„Eine Ehre, an dir lernen zu dürfen“

Zu Beginn klingt Murmeln und Füßescharren durchs Gotteshaus. Neugierig mustern etwa 300 Medizinstudenten die ungewohnte Umgebung, kichern und flüstern. Als die Orgel erklingt, wird es leise in den Holzstuhlreihen, doch nicht still – ein Gefühl der Unruhe und Unsicherheit bleibt.
„Sie sind es, denen der Spender seinen Leib anvertraut hat“, sagt Dr. Erhard Weiher mit sanftem Nachdruck. „Dadurch haben sie ihn vielleicht so intensiv kennengelernt, wie Sie nie wieder einen Menschen kennen werden.“ Die Stille, die seinen Worten folgt, verändert die Stimmung in der Kirche. Nach und nach lassen die Studenten sich ein auf die ungeübte Situation, blenden ihr Unwohlsein aus. Und hören auf, die eigene Ratlosigkeit zu überspielen im Angesicht des Todes, dem sie zuletzt Semester zweimal wöchentlich im Präparierkurs begegnet sind.

Schräg fällt das Nachmittagslicht durch die Mosaikfenster in die Kirche. Die angehenden Mediziner haben ihre Jacken angelassen, unter den Worten des Pfarrers rücken sie dennoch näher zueinander. Sie tauschen verständige Blicke, hier und da werden Hände gedrückt. „In ihrem Beruf wollen sie Leben retten, als Vorbereitung haben Sie mit dem Tod zu tun – das ist keine leichte Aufgabe“, betont Weiher. Aus diesem Spannungsfeld heraus ist die Idee entstanden, eine besondere Form zu finden, um mit dem so prägenden Semester abzuschließen: In einem konfessions- und religionsübergreifenden Gottesdienst können die künftigen Ärzte Abschied nehmen von den Spenderleichen, an denen sie zuvor gelernt haben.

Studenten im Februar 2011 in der Anatomie in Mainz. (Foto: Sascha Kopp)

Studenten im Februar 2011 in der Anatomie in Mainz. (Foto: Sascha Kopp)

Rückblende: Der Raum, in dem die Medizinstudenten in Mainz an den Anatomieleichen arbeiten, ist in einem unauffälligen Gebäude auf dem Campus – ein schmaler Schlauch unter dem Dach, lang und lichtdurchflutet. In kleinen Gruppen stehen die Zweit- und Drittsemester um die Liegen aus Edelstahl, auf denen die Spender platziert sind. Jetzt, zum Ende des Semesters, sind diese bereits sprichwörtlich in ihre Einzelteile zerlegt: der Kopf vom Rumpf getrennt und gespalten, die Haut fast überall entfernt, Organe entnommen. „Eklig fand ich es nur am Anfang, als noch alles so am Stück war“, sagt Christoph, der am Tisch Nummer 23 mit der Hand im Oberschenkel eines Körpers steckt. Auf Nachfrage erklärt er die bunten Fäden im Inneren der Toten: „Grüne stehen für Lymphen, gelbe sind an den Nerven, die blauen zeigen Venen, die roten Arterien.“ Neben ihm befühlt Kommilitonin Patricia einen Muskel. „Gewöhnungsbedürftig fand ich, richtig zuzupacken“, sagt sie, und: „Man stumpft ziemlich schnell ab, aber nicht negativ, eher professionell.“

Im Kurs gehe es darum, den Bauplan des Körpers kennenzulernen, erklärt Professor Erik Schulte, Direktor des Instituts für funktionelle und klinische Anatomie. Viele erwarteten einen „Hort des Schreckens“, bevor sie zum ersten Mal den Saal unterm Dach betreten, „aber nichts ist falscher als das“. Ein Semester lang arbeiten die angehenden Mediziner zweimal wöchentlich je vier Stunden an den Leichen, die zuvor im Keller des Instituts mit Formaldehyd für die lange Haltbarkeit konserviert werden. Über 150 Leichen kann die Anatomie hier lagern, an Spendern mangelt es nicht. Geld bekommen diese nicht: „Es ist ein Akt der Nächstenliebe“, findet Schulte. Am Ende des Kurses werden die Toten, deren sämtliche sterblichen Überreste sorgfältig aufbewahrt werden, auf dem Waldfriedhof Mombach beerdigt – zuvor findet der Gottesdienst mit den Studenten statt. „Der Spender macht auf seinem letzten Weg bei uns in der Anatomie Passage“, formuliert es Schulte, der weiß: „Schwierig ist das für die Angehörigen, die ihre Lieben mit etwa einem Jahr Verspätung beerdigen. Da reißt noch mal alles auf an Leid und Trauer.“

Im Semester durchlaufen die künftigen Ärzte einen festen Arbeitsplan an den Leichen, die am ersten Kurstag auf dem Bauch liegen. „Das hat den Einstieg erleichtert, ihnen nicht ins Gesicht zu sehen“, sagt Christoph. Das räumliche Erlernen des Körpers beginnt mit der Haut, den starken Rückenmuskeln. Hell ist das Fleisch der Spender, ein wenig sehen die abgewinkelten Beine aus wie bei Hühnchen. „Wichtig ist es, sich klar zu machen, dieser Mensch hat sich mir überantwortet“, sagt Schulte. Respekt beim Umgang mit der Leiche ist essentiell: „Sie haben uns ihr Vertrauen geschenkt – das müssen die Studenten durch ihr Verhalten beschützen.“

Professor Eric Schulte betreut die Studenten. (Foto: Sascha Kopp)

Professor Eric Schulte betreut die Studenten. (Foto: Sascha Kopp)

Im Saal wird permanent die Luft ausgetauscht, um die Belastung mit der Chemikalie Formaldehyd niedrig zu halten. Die Studierenden arbeiten mit Handschuhen, Kittel sind ebenfalls Pflicht. Leichenteile, an denen gerade nicht gearbeitet wird, sind zum Schutz mit Tüchern bedeckt. An den Füßen haben die Spender kleine Schilder mit Nummern, genau so, wie man es aus dem Kino kennt. Ihre Schädel sind rasiert, was ein wenig an Bilder aus dem Krieg erinnert. „Anfangs sah die Leiche aus wie eine weiche Puppe“, sagt Lena. „Es sind Kleinigkeiten, die einem ins Bewusstsein rufen, das ist ein Mensch – wie, wenn man die Haare streift“, findet Ilka. „Mich hat es berührt am Genital zu arbeiten, das war sehr intim“, erklärt die 21-Jährige. Den Gottesdienst empfinden die Studenten an Tisch 17 als „Geste des Respekts gegenüber der Spender“. Es gehe, so erklärt Anna-Lena, darum, „Abschied zu nehmen und Danke zu sagen“.

Weil es aber nicht leicht fällt, vor die Kommilitonen zu treten und Worte zu finden für das, was der Kurs hinterlassen hat, lässt Pfarrer Weiher Zettel austeilen, auf denen die Studenten ihren Leichen ein Abschiedswort notieren können. Mit seiner evangelischen Kollegin Ulrike Windschmitt liest er diese begleitet von Orgelmusik am Ende des Gottesdienstes vor – viele letzte Grüße, aus denen spricht, wie der Kurs die werdenden Ärzte verändert und bewegt hat: „Danke, dass du auf deinem Weg zu Gott den Umweg über die Anatomie genommen hast“, lautet einer. „Ich bewundere dich für diesen Schritt und danke deinen Angehörigen für ihre Geduld“ ein anderer. Und schließlich: „Danke, dass du den Mut hattest, dich in unbekannte Hände zu begeben. Es war eine Ehre, an dir lernen zu dürfen.“

(Der Text ist im März 2011 in der Allgemeinen Zeitung erschienen.)

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