„Da werden wir genau hingucken, was morgen passiert.“ Einen Tag nach der Aussage von DFB-Präsident Bernd Neuendorf in der ARD ist es nun kein Kunststück mehr, seine Worte zur „One Love“-Kapitänsbinde zu interpretieren: Wenn Wales, England und die Niederlande bei ihren Spielen am Montag damit durchkämen, trüge die Manuel Neuer sie zwei Tage später vielleicht auch. Klingt wie eine Unterstellung? Mitnichten. Aber der Reihe nach.
Politische Symbole sind auf dem großen Fußballparkett in Katar verboten. Das ist nichts Neues und mitnichten eine spezielle Problematik dieses Turniers. Die großen Verbände möchten ihren Sport gerne klinisch sauber halten. Botschaften, die auf negative Themen rund um Vergabe, Austragungsländer oder eben die Verbände selbst abzielen, sind nicht erwünscht. Wie Verbände und Spieler damit umgehen, dafür gibt es keine Anleitungen.
Und so hatten sich zehn europäische Nationalverbände im Vorfeld der WM 2022 geeinigt, mit einer selbstgewählten Symbolik – nämlich besagter Binde – ins Turnier zu gehen: Neben Deutschland waren das die Niederlande, England, Belgien, die Schweiz, Wales, Frankreich, Dänemark, Schweden und Norwegen. Da die beiden Letztgenannten sich nicht für die WM qualifiziert haben, war das Feld bereits auf acht geschrumpft, bevor auch noch Frankreich ausscherte: Kapitän Hugo Lloris kündigte an, die Binde nicht zu tragen – und begründete das mit Respekt vor den Regeln des Gastgeberlandes.
Nun muss man, und das passiert rund um dieses Turnier leider viel zu selten, klar trennen zwischen Respekt vor kulturellen Unterschieden einerseits und dem Wegducken vor Themen, die nun mal nicht verhandelbar sind, auf der anderen Seite. Wenn ein muslimisch geprägtes Land bei einem sportlichen Großereignis keinen oder nicht in dem Maße Alkohol anbieten möchte, wie das andernorts üblich ist, so hat das etwas mit der Kultur zu tun. Wenn Katar hingegen die Rechte der LSBTIQA*-Community nicht achtet, greift „Kultur“ nicht mal im Ansatz als Argument.
Von Frankreich hätte man sich gewünscht, dass Trainer Didier Deschamps einfach einen neuen Kapitän ernennt; vielleicht aber war der Coach froh, dass Lloris bei diesem Thema die öffentliche Prügel bezog, nachdem Verbandspräsident Noël Le Graët geäußert hatte, er wünsche sich, besagte Binde käme beim französischen Team nicht zum Einsatz. Fans in Deutschland verteilten derweil nachvollziehbarerweise Prügel für eben jene Binde, die als Wegducken vor Verband und Gastgeberland interpretiert wurde.
Immerhin hat Manuel Neuer in der Vergangenheit bereits die Regenbogenbinde getragen, die auch an vielen Bundesligastandorten längst üblich ist. Die „One Love“-Binde wirkte dagegen wie ein lächerlich verwaschenes Pseudosymbol, mit dem gegen alles so ein bisschen protestiert wurde, ohne dabei aber allzu deutlich zu werden.
Bis schließlich die FIFA die Binde ungewollt mit einer größeren Bedeutung auflud, indem der Verband nur 48 Stunden vor Beginn des Turniers mit „einem eigenen Vorschlag“ ums Eck kam, wie Neuendorf in der ARD erklärte. Der DFB-Präsident zeigte sich dabei irritiert: „Wir fanden es schon sehr befremdlich, dass wir diese Binde vor Monaten bekanntgegeben haben der FIFA, dass wir sie tragen wollen als europäische Verbände. Und die FIFA hat darauf nicht reagiert. Sie hat nicht gesagt: Wir verbieten es ausdrücklich, oder: Wir genehmigen es.“
Scheint, als habe die FIFA auf Zeit gespielt, so, wie das gerade rund um die WM bei mehreren Themen den Anschein macht. Kurz vor Turnierbeginn war jedenfalls klar, der Verband würde gegebenenfalls zu Strafen greifen, wenn die Kapitäne mit der Binde auflaufen. Ein ursprünglich wachsweiches Statement hatte so plötzlich Gewicht bekommen: Wie gut das tat.
Ganz besonders jenen Fans, die seit Monaten Proteste rund um das Turnier organisieren. Denn ehrlich? Was ist aus dem vermeintlichen Volkssport Fußball geworden, wenn ein wahllos buntgestreiftes Herz als erdachtes Symbol gegen jede Form der Diskriminierung, eine Art „Toleranz für alle und alles“, schon so aneckt beim Verband und seinem Gastgeberland, dass Sanktionen ins Spiel gebracht werden?
Mit dem Festhalten an der Binde hätte ein minimales Zeichen gesetzt werden können, dass der Fußball noch nicht komplett verdorben und verloren ist – und Menschenrechte sportlichem Erfolg stehen. Was hätte passieren können? Sperren der sieben Kapitäne nach jeweils zwei Spielen? Was für ein Zeichen wäre das gewesen! Ein Ausschluss der beteiligten Nationen vom Turnier? So.Fucking.What.
Es kann doch bitte nicht der Ernst von DFB und anderen Landesverbänden sein, dass sie für Freiheit und Sicherheit Menschen verschiedener Nationen, Gender, Herkünfte, Sexualitäten, Hautfarben und Religionen nicht mal bereit sind, eine gelbe Karte oder Sperre in Kauf zu nehmen. Are you fucking kidding me.
Die Spieler der iranischen Nationalmannschaft, die sich vor dem Spiel gegen England im stummen Protest gegen die Zustände in ihrer Heimat weigerten, die Nationalhymne mitzusingen, haben sich damit wirklich in Gefahr begeben – zu einem Ausmaß, dass etlichen Menschen in der Sicherheit Europas vielleicht niemals klarwerden wird. DFB & Co. haben sich derweil weggeduckt und so final lächerlich gemacht. Ein Protest, der Genehmigungen abwartet, ist kein Protest. Auch und gerade im Sport ist die Geschichte voll von Menschen, die für ihre politische Haltung die Konsequenzen getragen haben.
Die mangelnde Haltung der nationalen Verbände ist absolut beschämend, und darauf kann gar nicht oft genug hingewiesen werden. Egal, wie weit diese Länder im Turnier kommen, sie stehen bereits jetzt als die ganz großen Verlierer da. Alle, denen der Fußball etwas bedeutet, müssen, pardon, das ganz große Kotzen kriegen, angesichts dieses Einknickens.
Wobei anzumerken wäre, Spielern die „Eier“ abzusprechen oder sie als „Waschlappen“ zu titulieren, ist auch in der nachvollziehbaren Wut problematisch, da gerade weiche Hoden Teil eines problematischen Männlichkeitsbildes sind, das den Fußball erst dahin gebracht hat, wo er heute gegen Probleme von Macht und Ohnmacht kämpft. Fehlender Mut oder fehlende Konsequenz tun es deutlich besser.*
Apropos bemüht, Einsatz zeigten unter anderem zwei Journalistinnen im Angesicht der FIFA-Shitshow: Alex Scott kommentierte mit One-Love-Binde am Spielfeldrand, Claudia Neumann in einem Shirt mit Regenbogen und der Regenbogen-Binde. Beide sind vor Ort und gehen damit ein persönliches Risiko ein. Man kann ihnen das nicht hoch genug anrechnen. Menschen, die den Fußball lieben, brauchen Hoffnung und Vorbilder, die beiden und die mutigen iranischen Spieler dürfen als solche gelten.
*In einer früheren Version des Textes wurde die Formulierung fehlendes Rückgrat genutzt. Die ist allerdings ableistisch und wurde deswegen ersetzt. Ich bitte, das zu entschuldigen. Zudem war fälschlicherweise die USA als Gegner des Iran genannt, es war aber natürlich das Spiel gegen England. Erwähnenswert dazu: Die englischen Spieler sind vor dem Spiel auf die Knie gegangen.