Music was my first love: Liebe, ein Soundtrack

111 Himmel

20. Grund
Weil wir nicht mehr voneinander verlangen als ein wenig Zeit

Kris Kristoffersons Help Me Make It Through The Night, erstmals veröffentlicht auf dem 1970er Album Kristofferson, gehört zu jenen Liedern des Musikers, die in den Versionen anderer Künstler mehr Bekanntheit erlangt haben als in seiner eigenen – Cover haben unter anderem Lynn Anderson, Sammi Smith oder June und Johnny Cash aufgenommen. Es ist ein Umstand, den der Texaner nie bedauert hat, zumindest, wenn man seiner Aussage Glauben schenkt, sämtliche Musiker, die neben ihm seine Songs gespielt haben, hätten das besser getan als er selbst. (1) Letztlich sind viele der Lieder quasi zu Kristofferson zurückgekommen – wenn er heute auf Tour geht, gehören diese Hits selbstverständlich dazu, allen voran Me And Bobby McGee, das in der Version von Janis Joplin Weltruhm erlangte.

Kristofferson ließ sich beim Militär zum Hubschrauberpiloten ausbilden – sein Vater hatte Karriere bei der Armee gemacht und den Sohn von klein auf in diese Richtung gedrängt. Der verließ die Armee mit Ende 20 wieder, um sich der Umsetzung seines Traums zu widmen – dem Songschreiben. Kristofferson hielt sich in dieser Zeit in Nashville mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitete unter anderem als Hausmeister in den Columbus-Studios oder als Pilot. In dieser Zeit schrieb er auch Help Me Make It Through The Night – auf einer Ölplattform, wie er einmal in einem Interview verriet; es war nicht der einzige Song, der dort in dieser Zeit entstand. (2) Die Inspiration für das Lied lieferte ihm eine Antwort Frank Sinatras auf die Frage, woran er glaube, in einem Interview des Künstlers 1966 mit der Zeitschrift Esquire: „I’m for anything that gets you through the night, be it prayer, tranquilizers or a bottle of Jack Daniel.“ (3) – Häufiger findet sich das Zitat in einer abgewandelten Fassung: „Booze, broads, or a bible… Whatever helps me make it through the night.“ (4)

 

Im Original ist also von Frauen gar nicht die Rede, was der Grund für die Variation des Zitats im Zusammenhang mit dem Song sein dürfte, geht es darin doch um einen Erzähler, der sich wünscht, mit der Frau, für die er singt, durch die Nacht zu kommen: „Come and lay down by my side, till the early morning light. All I’m takin’ is your time. Help me make it through the night.“ (5) Kristofferson sang das Lied Anfang der 1970er häufig mit seiner damaligen Ehefrau Rita Coolidge – die Konzertaufnahmen der beiden sind eine perfekte Erklärung dafür, warum der Song bei einer Zusammenstellung der „Top 20 Sexy Country Love Songs“ den vierten Platz erreichte: Zwischen den Eheleuten brennt dermaßen die Luft, dass es beim Zuschauen ein ums andere mal erstaunt, wie sie es bis zum Ende ihres Vortrages schaffen, ohne einander die Kleider vom Leib zu reißen – oder in eine innige Knutscherei zu verfallen.

Tina Dico: Elfenbesuch im Mainzer Schloss

An der Stirnseite des abgedunkelten Saals im Mainzer Schloss liegt die Bühne in grünblauem Licht. In dessen sanften Schimmer tritt ein wenig unbeholfen ein kleiner Junge, um jene, die sich trotz Novemberniesel an diesem Sonntagabend aus der Wärme ihrer Wohnungen gewagt haben, zu fragen, ob sie schon mal von den Färöer Inseln gehört haben? Sie sind die Heimat des Jungen, der in Wahrheit schon ein Mann von 37 Jahren ist und sich als Teitur vorstellt, bevor er dem Klavier seltsame Töne entlockt, mit denen er die klugen Songtexte begleitet, die brüchig aus seiner Kehle emporsteigen. Und wo man eben noch dem Gedanken nachjagte, dass in der Fußballstadt Mainz der Verweis auf vergangene Länderspiele bezüglich seiner Heimatinseln irgendwie naheliegend gewesen wäre, sind plötzlich alle Bewegungen des Denkens verschwunden, haben Platz gemacht für die Bewegungen des Herzens, in dessen Resonanzraum die Worte und Klänge des Musikers widerhallen.

Tina Dickow bei einem Konzert in Aaalborg. (Foto: Simon Wedege Petersen, CC BY-SA 3.0)

Tina Dickow bei einem Konzert in Aaalborg. (Foto: Simon Wedege Petersen, CC BY-SA 3.0)

Ein wenig fühlt sich dieser Abend schon bald an, als habe man sich in einem Märchenwald verlaufen. Auf dessen Lichtung tritt nach dem kleinen Hobbit Teitur die wunderschöne Elfe Tina Dico. Deren dick geflochtener, hellblonder Zopf liegt in einem sanften Bogen auf ihrem kornblumenblauen Kleid und scheint auch dann um keinen Zentimeter zu verrutschen, wenn die Dänin den Kopf zurückwirft und lacht, tanzt oder mit den Händen durch die Luft wirbelt – Dinge, die sie häufig tut im Verlauf ihres Konzerts. Wie seltsam passend das ist, die klare, ehrliche Fröhlichkeit der Musikerin zwischen den häufig tieftraurigen Songs. Wie wohl diese Harmonie der scheinbaren Gegensätzen tut, und wie sich manchmal eben doch alles fügt.

Dico wandert durch die Labyrinthe menschlicher Emotionen in ihren Liedern. Es war Nick Cave, der einmal gesagt hat, wahre Liebeslieder seien deshalb selten, weil die meisten Künstler sich nicht an die bleierne Trauer wagten, die ihnen ebenso innewohnen müsse wie das tanzende Glück, damit sie funktionieren, etwas zu sagen haben. Unter den ruhigen Händen der Dänin aber wird Song um Song Brustkorb für Brustkorb geöffnet, um bezaubernde Momente mit derselben zarten, Selbstverständlichkeit ins gedimmte Licht zu befördern wie schmerzhafte Erfahrungen. Und immer ist eine große Wahrhaftigkeit dabei im Spiel, und nie gleitet die Musikerin ab in lästige Klischees oder lärmendes Pathos.

Tina Dico singt von der Kunst, sich einem Anderen hinzugeben („The Woman Downstairs“) und der Bedeutung gewachsener Freundschaften („Old Friends“) ebenso wie von den kleinen und großen Revolutionen, die heute häufiger fehlen denn tatsächlich stattfinden („No Time To Sleep“). Sie singt unterstützt von ihrer feinen Band und im Duett mit ihrem Mann, dem Musiker Helgi Jónsson. Alleine, auf einem kleinen Hocker inmitten der Bühnenlichtung, zu den Posaunenklängen, die Jónsson seinem Instrument entlockt, mal ruhig und träumerisch mit eindeutigen Folkanklängen, dann wieder überwiegen rockige Elemente, und um sie herum wechseln ihre Musiker von einem Instrument zum anderen, um jedem Song die passende Begleitung mitzugeben.

Ein Geschenk sei es, in diesem wundervollen Saal vor ausverkauftem Publikum zu singen, sagt Tina Dico und erklärt, es fühle sich nach einigen Konzerten in dieser Stadt bereits an, als ginge ihre Beziehung mit Mainz „way back“ – das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Orte, an denen sie sich aufhält und bewegt, spielen eine Rolle im Leben der Liedermacherin und finden Eingang in ihre Songs. Das wird nicht nur aus ihren Erzählungen deutlich, sondern spiegelt sich auch wider in ihren Texten, wie beim sehnsuchtsvollen Klassiker „Room with a View“ oder dem relativ neuen „Drifting“, entstanden auf Island, der „kleinen, dunklen Insel im Nordatlantik“, auf der sie mit ihrer Familie lebt. Und natürlich in der Liebeserklärung an ihre alte Heimat, „Copenhagen“, die, wie sie selbst sagt, jeder Stadt gelten könne, die ein Mensch im Herzen trägt.

„I’ve never seen you look this bright / just awaken from the beauty snooze you took last night. / Oh, this tingling feeling / to be the blood inside your veins / I’ve been leaving believing / I could find a better place. / And all this time you were right here.“ – Ist nicht genau das der besondere Zauber von Orten, dass sie uns immer bleiben, auch wenn wir ihnen für einige Zeit den Rücken zukehren? Und mit dem gemeinsam gewisperten „right here, right here“, das Dico behutsam dirigiert, teilt der Chor im Dunkel des Saals mit der Künstlerin im Licht der Bühne ein Geheimnis, das weit über diesen Abend hinaus geht.

An dessen Ende schließlich holt Dico bei der Zugabe auch Teitur noch einmal auf die Bühne und gemeinsam stimmen die Musiker seinen Song „All My Mistakes“ an, in dem es heißt: „Because of faith, because of courage / because of forgiveness / all my mistakes have become masterpieces.“ Zauberhafte Momente lassen sich nicht beschwören und schon gar nicht erzwingen, aber manchmal perlen sie einen ganzen Abend lang um uns herum, damit wir sie einsammeln können und ihnen in den Tiefen unserer Hosentaschen nachfühlen, wenn wir wieder hinaustreten ins Novembergrau.

I saw God and he dyes his hair

Nick Cave sieht aus, als sei er aus Lakritz. Entwirrt aus einer großen, schwarzen Schnecke, deren beide dürre Fäden man voneinander gelöst hat, um seine Arme und Beine daraus zu bauen. Unfassbar lange Arme und Beine, die immerzu in Bewegung sind, hüpfen und springen, sich dehnen und Entfernungen überwinden, die einen. Beschreiben, aufzeigen, wirbeln oder sich um Warren Ellis wickeln, wenn der seiner Geige wieder Überirdisches wie selbstverständlich entlockt hat, die anderen. Lakritzmännchen.

Eine Bühne voller Lakritzmännchen.

Eine Bühne voller Lakritzmännchen.

Als kleines Mädchen habe ich Lakritze geliebt, längst aber die Begeisterung an ihrem seltsamen Geschmack, der sich nicht beschreiben lässt, verloren. So, wie man unterwegs diese strahlende Weihnachtsbaumbegeisterung verliert, die kindliche, absolut ungetrübte, die den vorangegangenen Moment schon vergessen hat und noch nichts weiß von dem, der folgen wird. Eine offen daliegende, schutzlose Emotionalität, verwundbar und naiv, erkennbar bloß an den weit aufgerissenen Augen der Kinder, die sie durchflutet; Augen, die das auslösenden Moment tief und ganz und gar in sich aufnehmen wollen.

Dieser Abend schenkt mir Weihnachtsbaumbeigeisterungsaugen, aus deren weiten Wänden ich in die Dunkelheit der Stadthalle Offenbach schaue und die fließenden Bewegungen des Lakritzmännchens verfolge. Seiner Stimme lausche, die mal zart durch den Saal fließt, um sich dann wieder mit zitterndem Druck in jedes Ohr zu pressen. Jede Bewegung, jeder Song sinkt ein in die staunende Begeisterung, macht sich auf die Reise durch meinen Körper, mein Bewusstsein, als willkommener Gast, dessen Präsenz noch lange nach seiner Verabschiedung in der eigenen Wohnung zurück bleibt.

Nick The Bat Cave in Aktion. (Fotos: WP)

Nick The Bat Cave in Aktion. (Fotos: WP)

Wie den Schatten einer Fledermaus wirft die Bühnenbeleuchtung Caves Bild an eine Wand der Halle, während der sich neben der aktuellen Platte vor allem durch seine älteren Stücke singt, stöhnt und schreit, die ihre Reise über Jahre und Jahrzehnte allesamt gut überstanden haben und scheinbar nicht nur ihre eigene Geschichte erzählen, sondern auch die der Zeiten, die sie hinter sich gebracht haben. Jedes Stück kommt richtig und passend; eigene Lieblinge fehlen, aber so ist das immer, und deswegen nimmt Cave sogar Wünsche entgegen, ganz der charmante Gastgeber, der die DJs dieser Welt niemals sein wollen. Anderthalb Stunden, ein Blinzeln, ein glückliches. Eingeflossen in die vielen Moment der Vorfreude auf dieses Konzert, verlängert durch eine Zugabe und danach sicher im Herzen nach Hause getragen. „And some people say that it’s just rock’n’roll. Oh, but it gets right down to your soul.“

Kris Kristofferson in Frankfurt: Help me make it through the Night

Yeah, alright: „Don’t judge a book by its cover“, so heißt es. Und das ist ja auch richtig, aber ganz ehrlich – da kommt dieser kahlrasierte Typ in die Frankfurter Jahrhunderthalle. Arme tätowiert, Hände tätowiert, am Hals hochtätowiert bis zu den Ohren. Und sagt ehrfürchtig zu seiner Begleitung: „Ich hab’ schon am ganzen Körper Gänsehaut.“ Worauf der Kumpel stumm nickt und wiederum der Tätowierte spricht: „Ich glaub’, den Abend krieg’ ich nicht rum, ohne zu heulen.“ Äh? Der Mann, der solche Reaktionen bei seinem Publikum hervorruft, noch bevor er jemals die Bühne betreten hat, ist Kris Kristofferson – und die Runde, vor der er in Frankfurt spielen wird, mit illuster gut beschrieben: Zwischen die obligatorischen Cowboyhüte und -stiefel in Braun, Schwarz und Gold mischt sich eine Gruppe, die ausschaut, als komme sie gerade von einem Date mit Elvis Presley. Alte Damen, wackelig und gebückt an Stöcken auf dem Weg zu ihren Sitzen, nehmen Platz neben Popcorn kauenden Kerls, und Damen mit schweren Perlenketten sitzen bei Altrockern mit langem Silberschweif.

Mit seinen alten Hits und dem neuen Album auf Tour: Kris Kristofferson.  (Foto: KK Records)

Mit seinen alten Hits und dem neuen Album auf Tour: Kris Kristofferson. (Foto: KK Records)

Silber ist mit seinen 76 Jahren längst auch der Mann auf der Bühne – dazu bei allem Glauben auch abergläubig: Seit Jahren beginnt er jedes seiner Konzerte mit „Shipwrecked in the Eighties“; bringt Glück. Irgendwie könnte er aber auch den Titelsong der Teletubbies singen (haben die einen Titelsong?), das Publikum ist so oder so von der ersten Sekunde an verliebt. Und ja, es gibt etliche Künstler, die mit ihrem Publikum umgehen können, aber nein, verliebt ist trotzdem nicht zu hoch gegriffen – es könnte einem vielmehr schon fast unheimlich werden dabei, wie sehr hier gemeinsam geschwelgt wird. Und mit dem beschleunigten Herzschlag dieses Abends ließe sich ohne Probleme über einen sehr kalten Winter kommen. Als der Texaner mit „Here Comes that Rainbow again“ seinen gerademal vierten Song anstimmt, wird im Auditorium schon erstmals schüchtern mitgesungen und gebrummelt. So anrührend die Story, angesiedelt in einem Truck-Stop, so ehrlich der Vortrag; in den kurzen Pausen, die Kristofferson macht, vernehmliches Schneuzen, gemischt mit verzückten Seufzern. Das klingt übertrieben? Und ist doch erst der Anfang.

Bei Klassikern wie „Help Me Make it through the Night” oder „Nobody Wins” („But Obama won, which means: We all win!“) wird der ergraute Musiker auf der Bühne von einer Welle der Zuneigung und Euphorie umspült. Die Reaktion auf neuere Stücke wie „Closer to the Bone“ fällt kaum weniger begeistert aus. Dazu immer wieder murmelnde Anerkennung für die Textnetze, die Kristofferson mit leichter Hand über seinem Publikum auswirft: „One more Rainbow for the Road“ (This Old Road)… „I may never get to Heaven, but I’ve seen a lot of Stars“ (The Heart) – und die trockene Feststellung des gläubigen Christen: „You don’t have to be as good as Jesus – you just have to ask yourself: ‚How would Gary Cooper handle it?‘!“

In der Pause („Do whatever you do in an intermission, they asked me to give you one! “) – noch mehr Cowboystiefel und strahlende Gesichter. „Das tut mick so wunnebah!“, erklärt ein Native-English-Speaker seinem Sitznachbarn, der erwidert: „Da hätte man echt was verpasst, wenn man heute nicht hier gewesen wäre.“ Dazwischen unzählige „Ohs“ und „Ahs“ und immer wieder die simple Feststellung: „Der ist einfach so toll.“ Einer, der mit 76 Jahren nichts verlernt hat. Den das Leben ruhiger gemacht hat, ohne sein Feuer ausgehen zu lassen. Der spürbar erfüllt ist von einer tiefen, ehrlichen Dankbarkeit darüber, wohin dieses Leben ihn getragen hat. Und der in der Lage ist, in anderen so viele Gefühle zu wecken, weil er sie in sich trägt – der nichts tut, als seinen Herzschlag zu übertragen auf die Menschen um sich herum. „Like a Bird on a Wire, like a Drunk in a Midnight Choir, I have tried in my Way to be free“ – diese Songzeile Leonard Cohens will Kristofferson dereinst als Inschrift auf seinem Grabstein wissen. An diesem Abend steht ein Mann auf der Bühne, der seine Freiheit gefunden hat – und sein Glück.

Konzertbesucher: Eine Typologie

Bei Konzertbesuchen kann man sich eigentlich gar nicht in die Nesseln setzen: Mit etwas Glück ist die Musik gut und man genießt einen schönen, vielleicht sogar besonderen Abend. Ist der Bühnenauftritt des Künstlers wenig anregend, kann man sich die Zeit nebenher damit vertreiben, seine Umgebung zu beobachten. Über die Jahre trifft man so, in ihrer genauen Ausprägung und Anzahl abhängig vom jeweiligen Künstler und dessen Musik, auf die immer gleichen Gesichter. Eine Typologie.

Thank you for the music, Wilco. (Foto: WP)

Thank you for the music, Wilco. (Foto: WP)

Vorband-Ausraster
Für mich sind Vorbands selbst dann eine Qual, wenn ich am Ende des Konzertabends bekennen muss, dass ihr Auftritt besser war als der des Hauptacts. Und es ist mir egal, ob einige große Künstler als Warm-Up für heute längst vergessene Musiker angefangen haben; da bin ich Egoist. Daneben bin ich aber ein höflicher Mensch und klatsche deshalb freundlich, wenn die Vorgruppe einen Song beendet. Vom höflichen Klatschen hat der Vorband-Ausraster noch nie gehört. Er ist schon beim Betreten der Konzerthalle dermaßen euphorisiert, dass auch eine strickende Oma oder ein Seifenblasen pustender Junge auf der Bühne genügen würden, um ihn zu Jubelstürmen zu animieren. Vollkommen ekstatisch beklatscht, bejohlt und behüpft er ab dem Moment, in dem das erste Scheinwerferlicht den Raum erhellt, bis zum Ende des Abends jede Bewegung auf der Bühne. Das ist ein bisschen unheimlich – und sorgt schlimmstenfalls dafür, dass die Vorband eine Zugabe gibt.

Balkon-Bitches (BB)
Es muss wohl mindestens einen mir unbekannten Film geben, in dem der Bühnenstar am Ende des Abends ins Publikum deutet. Das Scheinwerferlicht folgt seinem zitternden Finger und verharrt auf einer jungen Frau in der Menge, flackert neckisch auf ihrem tiefen Dekolletee und der Künstler gesteht ihr vor allen seine Liebe – oder deutet zumindest an, sie dürfe nachher in seinem Hotelzimmer vorbeikommen. Nur so erklärt sich die Hoffnung derer, die sich – in aller Regel auf der Empore oder Galerie des Konzertsaals – am Geländer drapieren. Alleine, in engen, kurzen Kleidchen, die mehr enthüllen als sie erahnen lassen, hängen die BBs gen Bühne, schmachten, schütteln ihr Haar, lassen die Brüste wogen – und man möchte ihnen zurufen: Mal von der Bühne aus in einen Scheinwerfer geglotzt? Für den Typ da unten bist du nichts als ein Lichtklecks. Doch man schweigt. Höflich.

Plakat-Hochhalter
Nichts gegen ein hübsch gestaltetes Plakat – und es ist mir prinzipiell ja auch egal, von wem meine Banknachbarin ein Kind haben möchte. Aber ob die Werbung den Adressaten tatsächlich erreicht – siehe BBs und die Sache mit dem Scheinwerferlicht…

Getränke-Verschütter
Mir persönlich eine besondere Freude sind Gruppen von sagen wir zehn, zwölf Konzertbesuchern, die sich Stunden vorm musikalischen Anstoß ein gemeinsames Plätzchen suchen – und dann im Zehnminuten-Takt einen aus der Gruppe für alle zum Bierholen schicken. Da selten eine ausgelernte Oktoberfest-Fachkraft darunter ist, kommen von den georderten zwölf Bieren in der Regel etwa die Hälfte halbleer an, der Rest klebt auf Blusen und im Haupthaar der Umstehenden. Das ist umso witziger, wenn der unerwartete Schwall von vorne, hinten oder oben noch mit einem kichernden, „hups, sorry, hattest du heute schon geduscht?“ begleitet wird.

Sitzplatz-Steher
Man kann zu einem Thema ja bekanntlich mindestens zwei Meinungen haben – auch als eine Person. Sprich, wenn zwei dasselbe sagen ist es noch lange nicht das gleiche und ich bin beispielsweise der Meinung, wenn es das Spiel verlangt, ist im Fußballstadion zumindest vorübergehend jeder Sitz- ein Stehplatz. Aber das ist ja auch eine 14-tägig wiederkehrende Veranstaltung, bei der man irgendwann die Nachbarn kennt. Was Konzertsäle angeht, steckt doch ein verdammtes Konzept dahinter, dass Veranstalter neben Stehkarten auch solche für Sitzplätze verkaufen, die in der Regel zudem teurer sind. Denen möchte ja niemand untersagen, zwischendurch für einen Song aufzustehen oder bei der schlussendlichen Zugabe zu hüpfen. Aber wenn jemand direkt beim ersten Lied aufspringt, den Rest des Konzertes seinen Platz nie wieder einnimmt und auf höfliche Bitten der Konzertbesucher hinter sich mit Beschimpfungen dahingehend reagiert, sie sollten sich um einen Platz im Altenheim bewerben – dann kann es sich nur um ein Sitzplatz-Steher handeln.

Geschichtsschreiber
Kein Abend ist so langweilig, als dass es sich nicht lohnt, ihn mindestens achtzigfach abzulichten, zu kommentieren und weiterzuverbreiten. Was den Konzertbesuchern vor 30 Jahren die Wunderkerze, ist heute die Beleuchtung im Handydisplay: Richtig dunkel ist es eigentlich nie im Saal, weil die Generation iPhoneSamsungNokia auch in der Masse nicht alleine sein kann, und erst Ruhe gibt, wenn der letzte Ersatzakku gestorben ist.

Zwangsbegleiter
Zu erkennen am gequälten Gesichtsausdruck. Können den Künstler nicht leiden, haben die Karten aber von der Schwester ihrer Frau zum 12. Hochzeitstag geschenkt bekommen – war natürlich ein Tipp der werten Gattin. Haben aber vor Jahren mal behauptet, Caught in the Act auch toll zu finden und kommen aus der Nummer deswegen nicht mehr raus. Trinken aus Frust so viel, dass sie am Ende des Abends neben ihrer euphorisierten Gattin sofort schnarchend einschlafen.

Vorspielbegleiter
Zu erkennen an ihrem seligen Grinsen. Haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Caught in the Act grauenvoll finden – und sind trotzdem mitgekommen, ihrer Gattin zuliebe. Der haben sie die Karten zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Trinken in Maßen, damit sie am Ende des Abends keinesfalls einschlafen, wenn sie neben ihrer euphorisierten Liebsten auf die Matratze sinken…