Opfergabe

Kriminalhauptkommissar Früger war die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, als er sich über die Leiche der jungen Frau beugte. „Wer kommt denn bitte auf eine derart perverse Idee?“ Er bewegte die Hand in Richtung seines Kollegen. „Taschentuch!“ Lutz Kleinert hielt seinem Chef das Verlangte hin, der legte es dem jungen Mädchen über den Hals, verdeckte damit die hässliche Schnittwunde, die von ihrem Kinn abwärts zu ihrem Bauch wanderte zumindest an ihrem Ursprung. Das Gesicht des Mädchens war zart und selbst im Tode hatte sie noch eine derart intensive Ausstrahlung, dass er den Blick nicht abzuwenden vermochte. Andererseits, was gab es da auch zu sehen, wofür man den Kopf drehen sollte? Früger kämpfte die aufwallende Übelkeit nieder und erhob sich vom frostigen Waldboden. Der Leib des Mädchens war aufgeschnitten worden, von dem Embryo – Früger wusste, sie war schwanger gewesen – fehlte jede Spur. Dort, wo er ihr das wachsende Leben aus dem Körper gerissen haben musste, hatte der Mörder aus je zwei Knochen (vermutlich stammten diese von Tieren) mehrere Kreuze gebunden und in den offenen, blutigen Bauch der jungen Frau gelegt. Früger spürte, wie ihm das Bedürfnis, sich zu übergeben, abermals am ohnehin chronisch gereizten Magen zerrte. „Findet raus, was das für Knochen sind“, bellte er seine Leute an, winkte Lutz Kleinert zu sich – und die beiden stapften zurück zu ihrem Wagen.

Mitleid ist die niederste Form der Zuneigung. (Foto: uschi dreiucker/pixelio.de)

Mitleid ist die niederste Form der Zuneigung. (Foto: uschi dreiucker/pixelio.de)

Montag, 7. Februar
11:23 Uhr

„Das macht dann DreiEuroAchtzig“, nuschelte Ilse Weil, ob ihrer Eheschließung mit Max, dem einzigen Sohn der traditionsreichen Unternehmerfamilie, Juniorchefin der Bäckerei Weil und Söhne. Sie zeigte sich nicht im Geringsten darum bemüht, ihren Missmut gegenüber der Person auf der anderen Seite der Ladentheke zu verbergen. „Und Anschreiben is’ hier nich’, die Mitleidstour können se nebenan versuchen.“ Die so Zurechtgewiesene errötete, in einer quälenden Mischung aus Ärger und Scham, die sie in den letzten Wochen selten abzuschütteln vermochte. Einem Instinkt folgend widerstand sie dem Bedürfnis, ihre Hand an sich hinabgleiten zu lassen, bis sie einen natürlichen Halt fände auf der noch zarten Rundung ihres Leibes – stattdessen griff sie nach der Geldbörse. Beim Abzählen der Münzen schüttelte sie leicht den Kopf: „Ich lasse nirgendwo anschreiben, Frau Weil. Und Mitleid ist die niederste Form von Zuneigung, auf die ich gerne verzichte. Zumal von ihnen.“ In den Augen der Bäckersfrau blitzte Wut auf; während sie die Münzen aus der Hand der schwangeren Jugendlichen nachzählte giftete sie, „Ihre Eltern würden sich was für sie schämen, Gott hab’ se selig. Sie sind eine Schande, Fräulein Liefers, und ich will sie in meinem Laden nicht mehr wiedersehen.“ Julia lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch sie schluckte die Wutworte stumm und trat in die trockene Kälte des Januartages.

Nachdem Julia die Bäckerei verlassen hatte, rief Frau Weil nach dem Lehrling. „Martin, übernimm die Theke, ich muss in die Backstube!“ Der große, schlaksige Kerl, dessen Haut so unrein war, dass sie ihm nicht gerne ins Gesicht sah und ihn nur in Notfällen im Laden auftauchen ließ, eilte auf sie zu, seine Mundwinkel umspielt von einer Mischung aus Irritation und unverhohlener Begeisterung. „Ja, sehr gerne, Frau Weil, sofort, Frau…“ „Ja, ja, aber nix anfassen, solang’ keine Kundschaft da ist“, unterbrach sie ihn harsch und verließ den Verkaufsraum. Martin, ungeachtet der offensichtlichen Abscheu, die sie ihm entgegenbrachte, starrte ihr mit tumber Faszination nach. „Jawohl, Frau Weil“, murmelte er begehrlich.

„Oma?“ rief Julia beim Betreten der Wohnung in die angenehme Wärme hinein. „Omchen, bist du da?“ „In der Küche!“, erklang die Stimme ihrer Großmutter. „Hast du die Brötchen?“ Als Antwort hielt Julia die Bäckerstüte durch den Türrahmen, noch bevor sie selbst eintrat. „Dank’ dir, damit sind die Buletten gerettet.“ Dann bemerkte sie Julias Gesichtsausdruck und seufzte: „Hat dich Frau Weil wieder zurechtgerückt?“ Julia zuckte betont gleichgültig die Achseln. „Ach, mir doch egal, was die denkt!“ „Das würde ich dir ja gern glauben“, wiegte die Großmutter traurig den Kopf. „Ich habe sie nach Brötchen von gestern gefragt, weil die besser für Buletten taugen“, erklärte Julia, „da dachte sie gleich, ich wolle anschreiben lassen, oder was weiß ich. Als ob ich das jemals versucht hätte.“ Mit der Innenseite ihrer vom Hackfleisch verschmierten Hände nach außen gedreht, strich die Großmutter Julia kurz über die Wange und küsste dem sitzenden Mädchen dabei den dunklen Schopf. „Meinst du nicht, es wäre vielleicht doch ganz gut, wenn du die Identität des Vaters verrätst?“ fragte sie vorsichtig. Julia schüttelte energisch den Kopf. „Ne, Omchen, glaub mir – damit würde alles nur schlimmer.“ Die Alte griff Julia ans Kinn, wobei sie ihr einen Klecks Gehacktes in den Schoß bröselte. Den Blick der Enkelin suchend beschwor sie, „du würdest es mir aber sagen, wenn, na ja, wenn du bei der Sache nicht freiwillig mitgemacht hättest, oder? Wenn dir Gewalt angetan worden wäre, dann würdest du das Schwein nicht schützen, auch nicht vor mir, richtig?“ Julia hielt ihrem Blick stand, als sie sagte, „versprochen, Oma“.

Donnerstag, 10. Februar
16:43 Uhr

Man brauchte keinen besonders scharfen psychologischen Sachverstand zu besitzen um zu wissen, dass sich Frügers Miene heute nicht mehr aufhellen würde. Die Bilder der Mädchenleiche hingen an einer Stellwand gegenüber seines Schreibtisches und Lutz Kleinert betrat den Raum nur zögerlich, um Früger mitzuteilen: „Die Großmutter ist jetzt hier, sie sitzt hinten in B17 – du meintest, du willst persönlich mit ihr reden?“ Früger sah geistesabwesend von seinen Notizen auf. Er schien einen Moment zu brauchen, um Kleinert folgen zu können; dann nickte er kurz und erhob sich schwerfällig.

Die alte Liefers hatte Tränen in den Augen, als ihr Blick dem des Kriminalhauptkommissars begegnete. Sie hielt ein großes, ockerfarbenes Taschentuch in den zitternden Händen, mit dem sie mehrfach nervös zu wedeln begann, wenn Früger ihr eine neue Frage stelle. Der spürte, wie ihm der Schweiß in kühlen Rinnsalen den Rücken hinablief. Er kannte die Liefers seit Jahren, so, wie man sich eben kennt, wenn man im selben Dorf lebt; ihre hilflose Trauer berührte ihn. „Als mein Sohn und seine Frau bei dem Verkehrsunfall vor drei Jahren starben, da dachte ich, schlimmer kann man einer alten Frau das Herz nicht rausreißen“, weinte sie leise. „Jetzt weiß ich, das war ein Irrtum.“ Früger tätschelte hilflos ihre Hand. „Wissen sie denn, wer der Vater des Kindes war?“, fragte er mit geräuschvollem Räuspern. Frau Liefers schüttelte mit einem Schluchzen den Kopf, dann sah sie ihn an und gestand, „aber ich habe einen Verdacht“.

Montag, 7. Februar
17:42 Uhr

„Max? Wo steckst du?“ Julia stand fröstelnd in der Dunkelheit der kleinen Rasthütte, nur wenig außerhalb des Dorfes. Auf dem Weg hier raus war sie in den Regen gekommen und die Streichhölzer, die sie eingesteckt hatte, um die kleine Petroleumlampe der Hütte anzumachen, waren feucht und unbrauchbar. Verunsichert sah sie sich im Halbdunkeln um. Wieso bloß hatte er sie hierher bestellt? Obwohl sie bereits vor Wochen ausgemacht hatten, es war viel zu gefährlich, sich weiter zu sehen. Sie lächelte sanft bei der Erinnerung an ihr letztes Treffen im späten Herbst, an seine zärtlichen Liebesbekundungen, den Wunsch, sich für sie und das Baby und gegen seine Ehe zu entscheiden. Julia hatte kategorisch abgelehnt. „Ich will nicht, dass du deine Zukunft mit der Bäckerei aufs Spiel setzt – deine Eltern würden dich rauswerfen, wenn sie von uns wüssten. Du würdest früher oder später bereuen, alles hingeschmissen zu haben.“ Er hatte ihr widersprochen, doch sie hatte die Halbherzigkeit gespürt. Max war zwar viel älter als sie, aber kein Mann von großem Mut. Deshalb wollte sie das Kind alleine bekommen.

Unter der dicken Mütze, die sie vor neugierigen Blicken kaum weniger schützen sollte, als vor der klirrenden Januarkälte, nahm Julia die Schritte zuerst nicht wahr, die sich ihr leise von hinten näherten. Erst, als die Person nur noch eine halbe Armlänge von ihr entfernt war, drehte sich das junge Mädchen um. „Was willst du denn hier?“, fragte sie da verwundert.

Donnerstag, 10. Februar
19:27 Uhr

„Chef?“ Früger drehte sich nach seinem Assistenten um. „Wir wissen jetzt, was für Knochen in dem Mädchen gesteckt haben“, erklärte der. „Sie stammen von einem Schaf, Meilers meinte, von der Struktur her wohl ein Jungtier.“ Er grinste. „Dabei ist doch noch gar nicht Ostern!“ Früger sah ihn irritiert an, „weder kapiere ich, wie sie zum Grinsen aufgelegt sein können, noch was sie das mit Ostern soll“, bellte er den jungen Mann an, der verlegen entgegnete, „na, ich meine doch bloß, wegen Opferlamm und so. ’schuldigung!“

Auf dem Weg zur Bäckerei versuchte Früger, einen Sinn in die bisherigen Erkenntnisse zu bringen. Frau Liefers war sich relativ sicher, Julia habe eine heimliche Beziehung mit Max Weil gehabt. Ihrer Auffassung nach war er auch der Vater des Kindes, die Enkelin habe das aber geheimhalten wollen, um Max zu schützen. Früger schnaubte leise. „Wir haben geschlossen!“, brummelte Martin unwillig. Früger sah erstaunt auf seine Uhr. „Es ist erst zwanzig vor acht, normalerweise ist doch bis acht offen?“ „Heute aber nicht“, knurrte Martin ungeduldig. Krüger sah den Schatten der Juniorchefin auf ihren Lehrling zukommen. „Weg da!“, herrschte sie ihn an, öffnete die Tür und begrüßte Früger mit einem breiten Lächeln. „Lieber Kommissar, kommen sie ruhig rein – und auf den achten sie am besten gar nicht!“, schob sie Martin unwirsch beiseite. Der blieb in einiger Entfernung zu den beiden stehen, sein glühender Blick ruhte auf der jungen Bäckersfrau. Früger beobachtete den hageren Jungen mit einiger Verwunderung.

Montag, 7. Februar
18:12 Uhr

Julia hatte keine Chance, um ihr eigenes und das Leben des ungeborenen Kindes zu kämpfen. Mit einem einzigen, dumpfen Schlag gegen die Schläfe verlor sie das Bewusstsein und Martin zerrte sie aus der Hütte hinaus auf den Waldboden. Mit klammen Fingern löste er den Körper des Mädchens aus den Klamotten, die er in eine zuvor bereits ausgehobenen Grube warf, dann setzte er das Messer oberhalb ihres Schambeins an und drückte es ins kühle Fleisch.

Freitag, 11. Februar
10:23 Uhr

„Aber wieso?“, murmelte Frau Liefers erstickt. Sie hielt dasselbe ockerfarbene Taschentuch in der Hand wie am Vortag, und trotz ihrer Trauer wirkte sie erleichtert über die Gewissheit, die Früger ihr überbrachte. „Offenbar ist Martin unsterblich in Ilse Weil verliebt, er wollte ihr die Blamage ersparen, wenn die Affäre ans Licht käme.“ Frau Liefers weinte leise. Früger fuhr stockend fort. „Sein Onkel arbeitet beim Großschlachter, der auch hier im Ort die Metzgereien bedient. Martin hat dort im Sommer, bevor der die Ausbildung angefangen hat ein Praktikum gemacht, so ist er offenbar an die Lammknochen gekommen. Wir vermuten, er hat auch das Tatmesser dort mitgehen lassen, denn das war, na ja, nicht gerade handelsüblich. Kaum hatte er das gesagt, bereute er seine fehlende Sensibilität in solchen Situationen; Julias Großmutter schluchzte heftig. „Und das Kind?“, fragte sie schließlich, kaum hörbar. Früger versuchte vergeblich, die perfide Assoziation, die er seit Martins Geständnis mit dem Wort Kinderschnitzel hatte abzuschütteln – und entschloss sich zu einer Notlüge: „Verbrannt und im Wald verscharrt. Tut mir sehr leid.“

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