Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein

Beim ersten Mal ist er kaum älter als zwei. Die Sonne scheint, über dem Grab summen Bienen und ich kaue meine Unterlippe, als der Zwerg unvermittelt sagt: „Wo ist der Opa Jürgen jetzt?“ Dabei schaut er mit seinen großen, blauen Augen fragend zu mir herauf – und mein Herz verpasst einen Schlag beim Anblick dieses großartigen Kindes, das mein Paps nicht mehr kennenlernen durfte. „Im Himmel“, antworte ich mit einem Lächeln, hebe den Kleinen hoch und deute in die fliehenden Sommerwolken. Er nimmt die Neuigkeit interessiert auf, und als wir den Friedhof später verlassen legt er den Kopf in den Nacken, formt mit den Händen einen Trichter und ruft laut und fröhlich ins weltumspannende Blau: „Tschüß, Opa Jürgen.“

 „Wo ist der Opa Jürgen jetzt?“

„Wo ist der Opa Jürgen jetzt?“

Bis er mich wieder darauf anspricht, vergeht einige Zeit. Eines Abends im Spätherbst, als wir mit seinem Einrad die Straße hinauflaufen, bevor der Zwerg sie erneut hinunterflitzen kann, schiebt sich seine kleine Hand in meine und er bleibt plötzlich stehen. Die Dämmerung taucht den Abend in dunkle Grautöne, über uns funkeln die ersten Sterne. „Ist der Opa Jürgen wirklich im Himmel?“, fragt der Kleine, und ohne Zögern antwortet ich, „na klar“. Doch er läuft darauf nicht weiter, zupft stattdessen unentschlossen an meiner Hand und will wissen: „Nicht in der Erde?“ Ich gehe zu ihm in die Hocke, fasse seine zweite Hand und frage, wie er darauf kommt. „Hat mir jemand erzählt“, sagt er unbestimmt. Ich überlege kurz, bevor ich sage: „Wenn ein Mensch stirbt, wird er auf dem Friedhof beerdigt. Das ist da, wo wir den Opa Jürgen besuchen. Aber er bleibt nicht in der Erde, sondern kommt in den Himmel, zum lieben Gott.“ „Auf eine Wolke?“, hakt er nach; ich nicke: „Genau.“ Da schlingt der kleine Mann seine Arme um meinen Hals und ich halte ihn fest; über uns ist der Abendhimmel inzwischen dunkel geworden.

Am nächsten Morgen beim Frühstück, während er nach der Brötchenhälfte greift, die seine Mama geschmiert hat, fragt der Zwerg mich: „Und wie hat der Opa Jürgen den Himmel gefunden?“ Meine Schwester hält kurz in ihrer Bewegung inne, ich suche ihren Blick, sie nickt mir zu: Mach du das. So viele Fragen, die zu drängend sind, als dass die Antwort darauf Zeit hätte… „Ein Engel hat ihm den Weg gezeigt“, sage ich schließlich, verwundert darüber, wie das Thema die ganze Nacht in seinem Kopf überlebt hat und er nun daran anknüpft, als hätten wir den losen Faden gerade erst entwischen lassen. Wie der Engel aussah, will mein Neffe wissen: „Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gesehen, nur der Opa.“ „Warum?“ „Den Engel kann man nur sehen, wenn man tot ist.“ Er nickt, bedächtig. „Und dann?“ „Der Engel hat den Opa Jürgen an der Hand genommen und in den Himmel gebracht.“

„Ein Engel hat ihm den Weg gezeigt.“ (Fotos: WP)

„Ein Engel hat ihm den Weg gezeigt.“ (Fotos: WP)

„Ist es okay, wenn wir den Opa Jürgen besuchen, bevor wir auf den Spielplatz gehen?“ Ich schaue im Rückspiegel nach dem lollieverschmierten kleinen Jungen, der konzentriert in seinem neuen Laura-Büchlein blättert. Wir kommen gerade aus dem Tierpark und ich meine die Frage ernst, weil ich ihn nicht mitnehmen mag auf den Friedhof, wenn er das nicht möchte. Er schaut auf, überlegt und sagt: „Kurz.“ Wenig später halten wir beim Friedhofsgärtner. Der Anblick der Frühlingsblumen versetzt mir einen Stich – wie damals, auf dem Sarg. Der Kleine hüpft und schlägt Blume für Blume vor, findet jede wunderschön und möchte am liebsten einen riesigen Strauß mit allen; schließlich nehmen wir gelbe Tulpen. Als wir den Friedhof betreten erkläre ich ihm, dass sein Opa in ein paar Tagen Geburtstag hat. „Bringen wir ihm da Kuchen?“, fragt er neugierig, und ich muss lachen. „Nein, den kann er ja nicht essen. Aber er freut sich über unsere Blumen“ – und gemeinsam legen wir sie auf der feuchten Erde ab.

Mit der Fußspitze wühlt mein Neffe sich in den Boden des Grabes, der locker nachgibt. „Gell, der Opa Jürgen ist im Himmel?“, fragt er. Ich nicke, setze mich auf den Rand des Grabs und der Zwerg will wissen, wieso wir ihn dann immer hier besuchen. Kaum ist die Frage gestellt schaut er unwillig und verkündet im Protestton: „Mir ist kalt!“ Ich öffne meinen Mantel, er setzt sich auf meinen Schoß und kuschelt sich in den warmen Stoff, den ich über ihm schließe. Sein süßer Kinderatem bläst gegen meinen Hals, ich überlege. Schließlich steckt er seinen Kopf aus dem Mantel und sieht mich fragend an. „Kannst du dich an den Engel erinnern, der den Opa Jürgen in den Himmel geführt hat?“ Er nickt. Ich hole tief Luft. „Der hat ihn hier abgeholt. Als dein Opa gestorben ist, ist er hier in die Erde gelegt worden. Sein Körper.“ Ich hänge, der Zwerg wiegt den Kopf und schlägt vor, dass wir nachschauen, ob er noch da ist. Oder ein Loch buddeln, damit er sieht, dass wir da sind. Mein Herz sticht, ich schüttle den Kopf.

„Wir brauchen ihm kein Loch zu buddeln“, setze ich an. „Er sieht uns auch so, weil er ja im Himmel ist.“ Der Kleine schaut aufmerksam an mir vorbei in die Wolken und nickt. „Aber obwohl der Engel ihn abgeholt hat, bleibt etwas von ihm im Grab. Eine Hülle. Ein bisschen so wie Kleider. „Kann man das angucken?“, fragt der Zwerg und ich schüttle wieder den Kopf. „Nein, das ist schon so lange in der Erde, dass es auch Erde geworden ist.“ Er überlegt, streckt einen Arm aus dem Mantel und bohrt den Finger in den feuchten Boden. „Und was ist im Himmel?“ „Alles, was deinen Opa ausgemacht hat“, sage ich und greife nach seinem Finger. Die kleine Kinderhand in meiner großen klopfe ich sanft gegen seine Brust. „Sein Herz“, gegen seinen Kopf, „seine Gedanken“, und wieder die Brust, „seine Liebe“. Der kleine Mann kuschelt sich fest an mich.

„Kann ich mit ihm reden?“ Ich schlucke. „Na klar. Du kannst ihm erzählen, dass wir heute im Tierpark waren. Dass wir seine Kamera dabei hatten. Wie es deiner Schwester geht. Was du willst.“ „Aber wie hört er mich?“, will der Zwerg wissen. „Er hört dich, weil er dich lieb hat. Egal wo du bist. Du kannst nicht nur hier mit ihm reden, sondern überall.“ Da dreht der Zwerg sich im Mantel zu mir und fragt mit großen Augen: „Auch an seinem Geburtstag?“ Ich nicke: „Auch dann, ja.“ Ernst schweift sein Blick zwischen Himmel und Grab, er überlegt. Plötzlich erhellt ein Strahlen sein Gesicht, und während er mich fest umarmt sagt er erleichtert: „Das ist gut!“ Und ich drücke ihn an mich, atme den Duft von Lollies und Kindershampoo und sage ebenso erleichtert: „Ja, das ist gut.“

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