. Wie zufällig legt Ford dem Schüler die Worte des verstorbenen Liebhabers in den Mund, wandert George wie in Trance hinter dem Jungen über den Strand. Berührung, Begehren und die kribbelige Anspannung vor der ersten leidenschaftlichen Geste liegen greifbar in der Luft, doch der Designer lässt seine Figuren nicht aufeinander prallen, sondern umeinander tanzen.

Es ist ein zartes Andeuten und vorsichtiges Tasten, in dem beide sich verlieren, weil keiner dem Gegenüber zuerst den Blick hinters eigene Visier zugesteht. Die Begegnung schafft, was Freunde, Beruf und vorangegangene Flirts nicht vermochten – sie zieht George zurück ins Leben. Aus dem Off berichtet der Professor von den wenigen Momenten der absoluten Klarheit, die er in seinem Dasein verspürt hat und wie sie ihn aus der Tiefe zurückziehen ins Licht, wo er nun bleiben möchte; bleiben muss, gleichsam – zum Leben verführt. Firth schenkt seiner Figur in all dem eine entwaffnende Zärtlichkeit, in der sich jede Bewegung wie ein Streicheln anfühlt. Als am Ende unerwartet ein Stich Georges Herz durchfährt, trifft dieser den Zuschauer ebenso unvermittelt wie jenen Leinwandhelden, der sich dem Leben doch gerade wieder zugewandt hatte. Durch die Begegnung mit Kenny aber ist ihm ein Abschied in Frieden geschenkt – oder war da vielleicht gar niemand? Und ist der junge Mann am Ende nur eine flüchtige Vorstellung, eine Projektion, mit der George sich aus der Lethargie zu reißen versuchte…

Ich sehe es nicht kommen – aber ich kann es spüren

Lange hat es gedauert, bis „Helen“, das mittlerweile nicht mehr ganz so neue Werk von Regisseurin Sandra Nettelbeck („Bella Martha“) auch in Deutschland in die Kinos kam – am 26. November war es so weit. In ihrem Film zeigt Nettelbeck die Geschichte einer Frau, die scheinbar alles hat – und an einer Depression erkrankt. Für Helen (Ashley Judd) selbst kommt die Krankheit zwar ähnlich unerwartet wie für ihr Umfeld, doch schlussendlich nicht ebenso überraschend: Vor zwölf Jahren war sie bereits einmal wegen einer Depression in der Klinik. Damals scheiterte ihre erste Ehe, inzwischen ist sie wieder verheiratet und ihre Tochter (Alexia Fast) zur Teenagerin herangewachsen.

Helens Depression quält sich aus ihr heraus, und Judd spielt den Zusammenbruch schmerzhaft authentisch. (Foto: Verleih)

Helens Depression quält sich aus ihr heraus, und Judd spielt den Zusammenbruch schmerzhaft authentisch. (Foto: Verleih)

Für ihren Mann David (Goran Visnjic) bricht mit der Diagnose eine Welt zusammen, den Halt jedoch verliert er erst, als er merkt – er kann seiner Frau nicht helfen. Weil sie sich nicht helfen lassen will, nicht helfen lassen kann. Der einzige Mensch, den sie noch an sich heranlässt ist Mathilda (Lauren Lee Smith), eine Schülerin aus ihrem Musikseminar an der Universität, die sie in der Klinik wiedertrifft. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Freundschaft, die zugleich Mut macht und unendlich traurig – denn sie basiert auf der gemeinsamen Krankheit. Und sehr schnell ist klar, beschließt eine der beiden Frauen, sich in ihr altes Leben zurückzukämpfen, bleibt die andere zurück; weil jede, wenn überhaupt, nur die Kraft hat, sich selbst zu retten.

Nettelbeck nimmt sich unglaublich viel Zeit, ihre Figuren zu entwickeln. Helens Depression quält sich gewaltsam aus ihr heraus, und Ashley Judd spielt diesen Zusammenbruch, die beißende Angst, die erdrückende Traurigkeit, schmerzhaft authentisch. Obwohl Visnjic hinter Judds schauspielerischer Leistung zurückbleibt, überzeugt auch er als überforderter Ehemann, der verzweifelt versucht, seine Frau an der gemeinsamen Liebe oder der Erinnerung daran heilen zu lassen. Aber Helen nimmt weder seine Hilfe noch die der Ärztin an, verlässt das Krankenhaus und verschanzt sich mit Mathilda in deren Wohnung. Es mutet klischeehaft an, dass ausgerechnet eine Begegnung mit ihrer Tochter ihren Überlebensinstinkt weckt und sie dazu bringt, zur Behandlung in die Klinik zu gehen. Doch Judd vermittelt auch diese Wandlung überzeugend und überdies gibt es dem Zuschauer, der sich mit „Helen“ weit auf das schwierige Thema Depressionen einlässt, in diesem aufwühlenden Film ein Stück Hoffnung: Während Mathilda auf der einen Seite über den Selbstmord ihrer eigenen Mutter nie hinweggekommen, sondern daran sprichwörtlich kaputtgegangen ist, sieht Helen in ihrer Tochter den Grund, den sie brauchte, um gegen ihre Krankheit anzukämpfen.

Nettelbecks Film versucht nicht zu erklären, weil es nichts zu erklären gibt; er belehrt nicht, sondern lässt den Zuschauer mitfühlen – die Ohnmacht der Betroffenen ebenso wie die ihrer Mitmenschen. Das basse Erstaunen des Umfelds darüber, warum es gerade diese offenbar glückliche und erfolgreiche Frau getroffen hat: Weil es eben jeden treffen kann. In ruhigen, kühlen Bildern, die wie ein Seelenspiegel Helens wirken, ohne dabei zu dramatisieren oder zu überzeichnen, gleitet der Zuschauer durch die Gemütszuständer der Protagonistin, fühlt und leidet mit ihr und bekommt zudem speziell in der Verzweiflung ihrer Tochter die unbarmherzige Wucht zu spüren, mit der die Depression auch die Angehörigen der Erkrankten trifft. Ein sehr empfehlenswertes Stück Kino zu einem wichtigen Thema.

Buddenbrooks: Das große Gähnen

Bei einer Literaturverfilmung stellt sich in der Regel die Frage, ob die Romanvorlage filmisch gelungen adaptiert wurde. Es gibt jedoch auch solche, bei denen die Frage nach der Adaption gar nicht erst aufkommt: Schlicht und ergreifend, weil der Film so schlecht ist, dass es nicht interessiert, ob es sich um eine Literaturverfilmung oder ein eigenständiges Werk handelt. In diese Kategorie fällt Heinrich Breloers Verfilmung von Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks“. Ganze 152 Minuten dauert Breloers Film – und doch gelingt es dem Regisseur nicht, auch nur eine einzige Figur im Rahmen dieser Überlänge schlüssig zu entwickeln. So blass bleiben sie alle, dass die Schicksalsschläge, deren Einprasseln in kürzer werdenden Intervallen zuletzt das lange herbeigesehnte Ende des Filmes verkünden, den Zuschauer vollkommen kalt lassen – und das, obgleich er gerade zweieinhalb Stunden mit der Familie geteilt hat.

Keine stimmige Figurenentwicklung
Dabei stellt sich die Frage, ob Breloer nicht in der Lage war, seine Schauspieler zu besseren Leistungen zu motivieren – oder ob der Film schlicht Makel an Berben, Schwarz, Diehl & Co. aufzeigt, die in deren bisherigen Arbeiten weniger auffällig waren? Fast schon ein Ärgernis: Iris Berben als Elisabeth ‚Betsy’ Buddenbrook. Nicht nur, dass die 58-Jährige scheinbar mit dem Vorhaben in die Dreharbeiten gegangen ist, lediglich einen Gesichtsausdruck in diesen Film zu investieren (irgendwo zwischen irritiert und abgestoßen schwankend, die Oberlippe leicht hochwärts gekräuselt) – auch abseits der nicht vorhandenen Mimik bleibt ihr Spiel blass und ausdruckslos. Dasselbe gilt für Jessica Schwarz in ihrer Rolle als Antonie ‚Tony’ Buddenbrook. Von den Scherzen mit ihren Brüdern über die Verzweiflung angesichts der anstehenden Ehe mit dem ihr verhassten Kaufmann Grünlich bis hin zum verstohlen ausgetauschten, ersten und einzigen Liebeskuss der starrköpfigen Tochter schafft die 31-Jährige es nicht, den Zuschauer für ihre Figur zu interessieren. Selbst als Tony am Ende des Films, gebeutelt durch den Verlust von Vater, Bruder und Neffen mit tränenheißen Augen von ihrer Schwägerin Abschied nimmt, lässt ihr Schicksal das Publikum seltsam kalt.

Figuren, die den Zuschauer seltsam kalt lassen. (Foto: Verleih)

Figuren, die den Zuschauer seltsam kalt lassen. (Foto: Verleih)

Nur unbedeutend besser agieren sich die Männer durch diese Adaption ohne Höhen, Tiefen, Plots oder offensichtliches Konzept. August Diehl bewahrt zu viel Distanz zu seiner gebrochenen Figur des Christian Buddenbrook, als dass man ihm dessen Wandlung abnehmen könnte. Mark Waschke überzeugt zumindest als der junge Thomas Buddenbrook, steht aber hilflos der Tatsache gegenüber, dass auch seine Figur nur von Szene zu Szene gehoben wird – und wo das Drehbuch keine Entwicklung der Charaktere vorantreibt, kann ein Schauspieler diese auch nicht auf die Leinwand bringen. Und am Ende schafft es selbst der großartige Armin Mueller-Stahl nicht, seiner schablonenhaften Figur des Johann ‚Jean’ Buddenbrook Leben in die vom Make-Up fest gehaltene Gesichtsmaske zu spielen.

Dialoge aus dem Phrasenschwein
Neben der schlechten Figurenentwicklung und damit einhergehender, mangelhafter schauspielerischer Leistung ist die Sprache ein großes Problem dieser Literaturverfilmung. So recht konnten sich Breloer und sein Co-Drehbuchautor Horst Königstein offenbar nicht entscheiden, wo sie ihre Filmsprache ansiedeln sollten. Beim Versuch, die Dialoge irgendwo im Spannungsfeld zwischen dem Mann’schen Original und einem heutzutage gängigen Sprachduktus einzuordnen, kommt ein grauenvolles Wechselspiel von Phrasen und Stereotypen heraus, das nicht selten ins Lächerliche abgleitet. Ähnliche Einordnungsprobleme bereitet das Setting des Films. Natürlich ist im Grunde klar, wann dieser zu spielen hat und der Ausstattung lässt sich auch kein Vorwurf machen. Die Städte, die Häuser, die Kleider, die Einrichtung – all das darf man getrost als gut recherchiert und in jedem Fall ansprechend aufgemacht bezeichnen. Und doch springt auch hier der Funke nicht über.

Filme wie „Der Kaufmann von Venedig“ mit Al Pacino oder „Das Parfum“ von Tom Tykwer sind hervorragende Beispiele dafür, wie Set und Drehbuch atmosphärisch so verdichtet und ineinander gewunden sind, dass der Zuschauer abtaucht in die jeweilige Zeit und erst mit dem Abspann langsam zurückkehrt ins Hier und Heute. Breloer aber gelingt es nicht, ein Gefühl für die Zeit zu vermitteln, in der sein Film angesiedelt ist. Zu sehr am Rande der Geschichte spielt sich der Aufstand der Arbeiter ab, beinahe zufällig wirken die Kostüme der Darsteller und nichts Eindeutiges über die zugrunde gelegte Epoche lässt sich aus dem Familienbild ableiten.

Arroganz der Erzählung
Hinzu kommt eine schlichte Arroganz gegenüber denen, die Manns Roman bis heute nicht gelesen haben, da Breloer sich im Grunde auf eine lose Aneinanderreihung von Szenen und Motiven beschränkt, die den Niedergang der Familie Buddenbrook maximal andeuten, nie aber wirklich erzählen. Natürlich kann (und soll) eine Literaturverfilmung nicht das Abbild der jeweiligen Vorlage sein, weshalb es sich empfiehlt, klare Schwerpunkte innerhalb der Erzählung zu setzen und andere Aspekte (und durchaus auch Figuren) zu vernachlässigen. Hier erweist sich das Drehbuch aber als nicht konsequent genug, zudem scheitert Breloers Film daran, Wege zu finden, bildlich Ausgelassenes mit anderen Mitteln einfließen zu lassen oder eine eigenständige, in sich stimmige Geschichte zu erzählen.

Unverständlich außerdem, warum der Regisseur sich durchaus gängigen Erzählhilfen offenbar verschließt, wie beispielsweise einer Einblendung hier und da, wie viele Jahre zwischen einer dunklen Ab- und einer hellen Aufblende vergangen sein sollen. Da seine Figuren bis kurz vor Ende des Films optisch kaum altern, wäre dies durchaus nicht fehl am Platz gewesen, um eine bessere zeitliche Einordnung der Geschehnisse zu ermöglichen. Ganz grauslich fallen schließlich einzelne Szenen auf, beispielsweise als Tony (und später Hanno) im Dachstübchen die Geschichte ihrer Familie lesen und dabei von einem Stimmengemurmel umwabert werden, das stark an Harry Potter erinnert. Diese verstärken den ohnehin immer wieder aufkommenden Eindruck, man habe es mit einer Produktion aus den frühen 1980er Jahren zu tun, die man technisch und erzählerisch doch längst überwunden zu haben glaubte.

Brilliante Bilder
Was dem Zuschauer schließlich positiv in Erinnerung bleibt nach zweieinhalb Stunden Langeweile ist das zumeist hohe bildliche Niveau der erzählerischen Ödnis. Kameramann Gernot Roll schafft es immer wieder, durch einzelne Bilder einen kurzen Moment zu schaffen, in dem es dem Film doch gelingt, zu berühren. Sein Schwelgen in Naturaufnahmen, wie beispielsweise Thomas Buddenbrooks Fahrt durch die Roggenfelder, bleibt einem dabei ebenso im Gedächtnis wie brillante Nahaufnahmen. So erinnert sein Blick auf die Figuren bisweilen an die großartigen Bilder Sven Nykvists in Ingmar Bergmans „Fanny und Alexander“, beispielsweise die Beobachtung des kleinen Hanno am Eingang zum Salon, in dem sein Vater aufgebahrt liegt. Weiter ist dann aber auch leider über den Film nichts Positives zu berichten.

Buddenbrooks
Buch: Heinrich Breloer (Adaption)
Regie: Heinrich Breloer
Darsteller: Iris Berben, Jessica Schwarz, Armin Mueller-Stahl
Deutschland, 152 Minuten, FSK: 6