
Da, wo ich herkomme, im hessischen Teil des Odenwaldes, nennen die Leute die „fünfte Jahreszeit“ Fasching. Da, wo ich jetzt lebe, in Wiesbaden, wie sie wollen. Dazwischen achtzehn Jahre Mainz: Fastnacht. Das Wort hatte ich zuvor nie gehört. Nun wurde mir eingebläut, wer andere Begriffe für die närrischen Tage nutzt, werde der Stadtgrenzen verwiesen.
Ich bemühe mich also ums korrekte Wording und die Liebe zur Dollerei; vollends warm bin ich nie damit geworden. Die prägendste Erinnerung an jene Ausnahmetage ist aus der Schulzeit, als zum Schlager „Biene Maja“ plötzlich alle „Biene Mara“ sangen. Zuhause erzählte ich strahlend, ein Song von Karl Gottschalk sei auf mich umgedichtet worden – Namen waren nie meine Stärke.
Jakob verliebt sich in den Bruchweg
Manches ändert sich mit Kindern, in diesem Fall dem Sohn meiner jüngeren Schwester. Der Zauberneffe ist vier Jahre und zwei Monate, als ich ihn zum ersten Mal mit an den Bruchweg nehme, wo er sich unsterblich verliebt. Diese Liebe ist für mich magisch, weil ich ihr viele der schönsten Stunden mit Jakob verdanke.
Zurück zur Fastnacht. Wieso Mainz ein Karnevalsverein ist, musste man mir als Zugezogener natürlich erst erklären. Beleidigung der gegnerischen Fans selbstironisch ummünzen, sowas würde heute jedem Marketingmenschen um die Ohren gehauen, damals hat es funktioniert. Ein echter Don eben.

Jakob findet Fastnacht wundervoll, auch, wenn er sie Fasching nennt. Er verliebt sich in jedes überteuerte Fastnachtstrikot und als er mitbekommt, dass Fans sich im Stadion verkleiden, ist er begeistert: Da müssen wir hin. Ich versuche, herauszufinden, wie dieses gut gehütete Wissen zu ihm durchgedrungen ist, dann fahre ich los, um uns plüschige Riesenkostüme zu kaufen. Wenn ich mir das schon antue, will ich wenigstens nicht frieren.
Pandaaugen, aber in echt
Es ist Februar 2019 und wir stehen als Pandas verkleidet im Block. Jakob, er ist mittlerweile zwölf, liebt alles daran: die Kostüme, die Fahnen, die Fastnachtslieder. Er fragt jeden nicht-kostümierten Fan mit so viel Vorwurf, wieso er normal gekleidet aufgetaucht ist, dass alle Angesprochenen ganz kleinlaut werden. Als ihm irgendwer unvorsichtigerweise erzählt, zum Auswärtsspiel in Berlin kämen die Fans auch im Kostüm, reißt er mit leuchtenden Augen den Kopf zu mir rum: Wir haben Karten für die Partie. Ich ergebe mich innerlich und mache eine mentale Notiz, die Kostüme zu packen.


Drei Tage vor dem Spiel bei Hertha BSC fangen meine Augen an, seltsame Dinge zu tun. Erst schwillt das eine leicht zu, dann das andere stark und am Tag vor der Abreise sehe ich ganz ohne Kostüm aus, wie eine Panda. Ich komme ins Grübeln. Kann ich so mit Jakob die Reise antreten? Er hat sich diesen Ausflug so gewünscht. Auswärts sind wir bisher nur gemeinsam in Darmstadt gewesen, zudem wird es sein erster Flug, er ist total aufgeregt. Ich beschließe, die Entscheidung in allerletzter Sekunde zu treffen.
Am Morgen des Abfluges bekomme ich das linke Auge nur halb auf. Jakobs Blick ist bang. Ich spüre, wie hin und her gerissen er ist: Er will unbedingt nach Berlin, weiß aber nicht, ob er mich darum bitten oder Rücksichtnahme zeigen soll. Ich packe unsere Zahnbürsten in die ansonsten fertigen Koffer, schreibe meiner Familie einen Zettel, knuddle die Katzen – und wir verlassen die Wohnung. Den Zustand des Zauberneffen als aufgeregt zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.
„Den kriegen sie ohnehin nicht!“
Weil ich lange nicht geflogen bin, haben wir viel Zeit eingeplant. Am Flughafen finde ich mich trotzdem erstmal nicht zurecht. Irgendwas ist komisch, mir ist nicht klar, wie diese unfassbar langen Schlangen zustande kommen, wo die Menschen anstehen, was da ist. Als Jakob und ich Hand in Hand durch einen Flur laufen, in dem rechts von uns Menschen aufgereiht sind, ahne ich nicht, dass meine Unbedarftheit uns gerade die Reise rettet. Am Morgen ist ein verdächtiges Gepäckstück in einem Terminal gesichert worden, der Flughafen ist komplett überlaufen, die Menschen neben uns stehen an, um in die Halle zu kommen, in die wir so selbstverständlich hineinspazieren.
Als wir den lichtdurchfluteten Raum betreten, springt uns eine kleine, uniformierte Frau in den Weg und fragt, wohin wir wollen. Ich nenne unser Gate und sie erklärt, wir müssten ans Ende der Schlange zurück und uns anstellen, um korrekt in die Halle zu kommen. Da beginne ich, zu begreifen. Als ich ihr unsere Abflugzeit nenne und frage, ob das wirklich nötig sei, sagt sie: „Den kriegen Sie ohnehin nicht.“ Ich sehe Jakobs aufgerissene Augen, spüre, wie mir ein feiner Schweißfilm den Rücken hinunterläuft und grüble fieberhaft, was ich tun soll.
Als das Funkgerät der Frau knirscht und sie uns den Rücken zudreht, ziehe ich mit dem Mute der Verzweiflung den verdutzten Jakob hinter mir her zu einer Anzeige. Von da bewegen wir uns selbstbewusst auf eine Schlange in der Hallenmitte zu. Ein Ordner kommt und sagt, hier dürften wir erst anstehen, nachdem wir in der vorherigen Schlange… Ich behaupte ohne zu zögern, das hätten wir ja, was das Chaos solle und ob er wisse, wie die Chancen stehen, mit dem Kind, das heute zum ersten Mal fliegt und sich unfassbar freut, noch die Maschine zu kriegen. Dabei ziehe ich den ehrlich verzweifelten Jakob in sein Sichtfeld.
Notlüge für den Zauberneffen
Es müssen dessen große, feuchte Augen gewesen sein: Der Mann lässt uns passieren und gibt uns den Tipp, eine Kollegin anzusprechen, die eben die Schlange abläuft, um Familien mit kleinen Kindern bevorzugt zu behandeln. Jakob flüstert besorgt: „Du hast den Mann angelogen.“ Ich küsse entschuldigend seinen Schopf. „Notfall“, flüstere ich und vermesse mit den Augen die Schlange.
Wir bewegen uns unendlich langsam durch die Halle. Ich habe keine Ahnung, wie nah wir generell am Gate sind und die Zeit tickt unnachgiebig. Irgendwann nähert sich die Ordnerin, der es obliegt zu urteilen, welche Familien sie vorzieht. Ich schubse Jakob in ihre Richtung, der sie fragt, ob er vielleicht weiter vor dürfe, er habe solche Angst, seinen ersten Flug zu verpassen. Dabei weint er und ich möchte mitweinen, weil es ein unvergesslicher Tag für ihn werden sollte, aber bitte nicht so.


Die Frau hat Erbarmen und bugsiert uns mit sich an der Warteschlange vorbei. Je weiter wir Richtung Gate vordringen, umso mehr verkleidete Nullfünfer*innen sehen wir aus der Ferne und es ist eine komplett surreale Situation, zwischen Clowns, Giraffen und Monstern nicht zu lachen und zu tanzen, sondern um jeden Meter zu kämpfen. Mittlerweile sind wir kurz vor der Gepäckdurchleuchtung. Vor uns steht eine sechsköpfige Familie, deren Flieger zwei Stunden nach unserem startet. Auf unsere Frage, ob wir vordürften, verneinen sie. Jakob weint schon wieder und ich blinzle mit meinem zugeschwollenen Auge gegen diesen Tag an.
Als Pandas ins Stadion
Ganz vorn am Band steht ein Mann mit Frau und Kind. Er ruft Jakob zu, ob der Angst vorm Fliegen hätte. „Nein, davor, mit meiner Tante das Flugzeug zu verpassen.“ Der Mann winkt uns vor. Als wir an ihm vorbeilaufen, deutet er auf mein verquollenes Auge: „Für Sie ist das heute nicht der erste beschissene Tag, was?“ Dann lacht er schallend. Ich beiße mir auf die Zunge, wir knallen unser Gepäck aufs Band und einige Minuten später kommen wir mit hängenden Zungen an dem Bus an, der auf die letzten Passagier*innen wartet, um sie zum Flugzeug zu bringen. Sobald wir sitzen, fällt alle Anspannung von Jakob ab. Er erklärt den Umstehenden lachend, dass wir fast den Flieger verpasst hätten. Wir treffen Kerstin, deren Anwesenheit mich unglaublich beruhigt, denn mein Reset dauert länger als das des Zauberneffen.
Im Flieger geben wir unsinnig viel Geld für Essen und Getränke aus und Jakobs Strahlen lässt jedes Flutlicht blass wirken. „Vorhin dachte ich noch, ich fliege nie wieder, aber das ist jetzt schon ganz schön“, erklärt er kauend, während ich immer noch ein wenig nachzittre.

Die große Stadt fasziniert Jakob, noch mehr aber begeistert ihn, dass wir an jeder Ecke eine Handvoll verkleideter Nullfünfer*innen treffen. Wir schlüpfen im Hotel in unsere Kostüme und machen uns als Pandas auf zum Stadion. Mein Auge ist mittlerweile Zweidrittel offen. Jakob redet ununterbrochen, ich komme weder gedanklich noch physisch hinterher. So ist das also, wenn man alt wird, denke ich. Der Zauberneffe dreht sich zu mir um. „Weißt du, wenn du irgendwann nicht mehr laufen kannst, fahre ich dich im Rollstuhl zum Stadion. So, wie du mich getragen hast, wenn ich müde war und nicht mehr laufen konnte.“ Ich spüre mein Herz platzen bei der Vorstellung, noch alt und grau mit ihm ins Stadion zu gehen und bin plötzlich gar nicht mehr müde. Als wir am Stadion ankommen, fühle ich mich leicht.
Etwas, das nur uns gehört
Im Block traut Jakob sich, die Jungs von der Szene anzusprechen. Vincent erklärt ihm, wie sie mit Mülltüten die Klappsitze vierfarbbunt einkleiden und er hilft begeistert. Wir verlieren das Spiel komplett unnötig, aber wen interessiert das an so einem Tag? Danach machen wir uns mit Oli auf in die Kneipe des Berliner 05-Fanclubs, in dem an diesem Abend Stefan Hofmann vorbeischaut und von der Arbeit im Vorstand berichtet.
Irgendwann machen wir uns auf den Weg ins Hotel, wo wir im Bett Pizza essen, bis unsere Augen fast zufallen. Ich döse schon, als Jakob plötzlich nach meiner Hand greift. Er hält sie ins Licht und betrachtet sie lange, dann sagt er feierlich: „Mara, weißt du, was das Schönste ist an Mainz 05?“ „Dass wir immer verlieren?“ Ich kichere, Jakob lacht, dann schüttelt er den Kopf und drückt meine Hand. „Dass es uns beiden ganz alleine gehört. Für immer.“ Meine Panda-Augen werden feucht. Ich drücke Jakobs Hand und flüstere ihm ins Ohr: „Für immer.“
Liebe Wortpiratin,
Danke für diese wunderschöne aus dem Leben gegriffene Geschichte. Ich wünsche Ihnen und Jakob immer viel Sonne in euren Herzen und viele schöne Stunden, die Ihr gemeinsam verbringen könnt. Bleibt allzeit gesund und genießt jeden Augenblick miteinander.
Von Herzen liebe Grüße,
Andreas Lackner
Danke dir für die liebe Rückmeldung!