Jockel [… leave a piece of you with me]

Als ich ein kleines Mädchen war, arbeitete mein Paps für eine Firma in Berlin. Über Berlin wusste ich nur zwei Dinge: „große Stadt“ und „weit weg“. Ich vermissten ihn furchtbar, wenn er wieder lange Tage, manchmal sogar Wochen, nicht bei uns zu Hause war – und bei seiner Rückkehr gab es jedes Mal ein großes Hallo. Oft wurde es Nacht, bis er auf seiner Rückreise aus der großen Stadt endlich daheim ankam. Wir Kinder lagen dann längst in unseren Betten und meist haben wir schon geschlafen, doch das hätten wir nie zugegeben, wollten wir uns doch endlich wieder an die starke Papibrust schmiegen können, wo es nach Pfeife roch. Nach dem Leder der Jacken, die er trug. Nach der großen, weiten Welt da draußen, von der wir noch nichts wussten. Nach Liebe und Geborgenheit. So bestanden wir stets flehentlich darauf, ihn bei seiner Rückkehr noch begrüßen zu dürfen. Und egal wie spät es wurde, irgendwann in der Nacht würden sich die Türen zu unseren Kinderzimmern, in denen wir gegen den Schlaf strampelten, einen kleinen Spalt öffnen, sodass zunächst ein wenig Licht hereinfiel, von dem wir wie ein voreingestellter Videorekorder sofort wieder wach waren, sollte der Schlaf uns doch erwischt haben. Dem Licht schließlich folgte leise, sacht, sein Kopf, den er durch den Türspalt ins Zimmer schob – womit er helle Begeisterung auslöste. Und: Neugierde darauf, was er uns aus der großen Stadt mitgebracht hatte, denn er kehrte nie mit leeren Händen heim.

You are everywhere I look. (Foto: Hersteller)

You are everywhere I look. (Foto: Hersteller)

„Hallo Papi!“ flüsterte ich dann, aufgeregt, „Papi, hast du mir was mitgebracht?“ Ich konnte meinen Paps selbst im Halbdunkeln lächeln sehen, wie er sich auf mich zubewegte, um mich für meine Frage durchzukitzeln – und dabei vorgab, enttäuscht zu sein, weil ich mich gar nicht für ihn interessierte, sondern nur für sein Geschenk. Anschließend blieb er immer eine Weile sitzen, erzählte von der großen Stadt und seinen Kundenfahrten und ich lauschte gebannt, bevor ich meinerseits erzählte, von den Dingen, die ich in seiner Abwesenheit erlebt hatte. Als er schließlich die Tür ebenso leise wieder hinter sich schloss, wie er sie Minuten zuvor geöffnet hatte, wollte ich ihm die Frage nach dem Geschenk nachrufen. Doch da spürte mein Kopf etwas Weiches, Warmes, direkt neben meinem Gesicht – einen kleinen Plüschhund, den er unbemerkt bei mir liegengelassen hatte. Ich taufte ihn auf den Spitznamen, den mein Vater als kleiner Junge getragen hatte: Jockel – und ich liebte meinen „Berliner“ innig. Bald war er durchgelegen und plattgeliebt von meinen innigen Umarmungen. Der Sommer begann und mit ihm die Tennissaison. Tagelang jagte mein Vater nun in seiner freien Zeit den gelben Bällen hinterher – bis zu dem einen, als ihn beim Spiel ein Herzinfarkt erst taumeln ließ, dann fallen und im gefräßigen Schlund des herbeigeeilten Krankenwagens verschwinden. Als wir ihn zum ersten Mal in der Klinik besuchten, trennte ich mich von meinem geliebten Jockel und hinterließ ihn am Krankenbett, damit mein Paps nicht alleine an diesem schrecklichen Ort bleiben musste. Über die Jahre wurde daraus ein selbstverständliches Ritual: Immer wenn das Herz meines Vaters aus dem Takt geriet, wechselte das Jockelchen von meinem Kopfkissen zu seinem, ins Bett einer Klinik. Mit der Zeit schien er sogar ein wenig nach Krankenhaus zu riechen, egal wie oft er sich in der Waschmaschine tummelte.

Als ich älter wurde, landete der Plüschhund ein wenig herzlos in einer flachen Kiste unter dem Bett, gemeinsam mit Puppen, Teddys und allerlei anderen Gefährten aus Kindertagen. Irgendwann war ich zu alt geworden, um nachts einen abgewetzten Plüschhund mit einer gelben Weste im Arm zu halten – und ihn meinem Vater jedes Mal wieder ins Krankenhaus zu bringen, erschien mir auch nicht mehr passend. Dann aber, als ihm am Tage nach seinem 65. Geburtstag in einer komplizierten Operation mehrere Bypässe gesetzt wurden, stand ich in einem Anflug hilfloser Nostalgie doch wieder mit dem eingestaubten Plüschtier an seinem Bett, verlegen grinsend, weil der doch immer Glück gebracht hat. Mein Paps grinste zurück. Er hat die Operation überlebt und mein Jockel ist danach einfach bei ihm geblieben, ohne, dass wir ein Wort darüber verloren haben. Später, als mein Vater wieder nach Hause zurückgekehrt war, habe ich ihn dort gesehen: er hat im Schlafzimmer auf dem Bettrand gelegen, als treuer Wächter, der bei Nacht immer ein Auge auf meinen Paps hatte. Er hat den Schlaf meines Vaters bewacht bis zu dessen Tod. Als wir Geschwister am Morgen danach im Haus unseres Papis ankam, habe ich ihn gesehen, immer noch auf dem Bettrand – er war das einzige, was ich an dem Tag von dort mitgenommen habe. So ist er nun zu mir zurückgekehrt, ist es wieder mein Kopfkissen auf dem er sitzt, bin ich es, auf die er ein Auge hat. Nach Krankenhaus riecht er längst nicht mehr. Aber, wenn ich die Augen schließe und meine Nase tief in sein verwetztes Fell wühle, finde ich darin alte Gerüche wieder. Nach Tabak duftet es da, ein bisschen zumindest. Nach Leder, auch. Nach Liebe und Geborgenheit. Nach Papi eben.

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