Fußballerziehung

Als die Tür zum Gästezimmer sich öffnet, ist es noch nicht einmal sechs Uhr. Im Rahmen steht strahlend der Zwerg und verkündet, er habe „fertig geschlafen“. Ich blinzle gegen das plötzliche Licht in meinem Gesichtsfeld, als es auch schon wieder von seinem Körper verdeckt wird. „Ich hab meine Decke dabei!“, erklärt mein Neffe – und dass er zum Kuscheln gekommen sei. Verschlafen und ein wenig dankbar hebe ich einen Zipfel meiner eigenen Decke an. Wenn der Kleine mich an Besuchswochenenden bei meiner Schwester sonst vor seiner Mama weckt, fordert er meist seine Morgenmilch – und in Gedanken hatte ich schon den ersten Fuß auf den kalten Küchenfliesen. Kuscheln klingt dagegen sehr versöhnlich und nur Sekunden später spüre ich die Wärme des kleinen Körpers ganz nah an meinem. „Hast du auch ausgeschlaft?“, kitzelt mich der Atem meines Neffen am Hals und ich murmle ein müdes „Mhm“.

„Warum schreien wir?“ „Weil wir uns so freuen.“ (Foto: Peter-Smolapixelio/de)

„Warum schreien wir?“ „Weil wir uns so freuen.“ (Foto: Peter-Smolapixelio/de)

Der Kleine dreht sich auf den Rücken, schiebt sich in der Bewegung noch ein wenig näher an mich heran und fragt: „Wann sind wir mal wieder bei deinem Zuhause?“ Gähnend erkläre ich: „Hoffentlich bald, bei mir in der Nähe sind nämlich Pferde, die muss ich dir mal zeigen!“ – die Höfe habe ich selbst erst kürzlich in meiner Nachbarschaft entdeckt. „Und Traktoren.“ „Wo sind die Traktors?“, fragt der Zwerg und ich erkläre: „In den Feldern, weißt du, wenn wir zum Spielplatz gehen und dann über die kleine Brücke.“ In Jakobs Gesicht arbeitet es, ich weiß, er kennt den Spielplatz, bin mir aber nicht sicher, ob er sich an die Felder schon erinnern kann. Mir fällt plötzlich etwas ganz anderes ein. „In den Feldern, da wird jetzt auch das neue Stadion von Mainz 05 gebaut, weißt du. Fußball.“ Das Wort weckt sein Interesse. „Was für ein Fußball?“ Auch ich werde ein wenig wacher. „Mein Fußball, Mainz 05. Du hast doch den roten Schal an deiner Hängematte, weißt du, welchen ich meine?“

Jakob gähnt und deutet auf das Dachschrägenfenster. „Wieso ist da offen?“ Ich folge seinem Blick und erkläre: „Weil ich gerne in den Himmel gucke.“ „Wieso?“, will der Zwerg wissen. „Weiß nicht, ich mag das einfach.“ Und: „Weißt du, welchen Schal ich meine? Ich hab so einen in kleiner auch am Autofenster.“ Mein Neffe schaut weiter grübelnd zum Dachfenster hinaus. „Gell, im Himmel ist der Opa Jürgen?“ Mein Herz wird ganz leise. „Ja“, sage ich einfach und der Kleine strahlt mich an. „Das ist dein Papa und der ist tot, aber mein Papa ist nicht tot!“, erklärt er mir enthusiastisch seine gesammelten Weisheiten. Ich küsse ihn auf die Nase. „Nein, ist er nicht, und das wird auch noch lange so bleiben.“ Da kommt der Zwerg plötzlich unerwartet zurück zum Fußball. „Hast du auch ein Tor geschossen?“ Ich muss lachen. „Nein, ich spiele doch gar nicht.“ „Auch nicht im neuen Stadion, im Feld?“, wundert sich mein Neffe. „Nein, ich gucke nur zu. Und bald nehme ich dich mal mit. Da hängen wir uns die Schals um, und wenn dann ein Tor fällt schreien wir ganz laut, aber du brauchst dich nicht erschrecken.“

„Warum schreien wir da?“, will Jakob wissen. „Na, weil wir uns so freuen.“ „Und was ist das?“ Fragend zupft er an einem hellen Träger, der über mein Schlüsselbein unterm T-Shirt verschwindet. „Das ist ein Trägershirt.“ „Warum hast du das an?“ „Weil es heute Nacht kalt war“, erkläre ich und versuche, zum Thema zurückzukommen. „Aber bevor das neue Stadion steht, nehme ich dich mal mit ins alte. Das heißt Bruchweg.“ „Hast du auch einen BH an?“, fragt der Kleine, einen Finger immer noch an dem dünnen Träger. „Nein. Und im Bruchwegstadion, da nehme ich dich mit in meinen Block. So heißen die…“ „Warum?“, unterbricht mich mein Neffe. Ich bin kurz davor, den Faden zu verlieren. „Warum was?“ „Warum hast du keinen BH an?“ „Weil das beim Schlafen total unbequem ist“, gebe ich einen minimalen Einblick in die Tücken weiblicher Bekleidungsordnung. „Und der Block heißt Q-Block.“ Doch mein Versuch, erneut an das Thema Fußball anzuknüpfen, wird vom Rauschen der Klospülung unterbrochen. „Mama?“, ruft Jakob, knapp neben meinem Ohr. Und noch mal, lauter: „Maaa-maaa!“

Gähnend kommt meine Schwester zu uns ins Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. „Ihr seid ja schon wach!“, murmelt sie schläfrig. „Ja, und die Mara guckt gern in den Himmel!“, verkündet mein Neffe. „Und was noch?“, frage ich. Er überlegt kurz. „In den Feldern“, helfe ich nach. „Pferde besuchen!“, strahlt der Zwerg und ich beschließe, die Fußballerziehung für heute aufzugeben. Vielleicht ist es noch zu früh, denke ich, während meine Schwester nach unten geht, um ihrem Sohn die Milch zu machen. Nicht am Tag, sondern in den Jahren. Vielleicht muss ich noch ein, zwei davon abwarten, bis ich mit dem Thema anfange, ihn mitnehme oder versuche, den Zwerg für Aufstiegsgeschichten zu begeistern.

Viele Stunden später stehe ich vor dem Spiegel im Gästezimmer und schminke mich. Wir haben es alle ein wenig eilig, denn wir sind eingeladen und schon spät dran. Da höre ich plötzlich Jakobs Stimme aus dem Flur, er ruft: „Guck mal Mara, ich hab mich schick gemacht!“ – laut und so freudig, dass ich sein Strahlen schon spüre, bevor er das Zimmer betritt. Und da steht er also, der beste Zwerg der Welt. In blauen Boxershorts, seinem schicken Hemd und dem dunklen Pullunder, alles Dinge, die meine Schwester ihm für die Feier rausgelegt hat. Und um den Hals trägt er seinen Schal, den Schal, in leuchtendem Rot und Weiß, mein Weihnachtsgeschenk, das sonst über seiner Hängematte baumelt: „Guck mal“, strahlt er, und kitzelt mich mit den weißen Troddeln der 05-Wolle am nackten Bein. Und noch mal, stolz: „Guck doch mal, wie schick ich bin, zum Fußball!“

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