Sheriff meines Herzens

Mein Papi hat alte Western geliebt. Und ich fand es wundervoll, sie mit ihm anzuschauen – wie es überhaupt schön war, Dinge nur mit ihm zu teilen. Schon als ich noch recht klein war, begannen mich seine staubigen Cowboystreifen zu faszinieren. So wurden es unsere Western, seine und meine – und gemeinsam haben wir im Lauf der Jahre wohl sämtliche Streifen gesehen, in deren Titel das Wort „Colt“ vorkommt. Ich mochte die dreckigen Helden der Filme, mochte, dass die Guten und die Bösen hier einfach auseinander zu halten waren. Ich fand es cool, wie die Männer mit wettergegerbten Händen ihre Zigaretten hielten, so, wie ich es auch von meinem Paps kannte. Mir gefiel die Musik der Filme, die immer ein wenig fremd klang. Und ich war fasziniert von der Weite des Landes, in dem die Cowboys umherritten. Eines aber beschäftigte mich und ich erinnere mich daran, wie ich das Thema irgendwann aufbrachte, ein wenig unsicher: Was mich an den Filmen besonders beeindruckte war, wie selbstverständlich sich diese Männer vor ihre Familie stellten, wenn Gefahr im Verzug war. Wurde auf einen Menschen geschossen, den sie liebten, sprangen sie mit verzerrtem Gesichtsausdruck und auf eine mir damals noch unverständlich langsame Art und Weise vor den Bedrohten, laut schreiend fingen sie mit ihrem Körper die Kugeln ab und mussten anschließend – meist qualvoll und stark blutend – sterben; nicht ohne zuvor ein paar letzte liebende Worte gurgelnd aus ihrer Kehle gestoßen zu haben.

Du fehlst in jedem Lachen, jeder Träne. (Foto: Andre Müller/pixelio.de)

Du fehlst in jedem Lachen, jeder Träne. (Foto: Andre Müller/pixelio.de)

Mein Vater erklärte mir, es sei selbstverständlich, was diese Cowboys taten – sich zu opfern, wenn es um die Menschen geht die man liebt. „Würdest du dich denn auch vor mich stellen, wenn jemand auf mich schießt?“, fragte ich ihn damals und mein Paps nickte ernsthaft. „Na klar. Vor dich, die anderen drei, vor deine Mami. Auf jeden Fall.“ Und obschon Schießereien zwischen Cowboys im Odenwald der Achtzigerjahre nicht an der Tagesordnung waren, dieses Bild hat mich nie mehr losgelassen und schon damals begriff mein kleines Kinderherz, welche Bedeutung in den Worten meines Vaters lag; dass ich geliebt wurde und beschützt. Umso mehr litt ich darunter zu wissen, ich könnte dasselbe nicht für ihn tun: Für niemanden wollte ich mir Kugeln durch den Körper jagen lassen und so grauenvoll verenden, wie die Cowboyväter in den Filmen, die ich mit meinem sah. Immer wieder erklärte er mir dann geduldig, dass ich das auch nicht musste, denn ich war doch ein Kind, von mir wurde kein Heldenmut gefordert. Das zu wissen tat unglaublich wohl und es erwuchs mir eine warme Zuversicht daraus und aus dem Wissen, dass er mich retten würde – jederzeit.

Heute weiß ich, dass er genau das getan hat, über all die Jahre. Als mein Vater zum ersten Mal krank wurde, hatten alle Ärzte erwartet, er würde sterben. Aber er hat sich ins Leben zurück gekämpft, ist bei uns geblieben – und für uns. Sein Überleben all die Jahre ist auch der Willenskraft zu verdanken, die er hatte. Seinem Kampf, den er immer gegen die Krankheit gefochten hat. Seinem Glauben daran, zu überleben und bei seinen Kindern zu bleiben. Weil wir seines Schutzes bedurften. Wir vier wären ohne ihn nicht zu den Menschen geworden, die wir heute sind. In all dem Chaos, das über die Jahre immer wieder um sich griff war er es, der dafür gesorgt hat, dass unsere Herzen weich blieben. Weil er sie gepflegt hat, uns Liebe beigebracht, Vertrauen und Glück.

Manchmal scheint es fast, als habe er den Zeitpunkt seines Todes gewählt, als habe er in der Zeit zwischen dem ersten Infarkt und seinem Tod, schließlich, immer wieder mit Gott verhandelt, ihm immer neu klar gemacht, dass er noch nicht gehen könnte. Er hat seine Hand über unsere Herzen gehalten und ist so lange an unserer Seite geblieben, bis wir einen Punkt erreicht hatten, an dem wir alleine weiterkommen konnten, ohne ihn; trotz des unendlichen Schmerzes über den Verlust. Er hätte tausend Jahre später gehen können, doch keinen Tag früher.In jener Nacht, bevor er gestorben ist, hat er sich in unsere Träume geschlichen, um uns jedem einen Schutzumhang dazulassen, genäht aus den Fasern seines Herzens. Der hält das Böse von uns fern, nun, da er an einem anderen Ort ist. Den Umhang kann man natürlich nicht sehen. Aber manchmal, wenn ich ganz aufmerksam bin, spüre ich, wie er sanft über meine Schulter streift. Und fühle mich sicher in seinem Schutz.

220 km/h

Als ich ein kleines Mädchen war, erschien mir alles so groß. Mein Bett war groß, so groß, dass ich es mit ungezählten Plüschtieren anfüllen musste, um mich darin nicht einsam zu fühlen. Für andere mochte es aussehen, als sei zwischen all den Tatzen und Schnauzen und Fellbäuchen kein Platz für mich, doch ich passte direkt in ihre weiche Mitte. Meine Eltern waren groß. So groß, dass ich beim Reden zu ihnen hinaufschauen musste. Weil mir das nicht gefiel, redete ich mit ihnen am Liebsten dann, wenn wir zu Tisch saßen, denn im Sitzen war der Größenunterschied nicht so auffällig: da in unserer Familie lange Beine zur Standardausrüstung gehören, sind wir Sitzzwerge. Unser Haus war groß, so groß, dass ich meinen Eltern von morgens bis abends die Ohren volljammerte, es sei eine Verschwendung, hier nicht mit mehr Menschen zu leben. Dahinter versteckte sich allerdings keineswegs ein nobler Plan, sondern mein Wunsch nach mehr Geschwistern – oder wenigstens einem Haustier.

Mein Bett war groß, so groß, dass ich es mit ungezählten Plüschtieren anfüllen musste, um mich darin nicht einsam zu fühlen. (Foto: CFalk/pixelio.de)

Mein Bett war so groß, dass ich es mit Plüschtieren füllen musste, um mich nicht einsam zu fühlen. (Foto: CFalk/pixelio.de)

Unser Auto war groß, so groß, dass ich am Liebsten darin gewohnt hätte. Mein Vater fuhr es oft aus der Garage und verschwand damit in die Welt, denn er war beruflich viel unterwegs. Wenn das Auto einmal da war, besuchte ich es gerne in der Garage. Es war dunkelblau und sehr edel. Ich mochte den leichten Schimmer seines Lacks und fuhr gern mit den Fingern sanft darüber. In seinem großen Bauch hatte es schwarze Sitze aus glattem Leder, die im Sommer von der Garage angenehm kühl blieben und im Winter mit einem magischen Knopf angewärmt werden konnten. Manchmal, wenn mein Vater den größten Teil des Tages im Büro gearbeitet hatte und erst am Nachmittag zu einem Kunden fuhr, der noch dazu in der Nähe wohnte, durfte ich ihn auf seiner Fahrt begleiten – natürlich nur, wenn meine Hausaufgaben erledigt waren und ich Zuhause nicht gebraucht wurde. Dann verschwand ich mit ihm im großen Bauch des blauen Autos und wir fuhren zusammen die schmalen Gassen und einspurigen Straßen aus unserem Heimatfleck hinaus. Dazu hörten wir hr4, wünschten uns, wie Gitte Haenning, einen Cowboy als Mann – oder gingen mit Peter Maffay über sieben Brücken.

Wenn wir etwa eine halbe Stunde gefahren waren, erreichten wir die Autobahn. In meinem Bauch machte sich eine bizzelnde, warme Aufgeregtheit breit, von der mir immer fast ein wenig schwindelig wurde. „Papi, fährst du ganz schnell?“, bettelte ich, sobald wir die mehrspurige Straße unter unseren Reifen hatten. Mein Vater erklärte mir dann, dass er nicht einfach drauflos rasen konnte, sondern wir einen Streckenabschnitt abwarten mussten, der gut einzusehen und wenig befahren war – und ich ließ mich ungeduldig in meinen Sitz zurückfallen. Doch irgendwann kam so ein Abschnitt immer. „Jetzt!“, rief mein Vater, und trat aufs Gaspedal. Ich zuppelte aufgeregt an meinem Gurt, saß erst ganz aufrecht, juchzte vergnügt, drückte mich dann tief in meinen Sitz und genoss mit geschlossenen Augen das kribbelnde Gefühl, das die Geschwindigkeit in meine Magengrube pflanzte. Nur leider war der Rausch immer sehr schnell vorbei, weil mein Vater sich weigerte, die ganze Strecke durchzurasen: „Das ist viel zu gefährlich!“ – aber ich liebte unsere kleinen Sprints.

Irgendwann erreichten wir die Kunden meines Vaters. Es gab solche, bei denen er nur kurz etwas abgeben musste, dann saß ich eine Weile im Auto und wartete auf ihn. Ich drückte meine Backen gegen die schwarzen Sitze, sog den Geruch des Leders ein und begann anschließend, am CD Player herumzuspielen. Dann war mein Vater auch schon zurück am Auto und die Reise ging weiter. Bei anderen Kunden durfte ich mit aussteigen. Sie hatten Probleme mit ihren Computern oder Druckern, die sie bei meinem Paps gekauft hatten, also half er ihnen, sie zu reparieren. Einen dieser Kunden besuchte ich besonders gern, er hatte einen Hund so groß wie ein Pony und so weiß wie Schnee, mit dem ich gern durchs Büro tobte, während die Männer mit ernsten Mienen am Schreibtisch saßen und an Druckern und PCs herumschraubten. Wenn ich mich mit dem Hund ausgetobt hatte suchten wir uns eine Stelle unter den vielen, riesigen Schreibtischplatten, die nicht mit Computerhardware, Mülleimern und Papierboxen vollgestellt war, und legten uns schlafen. Ich drückte mein Nase in das weiche Fell des Hundes, so wie zuvor in die Sitze unseres Wagens – und war bald eingeschlafen.

Wenn mein Vater und der Computerbesitzer alle Probleme gelöst hatten, trennte mein Paps mich auf den Knien rutschend von dem großen, weichen Hund. Er verabschiedete sich dann flüsternd von dem Mann und trug mich zurück zum Wagen, wo er mich auf die Rückbank packte, anschnallte und dann ums Auto herum zum Fahrersitz schlich. Die Heimfahrt verschlief ich meistens, manchmal wurde ich auch wach, stellte mich aber weiter schlafend. Denn wenn ich noch schlummerte, sobald wir am Haus meiner Eltern ankamen, weckte mich mein Paps auch hier nicht, sondern trug mich an meiner spielenden Schwester und meiner lesenden Mutter vorbei in mein Kinderzimmer, wo er mich zwischen all meinen plüschigen Gefährten ins Bett rutschen ließ. Bevor er sich anschließend hinaus schlich, schlang ich einmal meine Arme fest um ihn und küsste ihn gute Nacht. Er lächelte dann, hielt mich fest in seinen starken Papa-Armen und nickte, wenn ich schlaftrunken und flüsternd fragte, ob ich bald wieder mit ihm ausfahren dürfe. Ja, als kleines Mädchen war ich von vielen großen Dingen umgeben. Am größten von allem aber war – mein Paps.

Kandiszucker

Als meine Mutter ein kleines Mädchen war, wohnte sie mit ihren Eltern und Geschwistern neben dem Pfarrhaus. Und weil sie anders war als ihre Geschwister, und wohl auch anders, als ihre Eltern sie gerne gehabt hätten, verbrachte sie viel Zeit bei dem Pfarrer und Frau Pfeiffer, seiner Haushälterin. Denn hier konnte man ihr geben, woran es ihr daheim mangelte: das Gefühl, so geliebt zu werden wie sie war. Als meine Eltern sich kennenlernten, da war das wieder eine dieser Geschichten, mit denen meine Großeltern nichts anfangen konnten. Mein Vater war fast zwanzig Jahre älter als meine Mutter, das gefiel ihnen ebenso wenig wie sie seinen Beruf mochten. Denn nun, wo sie ihrer Tochter entgegen der eigenen Wertvorstellung das Abitur erlaubt hatten und ihr Studium mitfinanziert, hätte es doch wenigstens auch ein Studierter sein können!

Stattdessen einer, der so viel älter war als sie, zwar gutes Geld verdiente, dabei aber keinen Arztkittel und keine Richterrobe trug. Noch dazu war er geschieden, Vater von zwei Kindern – und zu allem Übel evangelisch… Im Pfarrhaus wurde die Beziehung hingegen begrüßt, denn der Pfarrer und seine Haushälterin erkannten in einer einzigen Umarmung das goldene Herz meines Vaters und seine unverwüstliche Liebe zu meiner Mutter. Der Pfarrer traute meine Eltern und taufte mich und meine Schwester und Frau Pfeiffer wurde meine Patin, meine „Tante Hanna“. Sie gehörten zu meiner gefühlten Familie, so lange ich mich zurückerinnern kann. Anfang der 80er Jahre zogen die beiden nach Bad Reichenhall und fortan wurden meine Kindergeburtstage magisch: durch die Pakete von Tante Hanna.

Jedes seiner Stücke sah anders aus und er verklebte feucht meine Hände. (Foto: Katharina Bregulla/pixelio.de)

Jedes seiner Stücke sah anders aus und er verklebte feucht meine Hände. (Foto: Katharina Bregulla/pixelio.de)

Man muss sich das einmal vorstellen, ich bekam an mich adressierte Päckchen, noch bevor ich das erste Mal eine Schule betrat! Die wundervolle Briefe, große Geheimnisse und kleine Köstlichkeiten enthielten, und die vor allem – und das war vielleicht das Beste – immer genau am richtigen Tag ankamen. Nie zu früh – und erst recht nie zu spät. Und in keinem anderen Moment des Jahres fühlte ich mich so bezaubernd speziell wie dann, wenn ich den Klebestreifen abzog, der den Adressaufkleber mit meinem Namen in zwei Teile riss. Meine Tante Hanna war gut darin, Menschen mit kleinen Gesten zu vermitteln, dass sie etwas ganz Besonderes waren – das hatte vor Jahren schon meine Mutter zu ihr hingezogen.

Einmal im Jahr fuhren wir mit der ganzen Familie nach Bad Reichenhall. Ich liebte diese Kurzurlaube, alles daran war spannend und aufregend für mich und meine kleine Schwester. Das Hotel, in dem wir abstiegen, der Zigarrenladen, den der Hotelier nebenher betrieb. Die schneebedeckten Berge, auf die wir zufuhren, die immer größer wurden, je näher wir dem fernen Land „Bayern“ kamen. Und natürlich Tante Hanna und Onkel Anton – so hieß uns der alte Pfarrer längst. Das Haus, in dem die beiden wohnten, war riesengroß und roch nach Bohnerwachs. Die Stufen, die wir zwei und zwei erklommen, knarrten unter unseren kleinen Füßen, wie wir es sonst nur aus Filmen kannten – und das, obwohl sie weich waren und fluffig, von dem dicken, roten Teppich, der das alte Holz verdeckte. Die Wohnung von Tante Hanna und Onkel Anton hatte Decken, so hoch, wie ich es sonst nie zuvor gesehen hatte. Im Flur war es dunkel und geheimnisvoll und ihr altes Telefon war weich und grün eingekleidet.

Das Beste an der Wohnung aber war die kleine Speisekammer neben der Küche. Dort gab es verbotene Köstlichkeiten, die ich von Zuhause nicht kannte. Besonders liebte ich den Kandiszucker und fand, er war magisch. Er schimmerte wie Bernstein, wenn man ihn gegen das Licht hielt, das durch ein kleines Fenster unter der Decke in die Kammer fiel. Und er war von einer hellen Schicht bedeckt, die man lutschen konnte. Jedes seiner Stücke sah anders aus: es gab große und kleine, schmale und breite und wieder andere waren fast rund. Er verklebte feucht meine Hände, wenn ich mir mehr als das eine, erlaubte Stück davon in die Taschen lud, und ihn dort immer wieder, heimlich, mit meinen Fingern betastete. Und er erinnerte mich noch Tage nachdem wir wieder daheim waren an die zauberhaften Besuchstage, wenn ich ihn in Hosen- und Jackentaschen wiederfand.

Wenn Tante Hanna mich sah, rief sie immer „Goti!“, das war wohl bayerisch, dachte ich, sicher war nur, es hieß „mein Patenkind“. In ihrem Schlafzimmer hing das schwarz-weiß Foto eines jungen Mannes: ihr Zwillingsbruder, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war. Wenn sie davon sprach sah sie, deren Gesicht sonst immer warm und froh strahlte, plötzlich sehr traurig aus. Aber das passierte nicht oft, denn Tante Hanna redete nicht gerne über sich. Sie war eine kleine, runde Frau mit langen, weißen Haaren, die sie immer zu einem Dutt aufrollte. Einmal durfte ich dabei zusehen, wie sie diesen löste, und ihre Haare waren noch viel länger, als ich es mir immer vorgestellt hatte. Als ich älter wurde, wuchs ich ihr zweimal über den Kopf. Wenn ich sie nun in den Arm nahm, konnte ich meine Nase in ihrem Dutt reiben, da lachte sie und sagte, „ah geh‘, moi Haar’n, Goti!“. Wenn wir uns von ihr verabschiedeten, dann strahlte sie über das ganze Gesicht, winkte und rief „Pfierti!“, das ist auch bayerisch, für: „Tschüß, und passt auf euch auf, meine Lieben!“

Die Liebe, die sie gab, ging keine Umwege, stellte keine Bedingungen. Ihre Fürsorge sprudelte warm und tröstlich. Die Stunden mit ihr leuchten wie kleine Sterne im Erinnerungshimmel meiner Kindheit: Danke für alles, was du gegeben hast, was ich von deinem Herzen lernen durfte. Und danke für den magischen Kandiszucker…

Ein Stück Lebensfreude

Wenn ich an Schorsch denke, denke ich automatisch an Pferde. Diese behuften Gefährten, die er gezüchtet hat, denen er so viel von seiner Zeit und Liebe widmete. Die ganz besondere Art und Weise, wie er mit den Tieren umging und ihnen die Angst nahm, sich unter sie mischte, als wäre er einer von ihnen. Eine meiner ersten Erinnerungen an Schorsch geht zurück in die Zeit, als Alex und ich gemeinsam im Kindergarten waren. Wir haben dort unser Sommerfest gefeiert und Schorsch kam mit Lucie, dem Schimmel, vorbei: Alle Kinder durften auf der alten Dame reiten. Er stand auf der Wiese vor dem Tor zum Innenhof des Kindergartens, das uns damals so verdammt groß vorkam; obgleich einige von uns heute mit dem Kopf daran stoßen würden. Mit der schon eher grau- als weißhaarigen Rentnerin an der Longe, die mit derselben Geduld im Kreis um ihn herumtrabte, mit der er uns Kinder auf und von ihrem Rücken hob. Die Verängstigten beruhigte er, die gar zu Übermütigen bremste er – und nicht einer von uns wurde vergessen. Weil er nichts und niemanden vergaß. Nicht die Menschen, die er in sein Herz geschlossen hatte. Nicht die Tiere, für die er Verantwortung übernommen hatte. Und auch nicht die Natur, in der er arbeitete, in der er all die Zeit verbrachte und aus der er so viel von seiner ruhigen, sanften Kraft schöpfte.

Schorsch und Lucie beim Kindergartenfest 1983. (Foto: privat)

Schorsch und Lucie beim Kindergartenfest 1983. (Foto: privat)

Sein Sohn Alexander und ich waren Kindergarten-Sweethearts. Wir küssten und prügelten uns durch diese kunterbunten, ersten Jahre. Wurden im zarten Alter von fünf vom Direktor eines afrikanischen Wanderzirkus’ mit einer echten Schlange afrikanisch verheiratet und spielten zusammen mit seinen He-Man Figuren oder meinen Puppen. Aber vor allem machten wir gemeinsam viele wundervolle Sommer lang den Bauernhof und all die umliegenden Felder seiner Eltern unsicher. Und immer war sein Vater zur Stelle, wenn wir uns dabei mal wieder selbst in Schwierigkeiten gebracht hatten.

„Na klar“, hatte mir Alex versichert, als ich damals wissen wollte, ob wir uns in dem riesigen Anhänger verstecken sollten, der mitten auf der Kuhweide stand – und der für gewöhnlich mit Milch befüllt wurde. Und ich hatte mich nicht darüber gewundert, warum er mir den Vortritt ließ, obwohl wir sonst immer darum kämpften, wer von uns der Erste bei allem sein durfte. In dem Anhänger war es kühl und die Wände warfen den Klang meiner Stimme metallen zu mir zurück. Aus den zaghaften „Alex?“-Rufen erwuchs sich bald ein erschrecktes „Hilfe, Hilfe!“, als ich begriff, ich hatte mich zwar durch die kleine, runde Oberluke hier hineinfallen lassen können, aber alleine würde ich auf diesem Weg nicht wieder herauskommen. Doch als zwei große, warme Hände schließlich den Weg zu mir herunter fanden wusste ich, hier kam meine Rettung – und natürlich war es Schorsch, der mir aus meinem Gefängnis half. Anschließend scholt er uns, seinen Sohn und mich, für unsere Unvorsichtigkeit – aber ein ganz kleines bisschen hatten wir doch beide das Gefühl, gleichzeitig auch für unseren Wagemut geadelt zu werden.

Schorsch konnte nicht nur gut mit uns Kindern, sondern mit Menschen allen Alters. Nicht alle mochten sich seiner ehrlichen Art stellen, mit der er, immer liebevoll, aber ebenso geradeheraus allen, die es ihm Wert erschienen, seine aufrichtige Meinung zu den Dingen sagte. Doch wer sich davon schrecken ließ war ein feiger Narr, denn wer das Glück hatte, mit ihm vertraut zu werden, hatte einen einzigartigen, treuen Freund gewonnen: Seine Menschen waren ihm wichtig und er hielt immer zu ihnen. „Der Schorsch hat sich vor mich gestellt und gekämpft wie ein Löwe!“, sagt seine Frau, wenn sie über schwierige Zeiten spricht, die sie und ihr Mann durchgemacht haben. Und alle, die ihre Worte hören nicken, weil das so seine Art war: kämpfen für die Menschen und Dinge, die in seinem Leben eine Rolle spielten.

„Da haben wir uns nur totgelacht, der Papa und ich!“, erzählt uns sein Sohn. „Des war einer von den albernen Abenden, weißte, den haben wir Männer mite’nander verbracht und irgendwann fing einer an mit irgend’em Quatsch und dann mussten wir alle lachen.“ – Und wieder nicken alle Anwesenden, denn auch das war seine Art: lachen. Aus vollem Herzen. Genießen. „‚Oh Schorsch, was musste dann jetz’ vorm Abendbrot noch was nasche?’“, hab ich immer geschimpft un’ dann hatter gesagt, ‚Traute, des is’ ein Stück Lebensfreude.’ Un’ so war des jeden Abend. Für wen soll ich denn jetz’ kochen, kann mir des mal einer von euch sagen?“ Die Frage macht uns alle ganz stumm, die wir da sitzen, in unseren Gedanken an Schorsch. Denn diesen Abend verbringen wir ohne ihn, aber in dem brennenden Wissen: Es ist der erste von vielen. Weil er, der Vater, Ehemann, Schwiegerpapa und Freund, uns auf dem letzten Weg vorausgegangen ist, und wir heute hier zusammengefunden haben, um unseren Abschied zu nehmen. Von einem, der viel zu früh gehen musste und dessen Abwesenheit uns noch so schrecklich fremd ist.

Unwillkürlich muss ich auch an den Tod meines Vaters denken, der mir immernoch so verdammt frisch erscheint. An all die Menschen, die mir damals gesagt haben, irgendwann würde ich mich damit trösten können, dass er so sterben durfte, wie er gelebt hat: tanzend und mit einem lachenden Herzen. Schorsch ist nicht nach seinem letzten Tanz gestorben, sondern beim Fällen eines Baumes verunglückt – und zuerst erscheint es mir, als würde diese Art des Sterbens alles noch viel schlimmer machen, so ein grausamer, sinnloser Tod, zwölf Tage vor Weihnachten. Und doch, als wir alle da sitzen und uns in den Armen halten, wird mir plötzlich klar, dass auch Schorsch so sterben durfte, wie er gelebt hat: In einem Moment des Schaffens, draußen, in seiner Natur, mit der Vorfreude auf die anstehenden Familientage im Herzen und dem Blick auf die Koppel mit seinen geliebten Pferden.

Noch ist es zu früh für diese Form von Trost, fürchte ich. Und erinnere meine eigene fassungslose Wut und Verzweiflung der ersten Wochen und Monate, in denen mich gar nichts trösten konnte oder beruhigen, sondern jeder gut gemeinte Satz nur brannte wie Salz in einer frischen Wunde. Irgendwann aber, wenn die Zeit des liebevollen Erinnerns beginnt, wird dieses Wissen jedes Herz erreichen, das ihn gekannt, geliebt hat – und sanfte Linderung darin erfahren.

[Für Traute, Alex und Sarah.]

…where I left a Piece of my Heart

Sie waren mir besonders, die zehn Tage im Jahr. Als hier noch Heimat war und er nicht schwankte, der Boden, auf den ich nun unsicher meine Füße setze. Der Ort, an dem ich keinen Platz mehr habe. Der Heimat geblieben ist, alt, aber kein Heim mehr bietet, neu, weil sich alles den Veränderungen der Zeit unterwerfen muss, ohne dass wir danach gefragt werden, ob uns das nun passt oder nicht. Ich denke an meinen Vater – denn es waren auch seine zehn Tage. Dieses riesige, bunte Fest voller Menschen, mit den flackernden Lichtern, die das Dunkel der Nacht durchzucken, hat ihn und mich gleichermaßen angezogen, so, wie auch Bären dem Geruch des Honigs folgen – weil das eben so ist. Das große, beleuchtete Rad dreht sich, immer und wieder, ich sehe in den Nachthimmel und den Gondeln hinterher, bis mir schlecht wird davon.

Ich kann, wenn ich die Augen schließe, das Häuschen sehen, in dem mein Paps die letzten Wochen seines Lebens verbracht hat. Es ist nur ein paar Minuten von hier den Berg hoch. Oben, unterm Dach, das Gästezimmer – mein Zimmer. Dort wollte ich übernachten, jeden Sommern, mit drehendem Schädel, nach dem Fest. Mit ihm die ersten Biere trinken. Und dann losziehen, weiter, Freunde treffen. Die alten. Nun trinke ich mein Bier ohne ihn. Dafür mit einer Schulfreundin, bei der ich später auch übernachte, nun, da ein fremder Mann im Haus meines Vaters lebt. So werde ich also keine Nacht mehr im Gästezimmer unterm Dach verbringen – und habe ich ohnehin nie, wo doch alles so schnell ging, plötzlich, in jenem Januar.

Begegnung mit dem Gestern. (Foto: Marieke Stern)

Begegnung mit dem Gestern. (Foto: Marieke Stern)

Heute nun also bei jener Freundin, alten, der ich mal die Haare geschnitten habe, in der zweiten Klasse. Was großen Ärger gab, mit ihrem Vater, vor dem ich mich fürchtete – ebenso wie sie. Der Arzt war, außerdem noch Alkoholiker – und sich umgebracht hat, zehn Jahre ist das jetzt her. Und ich bin mir nicht sicher, ob das eine ganz andere Geschichte ist, oder vielleicht einfach die selbe. Mit Bier und Zigaretten ziehen wir über das Fest und plötzlich fällt mein Blick auf die Halle, kaum hundert Meter von uns entfernt. „Hej“, sage ich, „lustig: Hier war ich seither nie.“ „Seit wann?“ Ich muss nicht wirklich nachdenken, tue aber so – nur kurz, bevor ich grinse, „na, seitdem der Papi gestorben ist“. „Was hat das mit der Halle zu tun?“ „Hier ist es passiert.“ „Echt, ich dachte in der anderen, weiter da unten?“ Sie deutet irgendwohin ins Leere. Ich weiß nicht welche Halle sie meint, schüttle den Kopf und denke dabei, so lustig war das doch gar nicht – aber ihr ist es noch nicht einmal aufgefallen. Doch da schiebt sich ihre Hand in meine, ist sie an meiner Seite mit einem Blick, der heute noch alles so versteht wie früher. Weil es eben Dinge gibt, die sich der Veränderung der Zeit nicht unterwerfen lassen; zum Glück.

Als wir noch zur Schule gingen, sind wir in den großen Ferien zehn Tage lang jeden Abend auf dieses Fest gezogen, um gemeinsam zu feiern, uns und das Leben, zu lachen, in der warmen Luft der endlosen Sommernächte, Karussell zu fahren – und dann, wenn die Geräte das Drehen an unsere Mägen und das Bier es an unsere Köpfe weitergegeben hatten, in Scharen nach Hause zu wanken und irgendwie beseelt in unsere Jugendzimmerbetten zu fallen. Mein Kopf sendet eine vergrabene Erinnerung aus jedem Jahr das ich je hier verbracht habe an mein waches Herz, und in jeder Sekunde dieses Abends spüre ich ebenso viele Gründe um zu lachen wie um zu weinen, liebe ich es hier zu sein – und hasse mich auch dafür, diesen Abend zwischen heute und gestern auf dem lauten, bunten Fest zu verleben; zumal freiwillig.

Und spüre doch, dass es an der Zeit war für diese Begegnung mit dem Gestern. Weil ein Teil von mir in jeder der Ecken steckt, die ich an diesem Abend streife. Ein Bild von mir in jedem dieser Menschen, die mich erinnern wie ich sie: vielleicht nicht ganz richtig, vielleicht sogar völlig falsch, dabei aber immer echt, einfach, weil es da all diese Jahre gab, die wir geteilt haben. Das macht sie mir wichtig, immer noch – obwohl ich es vergessen hatte, unterwegs. Wichtig, weil ich zwar nicht meine Wurzeln bin, mich aber wohl fühle daran, sie hier zu spüren, nach langer Zeit wieder. Es liegt immer ein Schmerz im Abschied, doch er folgt der Wut erst nach, kommt nicht mit ihr und auch nicht davor. Was zunächst aussah wie eine Verabschiedung, ist in Wahrheit nur hilfloses Abwenden gewesen. Denn erst, wenn die Wut sich zurückgezogen hat, ist der Moment gekommen, wiederzukehren, um noch einmal Abschied zu nehmen, ehrlich nun – dort, wo vor langer Zeit ein Teil des eigenen Herzens zurückgeblieben ist. Wo ich es schließlich in den Begegnungen mit Menschen an diesem Abend wiedergefunden habe – und eingesammelt. Nicht, um es mitzunehmen, dahin, wo ich nun bin, sondern um es zu verbuddeln, genau da, wo meine Wurzeln sich tief in die Erde gewühlt haben. Damit mein wilder Herzschlag sie am Leben hält und ich zurückkehren kann, jederzeit, um mich ihrer zu vergewissern.