Freddy aus Berlin

Heute habe ich Post von einem Toten bekommen. Der Brief kam von Freddy, Freddy aus Berlin. Er war der beste Freund meines Papas. Sein Leben lang mit der Steuererklärung beschäftigt. Und er konnte sich meinen Namen nicht merken. Deshalb war die cremfarbene, quadratische Karte auch an ‚Maja‘ adressiert, nicht Mara – darüber musste ich lächeln, als ich begriff, dass sie von ihm war. Lächeln musste ich, bevor ich zu heulen begann, darüber, dass der Brief von einem Toten kam. Der Tote Freddy war. Und all meine Fragen an ihn nun unbeantwortet bleiben würden.

Ich erinnere mich gut an Freddy. Obwohl ich ihn in meinem Leben kaum öfter als fünf, sechs Mal gesehen habe – und was ist das schon. Aber ob ein Mensch uns zu berühren vermag, entscheidet sich eben nicht durch die Anzahl von Stunden, die wir mit ihm verbringen. Mein Papa und Freddy haben früher zusammen in Berlin gearbeitet. So lange ist das her, die Bilder über ihre gemeinsamen Jahre tanzen in schwarz/weiß durch meine Vorstellung. Dabei aber nie blass, sondern voller Leben. Ich glaube, ihr Hunger nach Leben hat die beiden verbunden, als sie junge, erfolgreiche Männer waren, die mit offenen Herzen durch die Welt stürmten, auf der Suche nach dem Glück und der richtigen Frau. Mein Vater glaubte zweimal, sie gefunden zu haben; doch nie: für immer. Freddy fand: die Eine. Doch etwas verhinderte ihr Glück. Und so blieb er für sich, und doch im Herzen nie alleine.

Freddy aus Berlin

Als ich ein kleines Mädchen war und mein Vater sein Büro noch im Untergeschoss unseres Hauses hatte, stand ich manchmal stundenlang voller Faszination vor dem Faxgerät. Aus dem beschriebene Buchstabenblätter purzelten, deren Herkunft ich mir nicht erklären konnte. Unbedingt wollte ich auch einmal so einen Wunderbrief verschicken, und weil er der erste war, auf den mein Papa kam, verschickten wir gemeinsam ein Fax an Freddy. Nur kurze Zeit später knitterte eine Antwort aus der kleinen Maschine, für mich, nur für mich! Ein Wunderbrief, aus Berlin, binnen Minuten. Mit lustigen Reimen, einer liebevollen Skizze, einem kleinen Scherz und: Liebste Grüße, dein Freddy aus Berlin. Wann immer mein Papa mit Freddy sprach, erzählte der von seiner Steuererklärung. Immer gab es da Post, die er beantworten musste, immer Formulare, die es auszufüllen galt. Immer war er mit dem Papierkram Jahre hinterher. So wurde es zu einem geflügelten Wort bei uns, dass Freddy „über der Steuer sitzt“. „Papi, wann besuchen wir mal wieder den Freddy, in Berlin?“ „Da muss ich ihn erst fragen, wie weit er mit seiner Steuererklärung ist.“

Manchmal besuchte er uns auch und dann kniete er im Garten vor der Terrasse, nachdem mein Papa den Rasen gemäht hatte, und schnitt mit einer Nagelschere die Grashalme nach. „Nicht alle, nur die am Übergang zur Terrasse!“ – als könne man darüber stolpern. Er hatte seinen eigenen Kopf. Beim Abendessen aß er mit gutem Hunger und durchschaute uns alle mit einem einzigen Blick. Auf den Kopf sagte er mir und meiner kleinen Schwester im Heranwachsen jeden Wesenszug unserer noch im Entwickeln begriffenen Seelen voraus – und kaum etwas davon ist über die Jahre nicht eingetreten. Als Teenie in Latzhosen besuchte ich ihn einmal mit meiner besten Freundin in Berlin. Kaum fünf Minuten in der großen Stadt, hatte ich den Schlüssel zu seiner Wohnung verloren – und Angst vor einem Donnerwetter. Das nicht kam, einfach ganz und gar ausblieb, weil doch der Schlüssel nun einmal verloren war und was nutzte es da, sich aufzuregen.

Als mein Papa starb, sprachen wir am Telefon und es war traurig, ihn so weit weg zu wissen und doch tröstlich, diesen Kummer mit ihm teilen zu können. „Mädchen, nimm es mir nicht übel, ich werde nicht kommen, ich kann mich schlecht bewegen, das hätte er nicht gewollt.“ Damals war er 79 und ich wusste, er hatte recht – und dass die beiden sturen Männer sich in genau diesen Dingen einig waren, und ähnlich. Sie sprachen sich selten und schrieben sich nie, aber ihre Herzen hätten einander nie verleugnet. In den folgenden Jahren schrieb ich Freddy, wie zuvor, zwei Mal im Jahr: zu Weihnachten und zum Geburtstag. Wann immer ich nach Berlin reiste rief ich ihn an, um mich mit ihm zu treffen. Ich wollte die Geschichten seines Lebens noch einmal hören. Vom jüdischen Vater, der sich wenige Jahre vor Kriegsbeginn umgebracht hatte. Seiner Mutter, die den Krieg überlebte. Und über die Jahre, die er Seite an Seite mit meinem Paps verbracht hatte, wie sie das Leben geliebt, die Arbeit geteilt und in der Berliner Frühlingsluft den Mädchen nachgepfiffen hatten.

„Mädchen, wie schön dich zu hören, ein anderes Mal gerne – ich sitze an meiner Steuer!“, lachte er in den Hörer, wann immer ich mit meinen Reiseplänen anrief. Meldete ich mich an seinem Geburtstag, fragte er jedes Jahr aufs Neue ehrlich überrascht: „Wer erinnert dich denn an so was, wie kannst du dir den Geburtstag eines alten Mannes merken?“ Nun hat er Abschied genommen. Als „letzter seiner Sippe“ mit einem Brief, den er für diesen Anlass vorbereitet hatte. Ich kann ihn sehen, wie er über den klugen, liebevollen letzten Worten sitzt. Die dazugehörige Adressliste pflegt. Zwischen Faxgerät und Steuererklärung. Das Bild ist schwarz/weiß, doch voller Wärme. Im Hintergrund läuft leise Musik. Bye bye, Freddy.

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