Club der toten Väter

„Es gibt da einen Club. Den Club der toten Väter. Und du kannst nicht Mitglied werden, bevor du nicht dazugehörst. Ich meine, natürlich kannst du versuchen, es zu verstehen. Du kannst mitfühlen. Aber – bevor du diesen Verlust nicht selbst erlebt hast… Es tut mir so leid, dass du jetzt dazugehören musst.“
„Ich weiß einfach nicht, wie ich in einer Welt ohne meinen Paps existieren soll.“
„Ja, das ändert sich auch nie wirklich.“
[Frei übersetzt aus Grey’s Anatomy – 3. Staffel]

Ich konnte das nicht begreifen: Es war zu groß für mich. (Foto: Marieke Stern)

Ich konnte das nicht begreifen: Es war zu groß für mich. (Foto: Marieke Stern)

Im Herbst 2002 war ich mit meinem damaligen Freund, meiner Besten und einigen guten Bekannten im Sonnenurlaub in Spanien. Das Wetter verwöhnte uns, es war heiß und trocken, die Abende lang, lau und lustig. Wir tranken spanisches Bier aus kleinen, braunen Flaschen und spielten Karten, jeden Abend, als seien wir auf Klassenfahrt. An einem dieser Abende zeigte mein Handy eine neue SMS an. Sie war von einer guten Freundin, die, so glaubte ich, daheim ungeduldig auf meine Rückkehr wartete: Bereits im letzten Jahr hatten wir gemeinsam zwei Kurzfilme verwirklicht, nach meiner Rückkehr sollte der dritte folgen und wir tauschten täglich aufgeregte Nachrichten aus.

In der SMS ließ meine Freundin mich wissen, dass sie leider ausscheren müsse aus den Plänen, was sie sehr bedaure. So heftig betonte sie diesen Umstand, sich entschuldigen zu wollen für ihre Absage, dass ich einen langen Moment brauchte, um zu verstehen, was doch eigentlich nur zählte: Ihr Vater lag im Krankenhaus, bei ihm war Krebs festgestellt worden. Er starb am Ende des folgenden Winters. Ich erinnere mich an meine Ohnmacht, wenn ich nie die richtigen Worte fand, um sie hinter ihrem abwesenden Gesichtsausdruck zu erreichen. An die riesige Wut auf Gott und die Welt, wenn sie am Telefon immer nur neue Hiobsbotschaften zu verkünden hatte. Und erinnere mich besonders an eine Feier bei mir Zuhause, das hilflose Gefühl, als sie leeren Blickes mitten im Trubel abwesend auf meinem alten Sofa saß – wie sie darin zu versinken schien. Immer schmaler wurde. Und mein Herz warf eine große, traurige Falte, als er schließlich gehen musste. Die intensivste Erinnerung die ich habe aber ist, dass ich es nicht verstehen konnte. Wie das sein muss, seinen Vater zu verlieren. Ich konnte das nicht begreifen: Es war zu groß für mich.

Im Sommer des folgenden Jahres war ich mit einer Freundin auf der Autobahn unterwegs, als wir das Ausfahrtsschild Bad Nauheim passierten. Ich schreckte zusammen, wie man als Kind zusammenzuckt, wenn man gegen die Warnungen der Eltern an einen Zaun greift, der leicht unter Strom steht. „Alles o.k.?“, fragte jene Freundin in mein blasses Gesicht. „Ja. Ich wusste bloß nicht, dass – dieses Schild gerade. Das hat mich etwas erschreckt.“ „Bad Nauheim?“, hakte sie nach und fügte hinzu: „Ja, das finde ich auch immer erschreckend.“ Sie lachte rau. „Wieso?“, war es nun an mir, nachzuhaken. „Mein Vater ist dort gestorben“, entgegnete sie leise; ihr Blick schweifte in eine Ferne, die mir unbekannt war. Mein Vater war auch in Bad Nauheim gewesen, nach seinem Herzinfarkt; doch er hatte überlebt.

Im Sommer 2004 bereiste ich mit meinem damaligen Freund die Südstaaten der USA. Es war der letzte, ernsthafte Versuch, unsere Beziehung noch zu retten – und ausgerechnet er, dessen Planeten sonst nur um seine eigene Sonne kreisten, hatte vorgeschlagen, dass wir mein Mississippi bereisen sollten, wo ich vor fast zehn Jahren die elfte Klasse besucht hatte. Eine Woche von vieren verbrachten wie bei einer lieben Freundin, mit der ich ein Jahrzehnt zuvor die Highschool gemeinsam durchlitten hatte. Und sie: hatte noch mehr gelitten, als ich schon längst wieder in der Heimat weilte. Schwanger mit siebzehn, war sie durch eine Hölle aus Ablehnung und prüder Entrüstung gegangen – doch hatte überlebt. Und wohnte nun mit ihrem Lebensgefährten, dem Sohn und ihren beiden Schwestern im Haus ihres Vaters. Allerdings – ohne den Vater, der kurz zuvor an Krebs gestorben war.

Ich erinnere mich an unsere vielen Gespräche am Tisch in der großen Küche. Sehe die Muster des dunklen Holzes vor mir, zu dem ich herabstarrte, auf meiner verzweifelten Suche nach den richtigen Worten. An meine Tränen, die mit einem leisen Platschen auf das Holz klatschten, und wie töricht ich mir vorkam – wo doch sie es war, die den Vater verloren hatte. Doch wieder überstieg die Situation meine Vorstellungskraft. Ich wollte für sie da sein, ihr Trost spenden – und hatte doch das Gefühl, dabei nie übers Stammeln hinauszukommen. „Guck doch mal“, wisperte ich meinem Freund zu, wenn wir vor den Familienfotos standen, „das war an Ostern. Und sechs Wochen später, zack, ist er tot. Wie soll man das verstehen, ohne wahnsinnig zu werden?“ Er zuckte mit traurigem Gesicht die Schultern – da standen wir: wortlos, hilflos, ahnungslos. Weil es Dinge gibt, die man nicht begreifen kann, bis man sie nicht selbst durchgemacht hat. Und Situationen, in denen man auch dann immer hilflos bleiben wird, wenn man sie schon erlebt hat. Weil es Erlebnisse gibt, in denen kein Wort passt, sondern nur stumme Gesten gegen die lärmende Stille sprechen.

„Es gibt da einen Club. Den Club der toten Väter. Und du kannst nicht Mitglied werden, bevor du nicht dazugehörst. Ich meine, natürlich kannst du versuchen, es zu verstehen, du kannst mitfühlen. Aber – bevor du diesen Verlust nicht selbst erlebt hast…“ An einem 30. Januar wurden meine Geschwister und ich Mitglied im Club der toten Väter. Überraschend. Über Nacht. Und, wie immer: viel zu früh. Ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt. Aber „ich weiß einfach nicht, wie ich in einer Welt ohne meinen Paps existieren soll.“ „Ja, das ändert sich auch nie wirklich.“

One thought on “Club der toten Väter

  1. Ja, es stimmt. Man kann es nur empfinden, wenn man seinen Paps verloren hat! In diesen besagten Club kommt man nicht gern, aber man gehört eben nur dazu, wenn man das erleben musste! Allen anderen Mitgliedern sende ich mein herzlichstes Beileid. Seid stark, irgendwann wird es besser. Es dauert halt seine Zeit! R.I.P.

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