Happy birthday, kleine Schwester!

Manchmal denke ich an früher und dabei fange ich irgendwo in der Mitte an und wandere dann erst immer weiter zurück und schließlich wieder vor, bis zur Mitte und dann bis heute. Heute, das ist am schönsten. Heute sind du und ich erwachsene Frauen und die Liebe, die wir füreinander im Herzen tragen, ist so sicher und fest, kein Lebenssturm wird ihr je etwas anhaben können. Heute haben du und ich unsere Wege gefunden, einander dabei zur Seite gestanden, unter die Arme gegriffen und uns gegenseitig Probleme aus dem Weg geräumt.

Früher, also ganz früher, ging das auch genauso los, mit dieser großen, unerschütterlichen Liebe. Meine ersten Erinnerungen haben mit dir zu tun. Damit, dass ich von dir erzählt bekomme, noch bevor du da bist. Von meinem Besuch bei dir im Krankenhaus. Weiß ich es tatsächlich noch selbst, wie ich mich an deinem Bettchen hochziehe, um dich ganz genau zu betrachten? Oder haben es mir die Erwachsenen erzählt? Dein Babygeruch. Dein Grinsen. Du musst damit auf die Welt gekommen sein und es hat jeden Raum erhellt, in den du gekrabbelt bist, nachdem unsere Eltern dich mit nach Hause gebracht hatten.

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Frühe Kindheit. Du und ich und um uns herum erste Brüche, aber so kompliziert, dass wir uns einfach davon abschirmen. Auf der Straße spielen, erst mit den gelben Dreirädern die älteren Nachbarsmädels verfolgen, dann auf den Fahrrädern zu ihnen aufschließen, schneller, immer schneller, überholend gar, bis du stürzt, über den Lenker fliegst. Du hast mit deinem Gesicht gebremst, sagen die Ärzte damals und die Wunden trägst du lange mit dir herum. Neben diesen äußeren Wunden sammeln wir in jener Zeit innere, weil wir immer mehr von dem verstehen, was die Erwachsenen einander an den Kopf schmeißen, es uns Angst macht davor, wie es weitergeht. Doch da ist immer die Hand der anderen, warm und weich, die eigene umschließend. Geflüsterte Gesten gegen das schwere Herzklopfen. Ich bin da. Dir kann nichts passieren.

Schöne Tage, helle Tage, lachen. Hoffnung. Dunkle Tage, schwere Tage, weinen. Angst. Ich, die ich nicht alleine schlafen mag. Die Wandermatratze, in der Mitte zusammenklappbar, mit der ich abends vor deiner Zimmertür stehe. Ein bisschen verschämt, schließlich bin ich doch die Große. Dürfte ich vielleicht bei dir … Oder, besser noch, würdest du vielleicht bei mir … ? Viele Nächte atmen wir so die Luft desselben Raumes und immer bin ich unendlich dankbar dafür. Wenn die Nacht uns dunkel umschließt, purzeln viele Fragen aus deinem Mund, über unsere Eltern, das Heranwachsen, die Welt, die uns umgibt. Dann bin ich die Große, reiche dir mit Worten meine Hand, so wie du mir zuvor mit deiner Nähe. Und so werden wir älter.

Die Pubertät, eine seltsame Zeit. Für jede von uns anders, nie werden die Unterschiede zwischen uns so deutlich wie damals. Du kostest von der ersten Liebe, ich sitze mit Papis Zigaretten im Kirschbaum und lese Buch um Buch. Beide lernen wir, Fluchtwege zu finden, wenn die Enge zuhause bedrückend wird im Streit der Erwachsenen. Als ich irgendwann müde bin vom vielen Schlichten und Ausbalancieren, flüchte ich für ein Jahr nach Amerika. Wir vermissen einander fürchterlich und die Briefe, die zwischen uns hin und her gehen, kann mein Herz bis heute buchstabieren. Das Wiedersehen ist zart und feierlich, doch die kommenden Jahre werden uns Kraft kosten. Das Ja-Nein-Doch der Eltern, Tränen, Umzüge, Krankenhäuser, Verantwortung und irgendwann auch jede Menge Wut mit dieser Überlastung.

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Wir bleiben einander treu und müssen doch stärker kämpfen. Die Wut schleicht sich auch in die Beziehung zueinander und als junge Erwachsene durchleben wir Phasen der Distanz. Und plötzlich stirbt unser Paps. In der dunklen Welle, die droht, uns unter Wasser zu drücken, schwimmen wir aufeinander zu und helfen uns gegenseitig an Land. Ich strecke meine Hand nach dir aus und du nach mir und seither haben wir einander nie mehr losgelassen. Wir haben die guten Phasen gemeinsam genossen und einander in den schwierigen gestützt. Deine Kinder haben unsere Beziehung nochmals vertieft, und wenn ich dich mit ihnen sehe, läuft mein Herz über vor Liebe. Aber auch unsere ureigene Verbindung ist stärker geworden, das Interesse an der anderen noch wacher, das Verständnis füreinander tiefer.

Wir beide haben miteinander gelernt, was Liebe heißt, ein wenig auch an einem hilflos schlechten Beispiel, ja. Aber die Kraft unserer Herzschläge ist Beweis genug dafür, was auch gut war und die Unverdrossenheit, mit der wir an unser eigenes, gutes Ende glauben das Beste, was wir aus dieser wilden Kindheit mitgenommen haben. Du bist herangewachsen zu einer Frau, die bedingungslos liebt, das Leben mit einer Entschlossenheit wuppt, die mich erstaunt und die es geschafft hat, die besten Eigenschaften jedes Elternteils für sich zu adaptieren. Deine Leidenschaft und Hingabe beeindrucken mich, für deinen Mut und die Entschlossenheit bewundere ich dich – und für alles, was du bist, liebe ich dich. Für immer und jetzt.

Deine große Schwester

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