Manchmal denke ich an früher und dabei fange ich irgendwo in der Mitte an und wandere dann erst immer weiter zurück und schließlich wieder vor, bis zur Mitte und dann bis heute. Heute, das ist am schönsten. Heute sind du und ich erwachsene Frauen und die Liebe, die wir füreinander im Herzen tragen, ist so sicher und fest, kein Lebenssturm wird ihr je etwas anhaben können. Heute haben du und ich unsere Wege gefunden, einander dabei zur Seite gestanden, unter die Arme gegriffen und uns gegenseitig Probleme aus dem Weg geräumt.
Früher, also ganz früher, ging das auch genauso los, mit dieser großen, unerschütterlichen Liebe. Meine ersten Erinnerungen haben mit dir zu tun. Damit, dass ich von dir erzählt bekomme, noch bevor du da bist. Von meinem Besuch bei dir im Krankenhaus. Weiß ich es tatsächlich noch selbst, wie ich mich an deinem Bettchen hochziehe, um dich ganz genau zu betrachten? Oder haben es mir die Erwachsenen erzählt? Dein Babygeruch. Dein Grinsen. Du musst damit auf die Welt gekommen sein und es hat jeden Raum erhellt, in den du gekrabbelt bist, nachdem unsere Eltern dich mit nach Hause gebracht hatten.
Frühe Kindheit. Du und ich und um uns herum erste Brüche, aber so kompliziert, dass wir uns einfach davon abschirmen. Auf der Straße spielen, erst mit den gelben Dreirädern die älteren Nachbarsmädels verfolgen, dann auf den Fahrrädern zu ihnen aufschließen, schneller, immer schneller, überholend gar, bis du stürzt, über den Lenker fliegst. Du hast mit deinem Gesicht gebremst, sagen die Ärzte damals und die Wunden trägst du lange mit dir herum. Neben diesen äußeren Wunden sammeln wir in jener Zeit innere, weil wir immer mehr von dem verstehen, was die Erwachsenen einander an den Kopf schmeißen, es uns Angst macht davor, wie es weitergeht. Doch da ist immer die Hand der anderen, warm und weich, die eigene umschließend. Geflüsterte Gesten gegen das schwere Herzklopfen. Ich bin da. Dir kann nichts passieren.
Schöne Tage, helle Tage, lachen. Hoffnung. Dunkle Tage, schwere Tage, weinen. Angst. Ich, die ich nicht alleine schlafen mag. Die Wandermatratze, in der Mitte zusammenklappbar, mit der ich abends vor deiner Zimmertür stehe. Ein bisschen verschämt, schließlich bin ich doch die Große. Dürfte ich vielleicht bei dir … Oder, besser noch, würdest du vielleicht bei mir … ? Viele Nächte atmen wir so die Luft desselben Raumes und immer bin ich unendlich dankbar dafür. Wenn die Nacht uns dunkel umschließt, purzeln viele Fragen aus deinem Mund, über unsere Eltern, das Heranwachsen, die Welt, die uns umgibt. Dann bin ich die Große, reiche dir mit Worten meine Hand, so wie du mir zuvor mit deiner Nähe. Und so werden wir älter.
Die Pubertät, eine seltsame Zeit. Für jede von uns anders, nie werden die Unterschiede zwischen uns so deutlich wie damals. Du kostest von der ersten Liebe, ich sitze mit Papis Zigaretten im Kirschbaum und lese Buch um Buch. Beide lernen wir, Fluchtwege zu finden, wenn die Enge zuhause bedrückend wird im Streit der Erwachsenen. Als ich irgendwann müde bin vom vielen Schlichten und Ausbalancieren, flüchte ich für ein Jahr nach Amerika. Wir vermissen einander fürchterlich und die Briefe, die zwischen uns hin und her gehen, kann mein Herz bis heute buchstabieren. Das Wiedersehen ist zart und feierlich, doch die kommenden Jahre werden uns Kraft kosten. Das Ja-Nein-Doch der Eltern, Tränen, Umzüge, Krankenhäuser, Verantwortung und irgendwann auch jede Menge Wut mit dieser Überlastung.
Wir bleiben einander treu und müssen doch stärker kämpfen. Die Wut schleicht sich auch in die Beziehung zueinander und als junge Erwachsene durchleben wir Phasen der Distanz. Und plötzlich stirbt unser Paps. In der dunklen Welle, die droht, uns unter Wasser zu drücken, schwimmen wir aufeinander zu und helfen uns gegenseitig an Land. Ich strecke meine Hand nach dir aus und du nach mir und seither haben wir einander nie mehr losgelassen. Wir haben die guten Phasen gemeinsam genossen und einander in den schwierigen gestützt. Deine Kinder haben unsere Beziehung nochmals vertieft, und wenn ich dich mit ihnen sehe, läuft mein Herz über vor Liebe. Aber auch unsere ureigene Verbindung ist stärker geworden, das Interesse an der anderen noch wacher, das Verständnis füreinander tiefer.
Wir beide haben miteinander gelernt, was Liebe heißt, ein wenig auch an einem hilflos schlechten Beispiel, ja. Aber die Kraft unserer Herzschläge ist Beweis genug dafür, was auch gut war und die Unverdrossenheit, mit der wir an unser eigenes, gutes Ende glauben das Beste, was wir aus dieser wilden Kindheit mitgenommen haben. Du bist herangewachsen zu einer Frau, die bedingungslos liebt, das Leben mit einer Entschlossenheit wuppt, die mich erstaunt und die es geschafft hat, die besten Eigenschaften jedes Elternteils für sich zu adaptieren. Deine Leidenschaft und Hingabe beeindrucken mich, für deinen Mut und die Entschlossenheit bewundere ich dich – und für alles, was du bist, liebe ich dich. Für immer und jetzt.
Es ist unmöglich, im Blog von Andrea Harmonika länger als ein paar Momente zu verweilen, ohne sich in die Autorin zu verlieben. Diese Einleitung in meine Besprechung ihres Buches „Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne“ darf gut und gerne als Warnhinweis verstanden werden. Von einer wie dieser Harmonika, die im echten Leben übrigens ganz anders heißt, kommt man nicht mehr los. Und frau sowieso nicht. Sie ist witzig, warmherzig, klug und schafft es, dem überstrapazierten Modewort authentisch seine einstmals positive Bedeutung zurückzugeben. Sie ist offen und nahbar, ohne sich auf eine Art zu entblößen, die akutes Fremdschämen auslöst, sie ist meinungsstark und politisch, ohne den moralischen Feigezinger* zu heben und steht zu den Pleiten und Verfehlungen ihres alltäglichen Lebens, ohne sich dafür zu schämen, denn wieso sollte sie?
Die Autorin in einer typischen Alltagspose. (Foto: Bastian Sander)
Kurz, in einer von Instagram-Filtern dominierten und doppelt belichteten Onlinewelt ist Andrea Harmonika genau das, was fehlte – zumindest bis 2014. Seither veröffentlicht sie Texte in ihrem Blog, wobei dessen selbstgewählte Einordnung „Unterhaltung auf mittlerem Niveau“ natürlich eine irreführende Koketterie ist. Und wer nun mit den Augen rollt, weil er oder sie das Internet für eine überflüssige Erfindung hält, die sich nicht durchsetzen wird, hat dennoch Grund zur Freude, denn neuerdings gibt es alles, was Frau Harmonika die Herzen seit Jahren im Netz zufliegen lässt, wie erwähnt auch endlich zwischen zwei Buchdeckeln.
In meinem Exemplar beginnt die Wortzauberei mit einer wunderbaren Widmung, die ich allerdings für mich behalte. Da steht nämlich „für Mara“, nicht „fürs ganze Internet“ und manche Zauber sollte man behüten. Verraten kann ich aber, dass sich ein wirklich hervorragender Musikgeschmack der Autorin daraus ablesen lässt, die mit ihren beiden Söhnen sowie dem Ehemann – und neuerdings einer tierarztintensiven Katze – in Norddeutschland lebt. In ihrer spärlichen Freizeit beklebt sie gerne Alltagsgegenstände mit Wackelaugen oder geht schwimmen, was besonders hervorzuheben ist, weil sie erst im hohen Alter das Seepferdchen nachgeholt hat. Und das nach einem Sprung vom Einmeterbrett, für den sie drei Jahrzehnte Anlauf brauchte – was die „Arschbombe“, wie der Text zum Erfolgserlebnis heißt, umso schöner macht.
Wie viele seiner kurzweiligen Kollegen ist der herrlich komisch, aber eben nicht nur das. Daneben steckt auch viel Weisheit in Harmonikas Worten, darüber nämlich, wie Kinder zweifeln und Erwachsene verzweifeln, sich dabei munter abwechseln und wie die Dötze angstfrei lernen, ohne das Gefühl zu bekommen, irgendwer nimmt ihnen am Ende immer alles ab, worauf sie keinen Bock haben. Das parabelt sie ganz wunderbar um ihre eigene, fiese Sportlehrerin und die souveräne Schwimmtrainerin ihres Sohnes herum und nimmt dabei jeden mit, der irgendwie mit Kindern zu tun hat, seien es eigene oder angeheiratete oder die, denen man im Berufsalltag begegnet.
Sowieso bleibt ihre Kinderbetrachtung nicht ausschließlich bei der eigenen, mütterlichen Sicht, sondern blickt sie als „Fisimatante“ auch zurück auf die Juxereien mit den Neffen, bevor sie selbst Mama wurde, und lässt ihre LeserInnen teilhaben an der Beziehung zu ihrer Mutter und nach und nach dem ganzen Familienclan. Wobei die Frauen durchaus eine besondere Rolle spielen, denn schreiben soll man schließlich über das, was man kennt. Und obwohl die Autorin zuhause lediglich katzenseitig weibliche Unterstützung hat, ist sie eben selbst eine Frau und glücklicherweise eine, die sich mit den Themen, die ihre Geschlechtsgenossinnen beschäftigen, auseinandersetzt.
Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne. (Foto: WP)
Der Text „Deine Mudda – Ein Pressedrama“, in dem sie sich bereits im Blog mit den Anforderungen an Frauen im Allgemeinen und Mütter im Speziellen beschäftigte, ist einer der stärksten auf den 252 Seiten ihres Buches. Doch auch die leisen Töne beherrscht Andrea Harmonika, zum Beispiel, wenn sie über die Tochter schreibt, deren Herz in der 14. Schwangerschaftswoche aufgehört hat zu schlagen – und sie ganz entschieden daran erinnert, dass Familienplanung Privatsache ist, kein Smalltalk-Thema. Oder wenn sie sich dem Gefühl der mütterlichen Überforderung widmet, über das Frauen endlich miteinander sprechen, statt sich in ihren Versagensängsten noch gegenseitig aufzuputschen.
Nach den leisen Tönen kommen natürlich wieder laute, im Zweifelsfall aus der geneigten Leserin, die auf dem Sofa begeistert prustet bei der Lektüre der „Pfadfinder-Leistungskategorieren“, angepasst ans Leben mit Kindern, beim neu aufgelegten „Krieg und Frieden“, diesmal zwischen Geschwisterkindern, oder dem Wiedereinstieg ins Partyleben unter dem herrlichen Titel „Nicht ganz bei Prost“. Insgesamt gibt’s für den verdammten Zauber eine verdammte Leseempfehlung mit Sternchen und wieder und weiter ganz viel Liebe für die wunderbare Andrea Harmonika.
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*Das muss natürlich Zeigefinger heißen, aber ich fand, der Verschreiber hat einen gewissen Charme, darum habe ich ihn erhalten.
Heute vor 13 Jahren hast du morgens zum letzten Mal die Augen aufgeschlagen. Wenn ich meine schließe, dann kann ich dich in dem lichtdurchfluteten Schlafzimmer mit der Schräge unterm Dach deines Häuschens sehen. Hier wolltest du, der so mutig war, mit 68 einen neuen Anfang zu wagen, noch einmal glücklich sein – doch das Leben hatte andere Pläne. Und statt ein paar Tage später mit dir zu feiern, dass nun endlich alles einen Platz gefunden hatte im neuen Zuhause, räumten wir Geschwister kurze Wochen nach dem Umzug deine Sachen in Kisten und teilten das, was dir am liebsten gewesen waren, als Erinnerungen unter uns auf.
In den ersten Jahren nach deinem Tod wuchs dieser Tag, an dessen Ende du neben einer Tanzfläche zusammengebrochen bist, wo die Ersthelfer dich nicht retten konnten, sich zu einer vollen Woche, manchmal dem ganzen Januar aus in seiner Bedeutung. Er schlich sich an, besprühte uns mit seinem eisigen Nebel und wickelte uns ein mit seiner Dunkelheit. Er stach Kummer wie kleine Eiszapfen in unsere Herzen, die verstummten im Angesicht deines Todes. Wir Geschwister waren füreinander da, fanden Trost in den Armen der anderen, die ohne dich nicht in der Welt wären. Doch spürten auch schmerzhaft das Fehlen der zweiten Hälfe: Von all dem Scheitern, das wir in den Beziehungen zu unseren Müttern erlebten, war keines größer in seiner Hilflosigkeit, als nicht gemeinsam um dich zu weinen.
Mit den Jahren lernen wir, diesen Tag kommen und gehen zu sehen, ohne daran immer aufs Neue zu brechen. Der laute Ton der Trauer im Verlust ist zu einer Melodie geworden, die im Hintergrund flüsternd spielt. Ein dunkler, ruhiger Ton im Klang der Tage, der nur noch selten anschwillt und alle Aufmerksamkeit fordert. Das vergangene Jahr war so voller Wunder und voller Abschiedskummer, dass mein Herz noch überquillt von seinen gewaltigen Momenten. Und vermutlich liegt es daran, dass sich die Tonfolge dieses speziellen Tages gerade heute mit solchem Fortissimo in mein Herz spielt. Ein letzter Morgen, ein letztes Frühstück. Ein letztes Lachen, ein letzter Tanz. Ein letzter Schritt, ein letzter Atemzug. Vor 13 Jahren. Eine Zahl und darin eine Ewigkeit an Momenten, die wir ohne dich erlebt haben.
Deine kalte, starre Hand in der einsamen Stille der Leichenhalle. Dich zu sehen, deine Hülle, dich schon zu vermissen, dein Herz, das nicht mehr schlug unter dem Hemd, das dir fremde Hände übergestreift hatten für die letzte Reise. Die dich für immer von uns fort führte und uns doch nicht trennen kann von der Liebe, die dein Herz angetrieben hat, auch durch die langen Jahre deiner Krankheit. Der du ins Gesicht gelacht hast, als sei nichts dabei. Als sei das nicht die größtmögliche Ironie, dass dieses Organ so stark ist in seiner Liebe, aber von schwacher Konstitution. Doch eine solche Denke war dir fremd. Du hast dich nie bestimmen lassen von der Krankheit, bist ihr mutig entgegengetreten und hast uns aufgefordert, es dir gleichzutun.
Manchmal habe ich diese Kompromisslosigkeit gehasst, an der wir wachsen, die uns stark machen sollte. Ich wollte noch nicht stark sein, mich lieber hinter deinem Mut verstecken, dich die Kämpfe austragen lassen, die das Leben mir ausrichtete. Du hast mir den Rücken gestärkt und meine Hand gehalten, wenn der Moment neu und bedrohlich schien. Du hast die Hand kopfschüttelnd hinterm Rücken versteckt, mir Mut zugeflüstert und den einen Schubs gegeben, den es brauchte, damit ich Herausforderungen alleine meistere. So, wie du vor keiner Aufgabe zurückscheutest, hast du auch uns alles zugetraut. Und mal war das Fluch, aber viel öfter war es Segen, den ich noch heute spüre, wenn das Leben mich fordert.
Beziehungen werden vom Leben geformt, nicht dem Tod. Du bist Konflikten und Streit nie aus dem Weg gegangen. Mir hat das auch Angst gemacht, in unserer Rohrspatzverwandtschaft, wenn wir miteinander in den Ring gestiegen sind. Was, wenn wir uns nach dem Kampf nie wiedersehen? Du hast das nicht gelten lassen, weil die Liebe sich doch nicht definiert über einen letzten geteilten Moment. Uns hat das Leben beschenkt mit einer liebevollen letzten Umarmung, gemurmelten Dankesworten und einem unverhofften Telefonat, nur Stunden vor deinem letzten Atemzug.
Und doch hat mein Herz diese Scheu vor Konflikten nie ganz abgelegt, den Moment der Furcht, ein gestrittenes Wort könnte den letzten Punkt setzen. Nach deinem Tod habe ich in Endlosschleife „Ich werde mein Leben lang üben, dich so zu lieben, wie ich dich lieben will, wenn du gehst“ gehört und die Zeile ist mir geblieben mit ihrem einfachen, ernsten Wunsch, Liebe zu den Herzmenschen immer zu pflegen, wachsen zu lassen und sorgsam zu behüten.
Ich bin gewachsen an deinen Erwartungen. Du hast mich stark gemacht mit deinem Mut. Und doch durfte ich immer schwach sein bei dir. Deine Liebe hat keine Forderung gestellt. Jede Träne hast du aufgefangen mit deinen großen, weichen Händen, von denen eine ganz besondere Wärme ausging. Jedes Glück hast du vermehrt mit deiner ganz besonderen Art, dich zu freuen, die ganz ruhig war, beinahe still, aber ein Feuer entfachte, das hell brannte.
Ich vermisse diese Hände. Ich vermisse dieses Feuer. Und ich vermisse dich. Deinen klugen Witz, deinen Rat. All die Momente, die uns nicht geblieben sind. Und weiß doch, ich kann dich niemals verlieren. Weil die Erinnerung an dich als neues Feuer in mir brennt. Und ein Echo deiner Liebe in jedem Schlag meines Herzens klingt. Ich bleibe immer deine Tochter.
Als meine jüngere Schwester und ich kleine Mädchen waren, gab es beim Sonntagsfrühstück ein Spiel, an dessen Entstehung sich niemand aus der Familie erinnern kann: Wer zuletzt an den Tisch kam, lief im Kreis von Stuhl zu Stuhl und gab den anderen einen Kuss. Wir Mädchen machten uns einen Sport daraus, dass dies unser Paps war. Unter fadenscheinigen Gründen lockten wir ihn zurück in die Küche, wenn er bereits saß, nur um dann an ihm vorbei ins Esszimmer zu stürmen, uns hinzusetzen und lautstark zu fordern, er müsse die Kussrunde abhalten.
Natürlich war ihm klar, was wir da trieben, doch er ließ sich immer darauf ein und hatte vermutlich ebensoviel Spaß wie wir. Ich erinnere mich daran, wie er bei einer dieser Kussrunden scherzhaft nach meinem Kinn griff und mit verstellter Stimme sagte: „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines.“ Was? Er wiederholte den Satz, meine Schwester und ich sahen uns über den Tisch hinweg achselzuckend an: Was meint er? Mein Paps fiel aus allen Wolken: „Was, ihr kennt Casablanca nicht? Dann müssen wir den unbedingt schauen!“
Ich mag damals zehn, elf Jahre alt gewesen sein, meine Schwester entsprechend sieben oder acht und meine Eltern entschieden, sie war noch zu klein, um den Klassiker anzusehen. Ich aber sollte ihn kennenlernen und wir schauten ihn am nächsten Wochenende. An den Film erinnere ich mich weniger als an das gemeinsame Erlebnis und daran, dass ich absolut hingerissen war, wenn Rick (Humphrey Bogart) seiner Ilsa (Ingrid Bergman) den berühmten Satz so lässig zumurmelte.
Meine Mutter freute es jedes Mal, wenn Sam „As Time Goes By“ spielte – und mein Vater war dem Glanz seiner Augen nach zu urteilen verknallt in Ingrid Bergman. Dass die am Ende mit Victor Laszlo (Paul Henreid) in den Flieger stieg, statt bei Bogart zu bleiben, war mir allerdings absolut unverständlich – wer steigt in irgendeinen Flieger, wenn die Alternative lautetet, mit Mister Superlässig zu leben?
Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich den Klassiker erneut sah. Dabei feststellte, das gezeigte Casablanca wurde hauptsächlich im Studio zusammengebastelt. „As Time Goes By“ ist auf Dauer nicht halb so romantisch wie nervtötend – und viele Dialoge wirken arg zusammengeschustert. Eigentlich lebt der Film tatsächlich nur von der berühmten Zeile: „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines.“ Und das gilt nur für die deutsche Fassung, denn das berühmte Zitat verdankt „Casablanca“ seinen Übersetzern – und einem Zufall.
Im englischen Original spricht Rick nämlich nicht davon, Ilsa in die Augen zu sehen, sondern sagt lediglich: „Here’s looking at you, kid“, ein Satz, den Bogart häufig benutzte, als er Bergman in den Drehpausen Poker beibrachte – und der erst nach einem improvisierten Take im Film landete.
(Aus: 111 Gründe, an die große Liebe zu glauben)
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