Mein Haus am Ende der Straße

Nachdem ich aus der Heimat, in die ich hineingeboren wurde, ausgezogen war in eine, die ich mir selbst suchte, wurde ich bei meinen Freunden bald als Wandernomadin bekannt. Etwa einmal pro Semester – so rechneten wir damals – packte ich meine Kartons und suchte mir ein neues Dach über den Kopf, weil das alte nicht mehr zu mir passte; nur einmal blieb ich etwas länger, doch dann zog es die beste Mitbewohnerin der Welt in ein fernes Land – und mich drei Straßenzüge weiter. So ging das, bis ich mich verliebte. Zuerst in einen Mann, der mir schon zwei Jahrzehnte voraus gelebt hatte. Dann zeigte er mir seine Wohnung und ich blickte an dem braunen Haus empor, lugte ums Eck in Richtung Güterbahnhof und sagte: „Hier wollte ich wohnen, seit meine Füße mich zuerst in diese Stadt trugen“ – denn so war es. Oft hatte ich bei Spaziergängen oder Radausflügen in die Fenster des Gebäudes geschielt und mich gefragt, was das für Menschen waren, die ihre Schaukelstühle in den wunderschönen runden Erkern aufgestellt hatten.

Abschied von den Wänden, die mir Heimat gaben. (Foto: WP)

Abschied von den Wänden, die mir Heimat gaben. (Foto: WP)

Bald darauf suchte ich gerade wieder nach vier Wänden, zwischen die meine Möbel und Träume passten, doch unter keinem Dach floss genug Luft für meine durstigen Lungen. In einem April, bei Dreharbeiten in Dijon, klingelte mein Handy und daraus sprach der alte Mann, den ich mittlerweile zu lieben glaubte, den Satz: „Die Wohnung im vierten Stock ist freigeworden. Was meinst du?“ Ich meinte, dass es Irrsinn war, mich verschlucken zu lassen von seiner Nähe, doch als ich die Wohnung eine Woche darauf betrat, zum ersten Mal über den Dielenboden glitt und aus dem vierten Stock auf die Kreuzung blickte entflammte mein Herz für sie; im Juni desselben Jahres zog ich ein. In lauen Sommernächten huschten meine Füße in den Monaten darauf über ausgelegtes Zeitungspapier, schwang ich bei offenem Fenster darauf nachts die Pinsel und bemalte meine Wände, lackierte Möbel, schrubbte Fußbodenleisten und putzte Dielen – und um mich herum wuchs das erste Zuhause, in dem ich ein Ankommen verspürte. Und mich so wagte, die braunen Umzugspappkisten der Vergangenheit erst in den Keller zu räumen, dann sogar zu verschenken.

Sechs Stockwerke, siebzehn Wohnungen und ein Laden, sechs Jahre, drei Monate und achtzehn Tage – und ein Strauß voller Geschichten und besonderer Momente, in einem Haus, dessen Bewohner mir in fünfundsiebzig Monaten so vertraut geworden sind. Da ist der alte Mann im fünften Stock, der jeden Tag zu seiner Frau auf den Friedhof fährt, seit vielen Jahren schon. Klein und schmal, mit einem feinen Schnapsatem, begegnet er mir im Hausflur und seine trüben Augen leuchten auf, wenn wir uns unterhalten. Manchmal füllen sie sich auch mit Tränen, immer dann wenn die Erinnerung an verlorene Zeiten und Lieben zu stark wird, dann ruht sein Kopf für einen Moment an meiner Schulter, und wenn er sich wieder aufrichtet, ist das Strahlen in seine Augen zurückgekehrt. Da ist das Ehepaar in der Wohnung ihm gegenüber, dessen Wohnung noch mit einem Kohleofen beheizt wird, für den der wortkarge Mann im Winter oft stundenlang den Lastenaufzug betätigt. Deren Söhne mit ihren bildhübschen Frauen und drolligen Kindern die beiden oft besuchen, und wenn sie wieder gehen steht die gütige Frau am Fenster, um ihnen nachzuwinken; und das Lachen ihrer Enkel klingt von der Straße hinauf in meine Wohnung.

Da ist die alte Dame im dritten Stock, die schon länger in diesem Haus wohnt, als manche Ehe währt – goldene Hochzeit können sie und ihre Wohnung im nächsten Jahr feiern. Und daneben die Mutter mit ihren beiden Söhnen, die ich sechs Jahre lang aufwachsen gesehen habe, von übermütigen Grundschülern zu Teenagern, die mittlerweile die Wochenenden in Abwesenheit der Mama auch mal alleine daheim verbringen dürfen. Und die dann die Musik aufdrehen, was mich nicht stört, weil sich umgekehrt auch niemand beschwert, wenn mir Leonard Cohen nachts um halb drei noch „Suzanne“ vorsingt. Da ist die ehemalige Erzieherin im dritten Stock, die seit über vierzig Jahren im Haus wohnt und sich darum kümmert, dass alles hier seine Ordnung hat. Mit bunten Zetteln, die zuweilen wütend klingen und Drohgebärden, über die ich mich anfangs ärgerte – bis ich begriff. Wie viel das alles ihr bedeutet und welch großes, gutes Herz unter ihrem Hausmantel schlägt, das sich oft einsam fühlt; so wurden wir zu Treppenhausratschen, sie und ich, unbesehen der dreieinhalb Jahrzehnte die uns trennen, und haben unzählige Plaudereien am kühlen Geländer geführt, von dem seit langem die Farbe abblättert.

Da ist die Frau im ersten Stock, die vor zwei Jahrzehnten aus der Türkei in die Stadt am Rhein kam und immer Besuch bekommt, von ihren Kindern aus der Stadt nebenan, oder ihrer Verwandtschaft vom fernen Bosporus. Die ich häufig in der Stadt treffe – und es hat ein paar Jahre gedauert, bis sie mich auch dort erkannte und nicht nur unter dem Dach, das wir teilen, sie im ersten, ich im vierten Stock. Und da ist der kleine, runde Italiener, der im Erdgeschoss ein Klamottengeschäft betreibt, wo er immer meine Pakete entgegennimmt, wenn ich nicht da bin und auch meine Lieblingstreppenhausratsche aus dem dritten Stock auf das Klingeln des Mannes im gelben Sprinter nicht öffnet. Wenn ich die braunen Wunderkisten dann bei ihm abhole, strahlt er unter seiner goldenen Brille hervor und ruft laut, „Ciao, Bella, wie geht es Ihnen, meine liebe, schöne, junge Frau?“, und immer muss ich lachen und dachte schon oft, es sollte ihn auf Rezept geben, denn nichts ist besser für müde Geister und überspannte Nerven, als die donnernden Komplimente meines kleinen, dicken Italieners.

Sie alle haben mich gehalten, als das mühsam erbaute Konstrukt zwischen mir und dem Mann, den ich einst zu lieben glaubte, längst zerbrochen war und seine alte Wut mir tiefe Wunden ins junge Fleisch geschlagen hatte. Da wollte ich zuerst gehen, herausfliehen unter dem Dach, das uns einte, mich hoch über den Wolken und ihn am Boden – doch andererseits, was wog er alleine schon gegen all die wundervollen Menschen, die mich hier umgaben; und so bin ich geblieben. Nun aber ist die Zeit im runden Erker vorbei, die Ratschereien mit meiner Gesprächsfreundin aus dem dritten Stock, die heimlich durchs Treppenhaus getragenen und unter Fußmatten versteckten Nikoläuse oder die Eisenbahngeschichten des alten Herrn, fünftes OG links – denn nach sechs Jahren, drei Monaten und achtzehn Tagen werden es ab nächstem Monat andere Wände sein, zwischen denen ich mein Heim einrichte und neue Menschen, denen ich im Hausflur begegne.

Darauf, den bisher fremden Ort mit meinen Erinnerungen zu bemalen und meiner Zukunft zu füllen, freue ich mich ungeduldig; dies’ Fleckchen Heimat in meinem Haus mit dem runden Erker aber – niemals werde ich es vergessen.

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