Lilly, Max. Und Jan…

„Hi“, sagt Jan, fast ein wenig schüchtern, als Lilly ihm die Tür zum Innenhof ihrer neuen Bleibe öffnet. „Hi“, antwortet Lilly und schiebt ein schnelles, „Mensch, wie lange haben wir uns denn jetzt nicht gesehen?“ hinterher, während ihr wieder auffällt, wie klein er ist. Er ist immer kleiner gewesen als Lilly, daran erinnert sie sich nun, genauso wie an seinen Bruder Max, der vielleicht noch etwas kleiner ist als Jan. Fünf lange Jahre haben die beiden sich nicht gesehen – im Grunde auch davor nie wirklich gekannt. Getroffen haben sie sich vor sieben Jahren im Sommer, damals war Lilly gerade dabei, mit ihrem Mitbewohner anzubandeln – und der hatte sie mitgenommen nach Köln, wo sie seine Clique kennenlernte. Jan war ihr gleich aufgefallen, aber dann eben doch nur so halb, denn sie war ja beschäftigt mit Kalle, dem Mitbewohner. Küssend und vom Glück gestreift; nur, dass es den Moment nicht überdauerte, in dem sie ihn mit Inga überraschte.

Aus einem Bauchgefühl heraus war sie damals nach Köln gefahren. Hatte dort ungezählte Wochenenden mit der Ex-Freund-Clique verbracht. An einem davon lernte Lilly Jans Bruder Max kennen, der so anders war: Als Jan, aber auch als alle anderen Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Er war Schreiner. Seine Hände rochen nach der Fettcreme, mit der er sie abends nach der Arbeit einschmierte, der ganze Kerl roch nach Holz, nach Urlaub in Kanada, nach anlehnen und sich wohl fühlen, nach Schutz und Geborgenheit. Und Lilly brauchte Schutz. Den aber konnte sie bei Jan nicht finden – und so gab auch sie ihm nichts mehr. Keine verspielten SMS, keine klugen Gespräche, kein scheues Lächeln mehr auf dem Weg zum biergefüllten Kühlschrank. Stattdessen aber: sich dem Bruder hin. Der Lilly jedoch auch nicht beschützen konnte, weil unter dem Holzfällerhemd ein verletztes Herz voller Narben schlug; das hatte sie übersehen. Genau wie die Tatsache, dass Max nicht mit dem Herzen auf sie reagiert hatte, sondern mit seinem Schwanz, der schön war und sie glücklich machte, doch nur für die Länge einer Nacht.

Foto: Radka Schöne/pixelio.de

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Jan aber war so weit gekommen auf seinem Rückzug in der Nacht, die Lilly mit seinem Bruder verbrachte, dass daraufhin nun er für lange Monate nicht auf sie reagieren wollte – ihre abermals durch die Winterluft gefeuerten SMS nicht beantworten und keine klugen Gespräche gewähren. Irgendwann hörte das Ignorieren auf, doch weder Jan noch Lilly stellten je die Frage nach einem Treffen. Es war ein verbotenes Areal, sie wussten es beide, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Bis jetzt plötzlich, wie aus dem Nichts dieses Wiedersehen, in jener fremden Stadt, die Lilly vor einer Woche in ihr pulsierendes Inneres gesogen hatte. Da steht er nun, Jan – und Lilly spürt mit einem Blick in sein offenes, verletzliches Gesicht, das noch nie fähig gewesen ist, Geheimnisse zu bewahren, dass er immer noch gerne der Eine wäre: der ihre. Sie mogeln sich durch den Tag. Lächeln, aneinander vorbei und schauen sich nicht in die Augen – weil sie zu feige sind um dem standzuhalten, was es dort zu sehen gibt.

Jan ist Chirurg, seine Hände sind blass und sehr feingliedrig und Lilly sieht sie an und sieht die Hände seines Bruders, spürt wieder, wie sie ihr heiß über den Körper gerannt sind in jener Nacht. Während Jan schafft, was Max nie gelungen ist: sie mit Worten zu verzaubern. Der Abend geht langsam in die Nacht über, doch egal wie viele Biere Jan und Lilly in ihre vom Reden trockenen Hälse schütten, etwas bleibt bestehen, das beide beklemmt. Sie will nicht, dass er geht, erträgt nicht zu wissen, dass er bleibt. Sie möchte das Besondere in ihm erkennen, ihn erlösen – und sich. Wünscht sich, dass auch er sie erkennt, sich verliert in ihr – und weiß doch, er hat sie nicht erreicht; wieder. Etwas ist in seinem Wesen, wogegen Lilly sich sperrt, was sie fürchtet und nicht aus der Versenkung holen möchte.

Eine Nacht lang lernen sie Menschen kennen, in den Clubs und Bars, die sie durchstreunen. Lilly flirtet, spürt seine Eifersucht, wohlig fast, entzieht sich ihm und lässt doch nicht los, bis sie endlich, in den frühen Morgenstunden, atemlos durchs Treppenhaus in ihre neue Wohnung wirbeln. Wo er ohne Vorwarnung beginnt, sie mit feindseligen Worten zu überhäufen, aus denen seine Wut auf die anderen Männer spricht, deren Blicken sie sich hingegeben hat. Lilly aber macht sich nur lustig über seine Eifersucht. Als er leicht nach ihr schlägt spürt sie, wie etwas durch die Luft geflogen kommt – nicht nur seine Hand, die sie leichtfertig abwehrt. Sondern auch eine hilflose Wut, zusammengeschnürt und platt gesessen, über Jahre schon. Und hält seine Hand, hält zum ersten Mal auch seinen Blick und gleich darauf sein Gesicht an ihrem, als er sich auf sie stürzt wie ein hungriges Tier, mit seinen Küssen frisst, zerbeißt und erregt, während seine feingliedrigen Hände über ihren Körper rennen, als seien sie auf der Flucht vor der Courage, die sie so plötzlich antreibt.

Als Lilly am nächsten Morgen wach wird, erinnert sie sich stumpf daran, wie er die Nacht in ihrer Mitte abrupt beendet hat, um Lilly seinen Respekt zu beweisen. Zu zeigen, er ist anders als sein Bruder – überlegt und überlegen: „Lass uns das lieber machen, wenn wir nüchtern sind“, spricht er, gegen den Willen seiner Hände und den ihres erregten Körpers. Sie spürt seine Nähe, nur unweit ihrer eigenen Wärme und hofft, wenn sie sich noch eine Weile schlafend stellt, wird er weg sein; doch er geht nicht, klebt am Bett wie ein alter Kaugummi. Während sie an den anderen denkt, mit dem karierten Holzfällerhemd und daran, wie ihr Herz an ihm gebrochen ist, ganz leicht. Damals, als er sie nicht beschützen wollte; nur vögeln.

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