Nachgefragt bei… Martin vom Wochenendrebell

Was treibt Menschen eigentlich an, ihre Freizeit in Blogs, Podcasts und ähnliches mehr zu stecken, statt sie in der Hängematte zu verbringen? Oder von der anderen Seite betrachtet, wieso machen sie ihr Hobby nicht zum Beruf? Künftig kommen hier in der Rubrik Nachgefragt bei… regelmäßig Menschen zu Wort, deren Projekte mir auf der täglichen Reise durchs Netz aufgefallen sind. In Teil sechs spreche ich mit Martin über Fußball, Asperger und seine Blog-Initiative für Flüchtlinge.

Lieber Martin, du betreibst seit 2013 den Blog Der Wochenendrebell. Was war damals deine Initialzündung, dich bei den Bloggern einzureihen?
Seit der Geburt meines Sohnes in 2005 fülle ich im Keller eine große Kiste mit Erinnerungen. Ultraschallbilder, erste Haare, Popel, Fußnägel und solche Leckereien. Sein erstes Stofftier, Zeitungen vom Tag seiner Geburt, Dinge, über die ich mich vielleicht gefreut hätte, wenn sie jemand von mir aufgehoben hätte. 2012 war die Kiste voll, und ich suchte nach einer Alternative, Erinnerungen mit dem Sohn festzuhalten. Statt in einer Kiste nach Dingen zu wühlen, die jemanden an etwas erinnern, versuche ich nun, mit Worten festzuhalten, was wir gemeinsam erleben.

„Es ist manchmal Behinderung und manchmal Behilflichkeit.“

„Es ist manchmal Behinderung und manchmal Behilflichkeit.“

Wer die Themen deines Blogs betrachtet, stolpert neben vielen fußballaffinen Begriffen über Wörter wie Asperger und Autismus. Was ist deine Verbindung zu dem Thema?
Mein Sohn ist Asperger-Autist.

Wie alt war dein Sohn, als ihr die Diagnose erhalten habt, und wie alt ist er heute? Wie habt ihr als Familie gemeinsam gelernt, mit diesem Thema umzugehen?
Jay-Jay ist heute zehn. Er wurde mit drei Jahren diagnostiziert. Wir hatten das Glück, dass er sehr aufmerksame Erzieher im Kindergarten hatte. Wir hielten viele seiner Eigenarten für ungewöhnlich, aber nicht störend, und bei allem, was uns oder unser Umfeld störte, suchten wir eigentlich immer den Fehler bei uns, in unserer Rolle als Eltern. Die Diagnose war sehr erleichternd, auch wenn wir dies in den ersten Wochen sicherlich anders beurteilt haben.

Was bedeutet die Störung für eure Tochter? Wie verhindert man auch ganz praktisch, im Bezug auf Zeitmanagement usw., dass das zweite Kind quasi hinten runter fällt?
Es ist keine Störung, auch wenn ich sie oftmals im Blog selbst so bezeichnet habe und auch viele Wissenschaftler das Asperger-Syndrom so benennen. Ich halte mich an die Beschreibung meines Sohnes: „Es ist manchmal Behinderung und manchmal Behilflichkeit.“ Ich mag diese Beschreibung, denn die Behilflichkeit, auf die er anspielt, bezieht sich auf die enormen Stärken, die Jay-Jay durch das Asperger-Syndrom hat. Ich mag diesen Blickwinkel, der auch seine Stärken, wie seinen unbändigen Ehrgeiz oder seine unfassbare hohe themenspezifische Auffassungsgabe, hervorhebt. Was unsere Tochter betrifft, so ist es komplex. Meine Frau hat eine sehr intensive und wichtige Verbindung zu unserer Tochter. Auch, weil meine Frau aus der Liebe, die sie jetzt ganz offensiv und erstmals deutlich spürbar von ihrem Kind zurückbekommt, Kraft zieht. Bei mir ist es aktuell eine engere Verbindung zu meinem Sohn, auch geprägt durch unsere Unternehmungen, aber ich habe noch Zeit, die Verbindung zu meiner Tochter zu verbessern.

In Filmen wird das Thema Autismus gerne mit einer ulkigen Note versehen. Du beschreibst in deinen Posts auch Situationen, in denen Menschen dein Kind als unerzogen empfinden, wenn es ausrastet. Wie schaffst du es, nicht dauernd wütend auf solche Leute zu sein?
Wieso sollte ich auf diese Menschen wütend sein? Wenn wir fünfundzwanzig Menschen im Zug durch unsere laute Anwesenheit nerven und einer der Mitfahrenden dann kopfschüttelnd in seine Zeitung starrt oder sich beim Sitznachbarn über uns beschwert, bin ich zunächst immer einmal den anderen vierundwanzig Mitfahrern dankbar für ihre Geduld. Ich wäre von meinem Sohn ja selbst genervt. Aber ulkig ist es häufig, von daher hätte ich noch nicht einmal eine Schwierigkeit mit einer ulkigen Beschreibung. Problematisch sind eigentlich niemals die, die unwissend auf uns treffen. Viel problematischer sind eigentlich die Autismus-Experten, die mir zwar einerseits erklären, wie vielfältig und unterschiedlich das Asperger-Syndrom sich zeigt, mir aber gleichzeitig vorschreiben wollen, wie ich mit meinem Sohn umgehen soll. Aber selbst bei denen wäre das Wort „nervend“ besser angebracht. Wütend machen mich die Reaktionen anderer fast nie.

„Jay-Jays gesamte Gefühlswelt wirkt bei mir sogar meist aufrichtiger, als ich dies bei Gleichaltrigen kennengelernt habe. “

„Jay-Jays gesamte Gefühlswelt wirkt bei mir sogar meist aufrichtiger, als ich dies bei Gleichaltrigen kennengelernt habe. “

In einem älteren Beitrag beschreibst du, was dir persönlich an dieser Behinderung oder Behilflichkeit besonders zu schaffen macht: der mangelnde Umgang mit eigenen Emotionen. Deswegen hast du mit deinem Sohn ein besonders Projekt gestartet. Worum geht es dabei?
Wir bereisen Deutschlands Fußball-Stadien. Wir müssen mindestens die Ligen eins bis vier abdecken. Innerhalb der Reisen gibt es feste Routinen und Regeln, und für mich ist es Zeit mit meinem Sohn in allerhöchster Qualität. Lustigerweise basiert unser Projekt zum Teil auf der fehlerhaften Annahme, Jay-Jay hätte Probleme mit seinen Emotionen. Das hat sich schnell als weit verbreiteter Unsinn herausgestellt. Asperger-Autisten sind  wütend, sauer, enttäuscht und erfreut, wie jeder andere Mensch auch. Jay-Jays gesamte Gefühlswelt wirkt bei mir sogar meist aufrichtiger, als ich dies bei Gleichaltrigen kennengelernt habe. Er lebt die ein oder andere Emotion etwas intensiver aus, und der Auslöser für Wut oder Enttäuschung kann ein durchaus geringer Anlass sein. Jay-Jay zeigte früh Interesse für Stadien, Fußball und Zugfahrten. Ich wollte sein Interesse nutzen und ihn im Gegenzug mit vielen Schwierigkeiten konfrontieren. Volle Stadien heißt viele Menschen, eng besetzte Straßenbahnen, viele Unwägbarkeiten, wechselnd intensive Geräuschkulissen. Alles Dinge, die Jay-Jay früher sehr zu schaffen machten. Und nun touren wir so durch Deutschland, und alle anfänglichen Schwierigkeiten sind verflogen. Es gibt neue Probleme, aber die lösen wir auch – wenn Jay-Jay das möchte.

Wie viele Stadien habt ihr auf diese Weise in den letzten Jahren gesehen? Und welche Erlebnisse sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Wir sind jetzt bei ca. fünfzig. Meine Highlights waren in Bezug auf das Stadion der Ludwigspark in Saarbrücken, in puncto Atmosphäre das Karl-Liebknecht-Stadion in Babelsberg. Betrachte ich die gesamte Reisen mit allem drum und dran, waren unsere Ausflüge ins San Siro nach Mailand und unsere Doppeltour bestehend aus Freiburg und Millerntor innerhalb von sechzehn Stunden ziemlich großartig. Aber auch aus einem null zu null bei VfR Aalen gegen SV Sandhausen am Freitag Abend bei Minusgraden kann man eine Menge Lehren ziehen.

Im Umgang mit eurem Sohn habt ihr ein spezielles Regelwerk erstellt, auch, weil er mit klaren Ansagen gut umgehen kann. Innerhalb dieser Regeln kann er Punkte sammeln – im Idealfall winkt eine Belohnung. Was ist der aktuelle Jackpot?
Es gibt feste Zeitpunkte, wann ausgewertet wird. Hat er sich mehr grüne Punkte erarbeitet als rote Punkte zur Strafe erhalten, planen wir eine Stadiontour ins Ausland. Grüne Punkte bekommt er für gute Noten und wechselnd für den Abschluss kleiner Miniprojekte. Schuhe binden, alleine duschen und sich anziehen. Dinge des Alltags, die ihm schwer fallen. In Verbindung mit seinen Ausrastern erhält er rote Punkte. Nicht bei jedem Vorfall. Es ist wichtig, dass er weiß, dass diese dazu gehören und nicht zwingend mit Bestrafung einhergehen. Bringt er aber seine Schwester in Gefahr oder provoziert bösartig Menschen in seinem Umfeld, bekommt er die Strafpunkte. In Quartal eins fuhren wir zur Belohnung nach Lyon, in Quartal zwei scheiterte er erstmals und es gab keine Belohnung.

Jedes Spiel hat seine Regeln.

Jedes Spiel hat seine Regeln.

Müsst ihr nach Spanien ziehen, wenn er sich dann ausgerechnet in den FC Barcelona verliebt?
Ich habe tatsächlich ein wenig Angst bekommen, als er mich nach dem hochoffiziellen Regelwerk einer Vierunddreißiger-Saison gefragt hat, aber ich sehe das mittlerweile sehr entspannt. Aktuell sieht es nicht so aus, als könnte er sich in den nächsten dreißig Jahren für einen Verein entscheiden, und neulich erwischte ich ihn beim Googeln von Stadien der Oberligen.

Für welchen Verein schlägt eigentlich dein eigenes Fußballherz heute?
Ich verfolge intensiver die wunderbare Fortuna aus Düsseldorf. Als Kind bin ich sicher mal auf den üblichen Trampelpfaden der Fanwerdung losgestapft und verlief mich, so ca. zwanzig Jahre lang. Die Fortuna nahm mich dann glücklicherweise in ihre Obhut. Es ist aber eine eher weniger erfolgsgeprägte Liebe. Ich finde, die zweite Liga steht uns gut.

Inzwischen verfasst dein Sohn ab und zu selbst Beiträge für den Blog. Ab wann war bei ihm eine Wahrnehmung da, dass du über ihn und eure Ausflüge schreibst? Hat er dazu eine Meinung?
Gemerkt hat er es sehr früh. Ich denke mit fünf oder sechs. Es gibt noch zahlreiche ältere Texte, die nie den Weg ins Blog schafften. Er sieht sich aber seit dem 05.06.2013 selbst als festen Bestandteil der Blogosphäre. Seit diesem Tag ist es eigentlich sein Blog, und ich darf da nur gelegentlich auch ein paar Zeilen hinterlassen. Er kennt ca. 80% der Texte, lediglich die Passagen, in denen ich auch über die Belastung, insbesondere für meine Frau, schreibe, enthalte ich ihm aktuell vor. Ich glaube, wir haben einen guten Mittelweg gefunden zwischen erschütternder Offenheit und einem gesunden Maß an Anonymität und Intimität. Aber er ist momentan unglücklich mit dem Medium. Er kann nicht so schnell schreiben, wie ihm die Gedanken in den Kopf schießen. Er würde lieber eine tägliche Periscope-Diskussion zum Tagesgeschehen führen oder podcasten. Das sei nicht so anstrengend, meint er.

Neben Fußball, Asperger und Groundhopping treibt dich aktuell besonders um, wie in Teilen Deutschlands mit Flüchtlingen umgegangen wird. Wie behandelst du das Thema als Vater mit deinen Kinder, wie sensibilisierst du sie?
Jay-Jay hat eine sehr ruppig-offene Art an sich. Er spricht geraderaus, wie und was er denkt. Es war sehr schmerzvoll, meinen Sohn zu diesem Thema Dinge sagen zu hören wie: „Na ja, wenn es ihnen nicht gefällt, dann können sie ja zuhause bleiben.“ Wir thematisierten dies sehr intensiv, zumal wir alles andere als eine arisch-doitsche Vorbildfamilie sind. Meine Frau ist Muslimin, so dass ich vielleicht auch grundsätzlich einen subjektiveren Blickwinkel habe, was den Umgang mit ausländischen Mitbürgern angeht. Jay-Jay hat, was seine Sensibilität gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe, anderen kulturellen Eigenarten, aber auch gegenüber schwächeren Menschen angeht, große Fortschritte gemacht. Heute kassiert seine Schwester schnell einen Einlauf, wenn sie es wagt, Jay-Jays Spielzeug zu benutzen, gleichzeitig erklärte er sich aber bereit, eben dieses Spielzeug für Kinder von Flüchtlingsfamilien zu spenden.

Einfach mal abschalten. (Fotos: privat)

Einfach mal abschalten. (Fotos: privat)

Du nutzt die Aufmerksamkeit, die dein Blog bekommt, momentan für eine besondere Aktion, um Geld für Flüchtlinge zu sammeln. Worum geht es dabei?
Nun ja, viele Kommentare in den sozialen Medien, aber selbst beim Metzger um die Ecke, zeigen plötzlich das völlige Versagen der Bildungspolitik der letzten zwanzig bis dreißig Jahre auf. Ich wollte einerseits auf die guten Menschen aufmerksam machen, die auffällig häufig Blogs betreiben. Das ist nicht verwunderlich, da das Problem des „Hau ap in dein land du asülant“-Kommentators meist umfangreich genug ist, um ihn am Schreiben längerer Texte zu hindern. Ich will es um Himmels willen nicht als Problem der mindergebildeten Bürger dieses Landes gewusst wissen. Die Masse an Verbreitung dumpfer Parolen und braunem Dreck werden aber nun einmal offen, penetrant und in großer Zahl über Facebook und Co. nicht vom Studenten mit abgeschlossenem Geschichtsstudium durchs Netz gejagt. Ich wollte dazu animieren, Blogtexte, gleich zu welchem Thema, öfter zu verbreiten, zu teilen. Da passiert teilweise noch zu wenig. Ich habe Blogs entdeckt, über deren Leserzahl ich sehr erstaunt bin. Da steckt teilweise so unfassbar viel Qualität drin, die es wert wäre, sie mehr zu verbreiten und demjenigen, der dort viel Arbeit hineinsteckt, zu einer größeren Reichweite zu verhelfen. Mir geht es da gar nicht um mein Blog, aber wenn man sich mal überlegt, was da an Zeit in die Podcasts und Blogs investiert wird, so kommt dann doch oftmals überraschend wenig Resonanz.

Wie genau willst du das ändern?
Um zur Verbreitung zu animieren, haben ein guter Freund und ich dazu aufgerufen, ältere Blogbeiträge des ganz persönlichen Lieblingsblogs erneut zu teilen und sie zusätzlich mit den Hashtags #refugeeswelcome und #blogthrowback zu versehen. Für jede Verbreitung nehmen wir 10 Cent von unserem Lottokonto und unterstützen damit zu Beginn des Winters das örtliche Flüchtlingsheim. Das wird ein böser Winter, und darauf kann man nicht früh genug aufmerksam machen. Daher läuft die Aktion bis Ende Oktober und wir deckeln sie erst bei 500€ oder eben 5.000 Verbreitungen. Durch die Thematisierung haben sich bereits weitere Spender gemeldet, andere wiederum sagten zu, sich in ihrer Stadt vor Ort nun auch engagieren zu wollen. Hat die Aktion geholfen, auch nur einen Menschen dazu zu bringen, sich gegen das, was uns nun an unverhohlenem Rassismus in Deutschland präsentiert wird, entgegen zu stellen, war es eine erfolgreiche Aktion.

Welchen alten Beitrag aus dem Wochenendrebell möchtest du den Lesern im Rahmen der Aktion abschließend gerne ans Herz legen?
Mmh, schwer. Die Geschmäcker sind verschieden. Einen guten Einblick in die Touren mit Jay-Jay bekommt man vielleicht mit diesem Text.

Vielen Dank für deine Zeit!
Ich habe zu danken.

Im siebten Teil von Nachgefragt bei… spreche ich mit Elke über ihr Meerblog. Ihr habt ein großartiges Projekt, über das ihr mit mir reden wollt? Dann schreibt mir doch eine Mail.

2 thoughts on “Nachgefragt bei… Martin vom Wochenendrebell

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