55. Grund
Weil fünfzig Jahre nicht genug sind
Als Steppke bereits haben sie in einer Nachbarschaft gewohnt: „Vielleicht haben wir uns auch schon im Kindergarten gekannt, noch ohne es zu wissen“, überlegt Inge. Sie selbst erinnert sich daran, dort als Kleinkind gewesen zu sein, Horst weiß es nicht mehr genau – die Eltern kann er nicht fragen, denn sie sind seit vielen Jahren tot. Sicher aber sind sich die Eheleute, wenn es zu ihrer Schulzeit kommt: Da lernten sie einander kennen, waren in derselben Klasse. War es, wenn auch mit sechs, sieben Jahren sicher nicht Liebe, so doch eine Art kindliche Sympathie auf den ersten Blick? Die beiden schütteln einmütig die Köpfe. Nein, anfangs gab es keinerlei Interesse aneinander. Wann also ging das los zwischen ihnen, wie wurden sie aufeinander aufmerksam? Inge wischt sich mit dem Daumen leicht über die Lippe: „Weißt du’s noch, Horst?“ Es ist eine rhetorische Frage, das ist spürbar.
Horst lacht und fährt sich, auch mit Mitte Siebzig beinahe noch verlegen bei der Erinnerung, durch die dichten ergrauten Haare. „Tja, bei mir war das etwas kompliziert, damals. Ich hatte viele Freundinnen.“ Inge nickt und zitiert ein wenig abwesend: „An jedem Finger zehn, das wär’ schön.“ Für einen Moment hängen beide ihren Gedanken nach. Schließlich sagt Horst, zu seiner Frau gewandt: „Du hattest aber auch viele Freunde, Inge.“ Sie nickt und ihr Blick geht dabei leicht in die Ferne, wie es scheint auch ihre Gedanken. Als sie schließlich aus ihren Überlegungen an den Tisch zurückkehrt, lächelt sie, und es liegt unglaublich viel in diesem Gesichtsspiel. Ihre alte Spitzbübigkeit, die jetzt, im Alter, nur selten hervorblitzt, ebenso wie eine große Zärtlichkeit, die ihr eigen ist, und manchmal aus jeder Pore zu strömen scheint: „Aber ich war so vernarrt in den Kerl, da wurde einfach nichts aus den anderen.“
Während Horst nach der Schule eine Lehre als Bauschlosser beginnt, arbeitet Inge im Ort in der Schuhfabrik: „Sohlen kleben.“ Eine Ausbildung kommt damals nicht in Frage, obwohl die junge Frau gerne weiter gelernt hätte: Ihre Eltern haben gerade ein Haus gebaut, die Tochter muss helfen, die Kosten zu schultern. Horst geht bei der Familie ein und aus. „Er war immer da“, erzählt Inge, deren Eltern den Burschen gerne mochten. Horst macht sich wieder mit den Händen in den Haaren zu schaffen, als zapfe er dort die Details seiner Erinnerungen ab, und sagt dann mit einem breiten Grinsen: „Und manchmal war ich sogar so lange da, dass ich am nächsten Tag direkt von hier zur Arbeit bin.“ Die beiden sitzen im Schatten auf der Terrasse vor ihrem Häuschen, Inges Elternhaus. Es verspricht, ein heißer Tag zu werden – schon jetzt, am späten Vormittag, sind die Temperaturen auf beinahe 30 Grad geklettert. Horst trägt blaue Shorts, er war heute früh bereits im Garten, Inge trotz der Hitze einen dicken Pullover.
Jahrelang haben sie nach der Hochzeit gemeinsam mit den Schwiegereltern hier gelebt, in der ersten Zeit gehörte auch Inges Großvater zur Hausgemeinschaft, später der gemeinsame Sohn. Der wohnt heute mit seiner Frau und den beiden Kindern nebenan, die Schwiegereltern sind lange tot. Dieses Haus, für das Horst und Inge so viel mitgearbeitet haben, ist den Eheleuten über die Jahrzehnte zum Heim geworden – doch sie haben nicht nur einfache Zeiten darin erlebt. „Wir hatten nicht viel Platz“, erinnert sich Horst an die erste Phase ihrer Ehe, in der zahlreiche Feriengäste die Räume mit ihnen teilen, des Geldes wegen. Denn plötzlich war alles ganz schnell gegangen und die Zeiten, in denen er an jedem Finger ein Mädchen hatte, vorbei: „Wir haben nicht aufgepasst – da ist es passiert.“ Ein Klassiker jener Zeit, urteilen beide mit einem leichten Achselzucken. „Verhütung, das war gar kein Thema.“
Es ist Inges Tante, die Horst die Kunde der Schwangerschaft überbringt. „Ich habe mich nicht getraut“, gesteht sie. Der ist anfangs so gar nicht einverstanden mit der Entwicklung: „Dann habe ich mich gefügt.“ Was in der Erzählung wenig romantisch klingt, bewerten beide in der Rückschau doch als positives Schicksal: „Wir haben eine gute Ehe geführt“, sagt Inge, und klopft wie zur Bestätigung auf die Urkunde zur Goldenen Hochzeit, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Horst betrachtet seine Frau von der Seite. Die Erinnerung an die geteilten Jahre, von denen zuletzt viele auch von ihren Krankheiten überschattet sind, scheint in ihm zu arbeiten. Schließlich hebt er den Blick, und seine Augen sind klar und offen, als er sagt: „Wir lieben uns noch immer. Das ist ganz einfach das Wichtigste.“
Horst ist der Einzige, bei dem die ungeplante Schwangerschaft zunächst keine Begeisterung auslöst: „Inges Eltern waren froh, dass endlich Tatsachen geschaffen wurden, meine waren erleichtert, von vier Kindern das erste unter zu haben“, erinnert er sich. Die beiden heiraten im Frühjahr, im September kommt ihr Sohn zur Welt – er wird das einzige Kind bleiben. „Ich wollte nie mehr haben“, bekennt Horst. „Bei uns daheim war es immer so beengt mit den vier Kindern auf kleinstem Raum.“ Auch Inges Mutter kommt aus einer kinderreichen Familie, es ist quasi eine generationenübergreifend Entscheidung, diese Tradition nicht fortzuführen, in die sich nun Inge fügt. Zumal die junge Familie in dem Haus zu dritt nur ein Zimmer und die Küche bewohnt, überall sonst schliefen ja die Feriengäste. „Wir hatten gar keinen Platz.“ Von Privatsphäre ganz zu schweigen – bis Mitte der Grundschulzeit wohnt und schläft der Sohn bei den Eltern. Erst als die Räumlichkeiten den Ansprüchen der Urlauber nicht mehr genügen – jedes Zimmer ist lediglich mit einem Waschbecken ausgestattet und irgendwann werden für derlei Arrangements Duschen Standard –, endet die beengte Zeit.
Die wohl erste bewusste Zweisamkeit ihrer jungen Ehe erleben Inge und Horst, als sie Mitte der 1960er ein paar Tage Urlaub im Schwarzwald machen – ihr Kind bleibt in der Zeit bei den Großeltern. Mit der Vespa geht es in den Süden Deutschlands, wo sie ein befreundetes Paar treffen. „Das war schön“, sagt Inge und lächelt bei der Erinnerung. „Unser Hotelzimmer lag direkt an einem Bach, der hat vielleicht gerauscht, das waren wir gar nicht gewohnt“, erzählt Horst und lacht. Die beiden Paare unternehmen Tagesausflüge und gehen abends zum Tanz. „Einmal war da ein Typ, der hat Inge immer so angerempelt“, erinnert sich Horst und muss schon wieder lachen, bevor er weiterreden kann: Irgendwann wird es ihm, dem sonst so friedlichen Zeitgenossen, zu bunt. „Da hab’ ich ihm eine geschmiert!“ Der andere verstolpert sich, stößt gegen ein Ofenrohr: „Das bricht aus der Wand. Da haben wir uns echt geschlichen, als wir ins Hotel zurückwollten, der war ja mit einer riesigen Gruppe da.“
Später ist Horst für seine Firma oft auf Montage in der ganzen Welt unterwegs, im Inland darf er seine Frau manchmal mitnehmen. Als ein Trip ihn in die DDR führt, wickelt er sich findig den Arm in einen Verband, um an der Grenze Diskussionen zu vermeiden: „Ich habe gesagt, sie müsse fahren, weil meine Hand verstaucht ist!“ Der Schalk blitzt aus seinen Augen, als er davon erzählt. Inge ist derweil ins Haus gegangen, um sich des dicken Pullis zu entledigen. „Es gab eigentlich immer was zu lachen“, führt Horst seine Erzählung fort. „Inges Vater war im Gesangsverein, die Männer waren oft hier, genau wie die Geschwister ihrer Mutter. Es war einfach dauernd etwas los.“ Er blickt auf die Tür, durch die seine Frau gerade verschwunden ist. Als er weiterspricht, klingt echter Kummer aus seiner Stimme. „Die Inge, das war früher ein sehr lustiger Mensch. Ganz anders als heute.“ Über zwei Jahrzehnte ist es nun her, dass sie erstmals Probleme mit dem Rücken hatte. Eine vollkommen verpfuschte Operation zog viele weitere nach sich, seit ungezählten Jahren war sie keine Sekunde schmerzfrei. Um die starken Beschwerden halbwegs zu kontrollieren, helfen Medikamente, deren Nebenwirkungen längst zum Alltag der Eheleute gehören und ihr Leben stark verändert haben.
Nicht mehr reisen zu können, das ist es, was Horst am meisten bedauert – auch Inge bedrückt dieser Umstand. Sie ist inzwischen an den Tisch zurückgekehrt und trägt nun ein hellblaues Shirt mit kurzen Ärmeln. „Manchmal merke ich gar nicht, dass es heiß wird“, erklärt sie. „Ich sehe nur, dass alle anderen dünner angezogen sind.“ Sie sucht den Blick ihres Mannes, die beiden tauschen ein Lächeln. „Man hat natürlich große Angst davor, wie es ist, wenn am Ende einer von uns gehen muss.“ Aus der Beobachterperspektive haben sie das bereits erlebt, mit Inges Eltern, die sie vor dem Tod jahrelang zuhause pflegte. Horst erinnert sich genau daran, wie es war, als es zu Ende ging mit den beiden: „Ich war damals viel in der Schweiz auf Montage. Jeden Abend haben Inge und ich telefoniert und sie hat bitterlich geweint. Das war eine schwierige Zeit.“ Der sterbende Vater bittet seine Frau damals, nicht zu gehen, bevor er selbst das Leben nicht losgelassen hat. Als es schließlich so weit ist, bekommt die in ihrem Zustand fast nichts mehr mit von seinem Tod und döst bald dem eigenen entgegen.
„Es ist eigentlich jetzt im Alter fast noch schöner miteinander“, bricht Inges Stimme in das Schweigen nach der Erzählung über den Tod ihrer Eltern. „Wir haben ja so viel Zeit.“ Es klingt auch ein wenig trotzig, als ginge es ihr nicht nur um die Zeit, die ein jeder Tag an Stunden bereithält, sondern auch um die, von der sie hofft, das Leben möge sie noch für sie und ihren Horst bereithalten. Der nickt: „Wir waren eigentlich immer froh, uns zu haben.“ Gab es denn keinen Streit, Krisen, nie einen Gedanken daran, ohneeinander weiterzumachen? „Streit und Krisen schon, das ist ja normal“, erklären beide ruhig. „Aber wir haben uns immer ausgesprochen, das war einfach so“, sagt Horst. „Man war mal verletzt oder hat geschmollt“, ergänzt Inge. „Aber dann ging es auch wieder weiter“, vollendet ihr Mann den Gedanken. „Bis heute“, bekräftigt wiederum Inge – und hoffentlich noch weit darüber hinaus.
In liebevoller Erinnerung an Horst,
12. Februar 1939 – 13. April 2017
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