Das Ende der Ambivalenz

Mein Verhältnis zur Berufsgruppe der Kassiererinnen an Supermarktkassen ist gespalten. Einerseits stelle ich mir deren Arbeitsalltag unglaublich stressig vor (und habe diesen als Oberstufenschülerin zwei Jahre im Nebenjob auch genau so empfunden), so dass sie mein Mitgefühl haben, wenn etliche der Kunden unwirsch, patzig oder offenkundig übellaunig an ihnen vorbei flanieren. Auf der anderen Seite habe ich es oft genug erlebt, wie Vertreter der Kassenklingerzunft sich über ungeschickte Kunden bei den nachfolgenden lustig machen, auf EC-Karten reagieren, als seien diese eine persönliche Beleidigung – oder ältere Leute barsch zur Eile antreiben, wenn die das passenden Münzzeug nicht schnell genug aus ihrem kleinen, abgegriffenen Portemonnaie hervorzaubern. Im Endergebnis bleibt also die Ambivalenz.

Ein Obst ist ein Obst ist ein Obst. Ist es? (Foto: WP)

Ein Obst ist ein Obst ist ein Obst. Ist es? (Foto: WP)

Und doch gibt es Situationen, in denen die Sympathie ganz klar auf eine Seite des trägen Kassenlaufbandes fällt, so wie diese: In einem kleinen Supermarkt herrscht Hochbetrieb, vermutlich ist dieser der Mittagspausenzeit geschuldet. Die Verkäuferin zieht mit fliegenden Händen die Waren übers Band und kassiert jeden der Kunden in freundlichem Ton ab. Den einen oder anderen scheint sie zu kennen, man verabschiedet sich in nettem Plauderton. Als gerade ein Kassiervorgang abgeschlossen ist, tritt eine Kundin, die bereits bezahlt hatte, erneut heran und beginnt umstandslos, laut und anklagend zu blaffen:

„Sie haben mich beschissen!“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie haben mir zwei Äpfel abkassiert!“
„Ja. Und?“
„Ich habe nur einen gekauft!“
Wütend lässt die Kundin die kleine, durchsichtige Tüte mit dem Apfel vor dem Gesicht der Kassiererin baumeln und hebt sie anschließend so in die Höhe, dass alle anderen Kunden sie begutachten mögen.
„Sehen Sie das? Nur ein Apfel!“
Die Verkäuferin runzelt die Stirn, überlegt und sagt:
„Das tut mir leid. Ich weiß aber doch, dass ich zweimal einen Apfel in der Hand hatte. Ich habe sie nacheinander gewogen, der eine hatte knapp, der andere gut 200 Gramm.“
Die Kundin baumelt mit der Tüte so nah vor dem Kopf der Frau, dass diese sie gegen die Stirn bekommt.
„Nur! Ein! Apfel.“
Die halbe Warteschlange war bereits nervös zusammengezuckt, als die Tüte mit dem Kopf der Kassiererin kollidierte, doch die bleibt ganz ruhig, lässt sich den Apfel und den Kassenbon aushändigen und wiegt das Obst.
„Genau, 230 Gramm, das steht hier auch so auf dem Bon“, murmelt sie zu sich. Dann, zu der Kundin: „Haben sie sonst noch Obst gekauft?“
„Ja, eine Nektarine.“
Die Verkäuferin geht den Kassenbon durch, die Erkenntnis lässt ihr Stirnrunzeln aufklaren.
„Sehen Sie, die Nektarine ist gar nicht auf dem Bon, ich habe sie versehentlich für einen zweiten Apfel gehalten.“ Und, entschuldigend: „Das ist mir diese Woche schon mal passiert.“
Die Kundin bleibt ungerührt: „Trotzdem hatte ich nur einen Apfel. Sie haben mich beschissen.“

Niemand in der Schlange meutert ob der andauernden Verzögerung, alle beobachten fasziniert das Schauspiel an der Kasse. Die Kassiererin bittet höflich darum, die Nektarine ausgehändigt zu bekommen. Die Kundin drückt ihr das Obst gereizt in die Hand. Beim Wiegen bestätigt sich der Verdacht der Kassiererin: Die Nektarine wiegt 190 Gramm, genau so viel, wie für den vermeintlichen zweiten Apfel auf dem Bon steht. Die Kundin keift:
„Bringen Sie das wieder in Ordnung.“
Die Kassiererin zögert für eine Sekunde und ab diesem Moment ist dem einen oder anderen in der Warteschlange bereits klar, was gleich passieren wird. Ein Flüstern und Kichern entsteht zwischen fremden Menschen, die im Verlaufe dieses kleinen Schauspiels alle schnell und klar Position bezogen haben.
Mit geübten Handgriffen storniert die Kassiererin den berechneten Apfel, wiegt anschließend nochmals die Nektarine nach, tippt deren Preis ein und sagt ohne einen Anflug von Häme in ruhigem Ton zu der Kundin:
„Das macht dann 12 Cent, bitte.“

Die Kundin, der etwa in derselben Sekunde, in der die Kassiererin Luft holte, um ihre offene Forderung zu formulieren dämmert, dass die Nektarinen eventuell teurer sein könnten als die Äpfel, schnappt sich ihre Nektarine aus der Hand der Kassiererin und blafft abschließend in Richtung der wartenden Kunden: „Da geht es mir ums Prinzip.“

Na, dann.

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