Als meine Mutter mit mir hochschwanger war, fragte eine Bekannte meiner Eltern die beiden, ob sie schon eine Babysitterin hätten? Falls nicht, die Freundin ihres Sohnes lerne Erzieherin und sei noch auf der Suche nach Jobs. So einfach bist du in unsere Leben gekommen. Als Erstes warst du tatsächlich unsere Babysitterin, oder besser, wart ihr unsere Babysitter: Du und dein Freund habt, noch unverheiratet, eure Partywochenenden damit begonnen, erst auf mich, später auf mich und meine kleine Schwester aufzupassen, bis unsere Eltern von ihren Verabredungen zurückkehrten. Du warst gerade 17, als ich auf die Welt kam, Rainer 19. So lange ich denken kann, seid ihr immer da gewesen. Und wenn der Himmel unserer Kindheit sich verdunkelte, warst du der helle Stern, an dem wir uns orientieren konnten, der uns Trost spendete.
Es kam der Punkt, an dem eure Pläne fürs Wochenende sich nicht mehr damit vereinbaren ließen, auf zwei kleine Mädchen aufzupassen. Doch du wolltest uns auch nicht abgeben und schlugst so meine Eltern vor, deine Mutter könnte als Kinderfrau ein neuer Mensch in unserem Leben werden. Unsere Eltern stimmten zu und die deinen wurden ein Teil der Familie. Ich kann nicht mehr sagen, wieso du die zwei Mutti und Vati nanntest, wohl aber weiß ich, die Begriffe waren uns fremd und wir brachten sie nicht mit Eltern in Verbindung. Deswegen sagten auch Nina und ich bald Mutti und Vati zu den beiden, was für allerhand Verwirrung sorgte, wenn sie uns beispielsweise von der Schule abholten und für unsere Eltern gehalten wurden.
Noch lange vor der Schulzeit zogen wir Schwestern uns am Ende der Besuche bei deinen Eltern regelmäßig splitternackt aus, wenn unsere Mutter zum Abholen kam, und versteckten unsere Klamotten in Schrankfächern und Sofaritzen. Weil wir glaubten, dann nicht mit nach Hause zu müssen, sondern bei Mutti bleiben zu können. Dort aßen wir Stachelbeeren aus den Büschen und Sauerkirschen aus den Bäumen, und wir fanden Zuflucht, wenn die Situation zuhause uns wieder mal verwirrte. Wenn wir Mädchen bei deinen Eltern übernachteten, schliefen wir im ersten Stock in deinem Kinderzimmer. Nachts fürchteten wir uns manchmal in der fremden Umgebung, dann liefen wir hinunter ins Erdgeschoss. Aber dort machte uns der schwere, rote Samtvorhang vor dem Schlafzimmer noch mehr Angst als die bösen Träume und wir schlichen zurück in dein Bett, das auch Jahre nach deinem Auszug noch roch, als hättest du gerade darin gelegen.
Als in meiner wilden Teenager-Zeit die Mode der 70er mitten in den 90er Jahren anklopfte, warst du es, die mir zu kompromissloser Stilsicherheit verhalf, in dem du tütenweise alte Schlaghosen vorbeibrachtest. Und während ich meine Beine in die Hosen deines Mannes steckte, waren es deine abgelegten BHs, die mir eine erste Ahnung davon verliehen, was mich erwartete, wenn aus dem Mädchen, das ich war, eine Frau werden würde. Sie flüsterten mir die Geheimnisse zu, die ihr miteinander erlebt hattet, und bereiteten mich vor auf das, was da kommen würde.
Im Krankenhaus hat der letzte BH, den du getragen hast, achtlos in einer Tasche neben deinem Bett gelegen. Er wartete darauf, sich wieder an dich zu schmiegen, so wie die saure Limonade den Glauben nicht aufgeben wollte, noch von dir getrunken zu werden. Doch du warst in nur wenigen Tagen so schwach geworden, dass du nur noch wenig wahrgenommen hast. „Es ist Zeit“, hatte dein Mann mir am Telefon gesagt – und verständnislos hatte ich die Worte in meinem Kopf wieder und wieder nachklingen lassen. Wie war das möglich?
Im letzten Winter waren wir beide zeitgleich im Krankenhaus gewesen und seither hatte sich zwischen uns ein unfassbar enger Dialog entwickelt, für den ich den beiden Krankheiten ewig dankbar sein werde. Denn im Erwachsenwerden war das Band zwischen uns zwar nie gerissen, doch es hatte Phasen erlebt, in denen wir es weniger pflegten. Du hast es nie krumm genommen, wenn wir Mädchen uns eine zeitlang wenig meldeten. Im Chor der Beziehungen meiner Kindheit singen viele Stimmen, die mich lange vor der Zeit in die Rolle der Erwachsenen drängten. Bei dir aber durfte ich immer Kind sein, sogar, als ich es längst nicht mehr war. Du hast mich geschützt und behütet; dafür kann ich dir nicht genug danken. Als die Schwester im Krankenhaus uns zusammen gesehen hat, sagte sie nickend zu mir: „Sie sind die Tochter.“ Wir widersprachen nur halbherzig.
In den großen Verwirrungen meiner Jugend, als zuhause die Unwetter ausbrachen und das kleine Boot, das ich war, zu zerbrechen drohte am Brausen und Tosen, in das es geworfen wurde, wurdest du erneut mein sicherer Hafen. Ungezählt die Abende, die ich auf eurem Sofa verbrachte, einfach nur sein durfte, Luft holen und Kraft schöpfen. Die Gespräche in der Küche über kleingehäckselte Kaninchen im Spinat, Kochtipps und unaufdringliche Lebensweisheiten. Wenige Jahre später war es meine kleine Schwester, die in eurer Küche saß, der du deine Geheimnisse über Buttercreme beibrachtest und für die du der menschliche Ort wurdest, an dem sie auftanken und Luft holen konnte. Du hast uns mehr als einmal das Leben gerettet und bleibst für immer ein Teil von uns.
Die Flüssigkeiten, die aus deinem Körper laufen, haben dieselbe Farbe wie meiner Fingernägel. Deine Nägel sind frisch manikürt und wirken wie ein höhnisches Zeichen dafür, dass plötzlich alles so schnell gegangen ist. „Wie läuft deine Chemo?“ „Was machen eure Hochzeitsplanungen?“ Diese zwei Themen bestimmten unsere Gespräche der letzten Monate. Die Chemo, zuerst erfolgreich, die Hochzeit, dein wichtigstes Etappenziel: diesen Tag wolltest du mit uns verbringen. Nach dem Besuch bei dir in der Klinik in dieser Woche werde ich nachts plötzlich wach, panisch: Habe ich all die Dankesworte tatsächlich bei dir ausgesprochen, die mein Herz nach der Feier bewegt haben?
Der WhatsApp-Verlauf funkt sanfte Beruhigung. Worte voller Dankbarkeit, voller Erinnerung, voller Freude, Hoffnung und Liebe sind es, die wir im letzten Jahr miteinander gewechselt haben. Sie klingen in mir wie ein unerwarteter Schatz, für den ich unendlich dankbar bin. An deinem Krankenbett kann ich dir noch einmal all das sagen, was mein Herz bewegt. Du flüsterst leise in mein Ohr, schwach zwar, aber mit all der Liebe und Zärtlichkeit, die dich ausmacht, bis ganz zum Schluss. Den Kummer und die Angst, die dich in diesen Tagen bewegen müssen, lässt du nur in Ansätzen spüren, auch wenn du weißt, du könntest ihn bei uns abladen. Stattdessen lächelst du, gibst Handzeichen und bleibst selbst in diesen Momenten des Abschieds die Dadi, die du immer gewesen bist, würdevoll, liebend und stark.
Ich betrachte deinen fast erwachsenen Sohn und erinnere mich warm und intensiv an deine Freude darüber, Mutter zu werden. Dabei warst du das längst – doch nun würdet ihr auch ein eigenes Kind bekommen; das wurde dein größtes Glück. Ihn und deinen Mann alleine lassen zu müssen, das ist es, was dich in deinen letzten Tagen am meisten bedrückte, weil du ihnen keinen Kummer bereiten wolltest. Aber du hast die beiden mit allem ausgestattet, was sie brauchen, um in einer Welt ohne dich zu überleben. Deine Liebe brennt wie ein ewiges Licht hell und warm in den Menschen, deren Leben du berührt hast. Dich loszulassen, tut unglaublich weh. Doch verlieren werden wir dich nie.
Danke für alles, Gabi.
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