Wenn Julia von den Rimini Piranhas die Zeile singt, in der es heißt, dass sie nur auf Vaters Schultern etwas sehen konnte, entweicht meiner Brust ein Seufzen: Ich würde so gerne eine wunderschöne Geschichte darüber erzählen können, wie ich an Papas Hand zuerst ins Stadion gegangen bin, und seine große Gestalt mir als Orientierungshilfe im Gewusel diente. Doch es war lediglich ein Kommilitone, mit dem ich den ersten Stadionbesuch unternahm, und in der Folgezeit ging ich alleine, bis ich im Block Anschluss gefunden hatte. In Sachen Fußball war ich ein absoluter Amateur, ich hatte einfach von nichts eine Ahnung, außer, dass ein Spiel 90 Minuten dauert und in der Hälfte für 15 unterbrochen wird. Positionen, Taktik, Spielernamen – das alles waren Universen, von denen ich noch Lichtjahre entfernt war. Ich brauchte also tatsächlich etwas, woran ich mich orientieren konnte, oder vielmehr: jemanden.
Zunächst war das ganz automatisch: Dimo Wache. Es bot sich einfach an, vielleicht liegt es an meiner Torwartschwäche oder daran, dass gerade der Mann im Kasten eben Beständigkeit ausstrahlt, weil er nicht die ganze Zeit übers Feld flitzt. Meine ersten Fußballjahre jedenfalls funktionierte das wunderbar so, und wenn ich das Augenmerk doch mal auf einen Feldspieler legte, so waren das Andrey Voronin oder Benjamin Auer. Dann kam der Aufstieg, brachte uns in der folgenden Saison Nikolče Noveski – und die Frage, an wem man sich auf dem Feld orientieren konnte, hatte sich ein für alle Mal von selbst beantwortet: No-ves-ki!
Es gibt nur sehr wenige Spieler, die eine derartige Ruhe ausstrahlen wie unsere Nummer 4 aus Mazedonien; für mich persönlich sind das in der Hauptsache tatsächlich Torhüter. Sie ist also gewiss einer der Gründe, warum mein Urvertrauen beim Spiel sich langsam aber sicher auf Nikolče verlagerte. Momente, in denen er einen Hauch dessen erahnen ließ, wie es aussehen könnte, wenn er diese Ruhe doch verliert, sind äußerst rar gesät – am ehesten fallen mir dazu jene Situationen ein, in denen ihm witwenschüttelnde Reporter nach einem erneuten Eigentor ihr Mikro mit der absurden Bitte um eine Deutungen unter die Nase hielten. Dass Mister Zuverlässig außerhalb von Mainz ausgerechnet mit diesem ledigen Rekord assoziiert wird, ist ein Treppenwitz, über den er inzwischen hoffentlich auch selbst lachen kann.
Denn abgesehen von dieser sonderlichen Pannenkette über die Jahre war Noveski stets die personifizierte Verlässlichkeit, stand, wie das so schön heißt, hinten sicher und dazu vorne gerne mal goldrichtig und vor allem immer komplett im Dienst seiner Mannschaft. Noveski, das ist der Typ, den man in der sibirischen Wildnis nachts vor seinem Zelt wissen möchte, um ruhig schlafen zu können. Seine Schultern sind es, auf die man herrenlose Kinder im Stadion setzen mag, um etwas vom Spiel zu sehen. Und er ist es vor allem, den man in der Viererkette wissen will, wenn ein Ball aufs Tor segelt. Die Gewissheit, dass ausgerechnet er, der Kapitän, seine letzte Saison größtenteils auf der Bank verbringen musste, verursacht in den Blöcken in der Arena deswegen ein kollektives Herzziepen, und es bleibt zu hoffen, dass er beim letzten Heimspiel heute nochmals von Anfang an spielt – und dann in der 84 Minute ausgewechselt wird, damit wir Fans mit unserem Applaus das nicht vorhandene Dach vom Stadion klatschen können, zu Ehren unseres Kapitäns, ohne den Mainz 05 eigentlich kaum vorstellbar ist.
Denn auch wenn Noveski, was unfassbar wünschenswert wäre, dem Verein in einer anderen Funktion erhalten bliebe, ist sein Abgang als Spieler heute eine Zäsur. Der Mazedonier ist, obwohl er die verpassten Aufstiege selbst ja gar nicht mitbekommen hat, so etwas wie das Bindeglied zu einer unfassbar prägenden Zeit des Vereins, dem Ausnahmezustand, der begann, als Jürgen Klopp zum Trainer gemacht wurde, und der sich irgendwann nach dem zweiten Aufstieg in die 1. Liga langsam verflüchtigte. Der Kapitän steht als letztes Sinnbild für eine Phase, in der alles neu und aufregend war, und jede Partie in der 1. Liga ungläubige Freude in uns auslöste. Er steht für Spiele gegen Schalke 04 oder Werder Bremen, in denen kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, sich über ein Unentschieden zu beschweren, weil jeder Punktgewinn gegen diese Teams sich wie eine verdammte Sensation anfühlte. Für Jahre, in denen man im Block bei jeder Partie in dieselben Gesichter schaute und sich das anfühlte wie nach Hause kommen. Und Noveski war derjenige, der bei diesen Familienfesten den Kuchen anschnitt. Auf dessen Anwesenheit man sich immer verlassen konnte. Und der nach dem Kaffee auch gerne mal ein Tor machte, mit dem Ausdruck wilder Entschlossenheit im Gesicht, wenn die Kollegen vorne es bis zur paarundachtzigsten Minute eben nicht auf die Kette bekommen hatten.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass die zunehmende Professionalisierung den Verein und sein Umfeld in den letzten Jahren verändert hat. Darüber zu jammern wäre ausgesprochen töricht, denn wir haben in dieser Zeit großartige Dinge erreicht, uns mit einer Sicherheit im Oberhaus festgespielt, die uns kaum jemand zugetraut hätte – und auf dieser wunderbaren Reise stehen wir noch immer ganz am Anfang. Trotzdem gibt es diese Momente, in denen diejenigen unter uns, die schon ein bisschen länger dabei sind (und unter denen bin ich wohlgemerkt selbst ein absolutes Küken…) eine gewisse Nostalgie beschleicht, ein seufzendes, ach, damals, dem wir uns für einen kurzen Moment hinzugeben erlauben. Es sind diese Momente, in denen unser Blick Nikolče Noveski sucht, in denen er uns, auch auf der Bank, die alte Sicherheit gibt, das Gefühl, auf dieser fußballerischen Reise den bestmöglichen Leiter an unserer Seite zu haben.
Wenn Noveski heute unter dem tosenden Jubel eines ganzen Stadions vom Platz geht, endet in Mainz eine Ära. Das Gute ist, auf jede vergangene Ära folgt eine neue, das unvorstellbare aber ist, dass wir die ohne unseren Kapitän erleben werden. Denn wohin wogt die Brandung, wenn der Fels nicht mehr da ist, an dem sie sich elf Jahre lang gebrochen hat? Es bleibt zu hoffen, dass Noveski nur das Spielfeld verlässt, nicht aber den Verein – und sollte er noch ein, zwei Jahre für einen anderen Club spielen, so hoffen wir, dass er danach zurückkehrt. All das aber ist Zukunftsmusik, deren Melodie wir noch nicht kennen, weshalb für den Moment nur eines bleibt: DANKE zu sagen, für den Mann, der im närrischen Mainz tatsächlich nach elf Jahren seinen Hut nimmt. Es gibt eben Dinge, die kann man sich nicht besser ausdenken. Danke, NiNo, für alles. Du wirst uns hier verdammt fehlen.