Qatar 2022: Welche Themen zu kurz gekommen sind

Wenn während der Fußball-WM der Männer in diesem Winter die Rede war vom Zahlenverhältnis zwischen Qataris und jenen Menschen, die zum Arbeiten ins Emirat gekommen sind, wurde als sprachlicher Gegensatz zu den Staatsbürger*innen meist von Arbeitsmigrant*innen gesprochen. Gemeint waren, so ist zumindest mein Eindruck, damit stets solche Menschen, die im absoluten Niedriglohnsektor arbeiten, vor allem auf Baustellen, ob für die Stadien oder die Infrastruktur. Doch das ist unzureichend.

Im ersten Schritt ausgeblendet wurden dabei Frauen. Mehr als einmal habe ich erlebt, dass Leute meinten, es sei unsinnig, das Wort „Arbeitsmigrant“ zu gendern, weil auf den Baustellen doch nur Männer im Einsatz seien. Ja, aber. Frauen verschiedener Herkunftsländer arbeiten beispielsweise im häuslichen Bereich. Es ist wichtig, auch über sie zu sprechen und zu schreiben, weil qua ihrer Arbeitsverhältnisse zu den Gefahren von Ausbeutung und Unfreiheit, die sie mit den Männern teilen, jene sexualisierter Gewalt ungleich größer sind. Sie dürfen nicht unsichtbar bleiben.

Zum anderen ist die Vorstellung, die rund 2,5 Millionen Menschen, die aus dem Ausland nach Qatar gekommen sind, seien allesamt im Niedriglohnsektor unterwegs, falsch. Das Emirat ist ein attraktives Ziel für so genannte Expats, Menschen aus soliden oder besser situierten Umfeldern, die zum Studium oder um in gehobenen Positionen gutes Geld zu verdienen, ins Land kommen. Sie unterrichten an Hochschulen, fliegen für Qatar Airways, arbeiten im medizinischen oder dem Bildungssektor und mehr. Wer nur von Arbeitsmigrant*innen spricht, zeichnet ein schiefes Bild.

Genauigkeit ist wichtig. Denn über kaum ein Thema wurde im Vorfeld der WM mehr geredet als über jene, die auf Baustellen in glühender Hitze geschuftet haben. Wie viele Menschen rund um das Fußballturnier gestorben sind, war eine Frage, die heftig diskutiert wurde. Ein kompliziertes Unterfangen, weil selbstverständlich jeder Mensch, der gestorben ist im Zusammenhang mit der WM, einer zu viel ist. Und die Diskussion damit eben direkt aufhören könnte. Gleichzeitig waren viele der Zahlen, die hierzu kursierten, falsch oder mindestens unscharf, bei Gegner*innen wie Befürworter*innen des Turniers. Und das ist eben auch ein Problem.

Letztlich hat Qatar sich zweimal schuldig gemacht, nicht nur mit den Todesfällen, sondern auch, weil das Emirat keinen Willen gezeigt hat, zu untersuchen, woran die Gemeldeten gestorben sind. Ja, in die Zahlen sind auch Menschen eingeflossen, die Autounfälle hatten oder morgens nicht mehr aufgewacht sind. Wenn das junge Arbeiter waren, die zuvor in der Gluthitze lange Schichten geschoben haben, wäre es dennoch Pflicht und Verantwortung, Verbindungen zu untersuchen.

Während des Turniers ist die Diskussion um die Toten der WM ein wenig in den Hintergrund geraten, obwohl zum einen zwei Todesfälle hinzugekommen sind und zum anderen Hassan al-Thawadi, der Generalsekretär des Organisationskomitees, im Gespräch bei „Talk TV“ unerwartet offen über Zahlen geredet hat. Ein Grund war aus meiner Beobachtung, dass viele Journalist*innen vor Ort auf Menschen getroffen sind, die positive Geschichten über ihr Leben und ihre Arbeit in Qatar zu berichten haben.

So entstehen Dilemmata, denn natürlich ist es wichtig, diese ebenfalls zu erzählen. Und emotional ist es verständlich, wenn sie für den Moment, im Jetzt, durch die persönlichen Begegnungen im Vordergrund stehen. Spannend, aber auch sehr anspruchsvoll, wäre es, herauszufinden, wie viel Anstrengung Qatar aufgewendet hat, um dafür zu sorgen, dass Medienvertreter*innen während der WM besonders leicht auf Menschen treffen, die Positives zu berichten haben. Bei allem, was das Emirat orchestriert hat, ist das keine abwegige Überlegung.

Wahr ist aber auch, dass eben wirklich Punkte dafür sprechen, nach Qatar zu kommen, von denen Arbeitsmigrant*innen und Ehemalige ausführlich berichten. Ihnen zuzuhören ist eine wichtige Aufgabe, weil es eine umgekehrte Instrumentalisierung ist, nur über sie zu sprechen, statt mit ihnen, womöglich um die Ansichten des Westens zu zementieren. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat es im Vorfeld der Weltmeisterschaft ermöglicht, ehemaligen Arbeiter*innen sogar ganz bequem hier in Deutschland zuzuhören, wo einige von ihnen auf Tour waren, um von ihren Erlebnissen im Emirat zu sprechen. Deren Tenor war vielfach differenzierter, als sich das manch eine*r hier vielleicht zuvor ausgemalt hätte.

Natürlich wurden Arbeitsbedingungen und die Maßnahmen zur Freiheitsverhinderung massiv kritisiert, ebenso wie die Tatsache, dass nicht alle Auftraggeber*innen die Abschaffung des Kafala-Systems vom Papier in die Wirklichkeit transportieren. Es wurde aber auch positiv gesprochen über Schritte zur Verbesserung, die bei vielen der Migrant*innen bereits ankommen, wie eine Anhebung des Lohnes. Entscheidend ist zudem etwas, das der kenianische Menschenrechtsaktivist Malcolm Bidali unter anderem bei der Veranstaltung in Frankfurt (die ich moderieren durfte) betont hat: In Qatar und umliegenden Ländern besteht erstmal überhaupt die Möglichkeit, einzureisen, um dort Geld zu verdienen.

Im Gegensatz zu? Genau, Europa, wo das in dieser Art und Weise nicht möglich ist. Hier tragen nun wir Europäer*innen doppelt Verantwortung, zum einen, weil wir es bei uns nicht ermöglichen, dass Menschen aus anderen Regionen unkompliziert in Jobs kommen. Zudem ist unsere ausbeuterische Lebensweise ein großer Faktor dafür, warum es Menschen in anderen Regionen nicht möglich ist, den Unterhalt für die eigene Familie dort zu verdienen. Wir sind also unmittelbar treibend beteiligt an den Bewegungen zur Arbeitsmigration – darüber wurde und wird viel zu wenig geredet.

Zu kritisieren, was in Qatar ebenso wie den umliegenden Ländern in Sachen Arbeits-, Menschen- und Freiheitsreche falsch läuft, und gleichzeitig die Erkenntnisse aus diesem Turnier zu nutzen, um eigene Fehler anzuerkennen, ist eine Gratwanderung, die vielfach misslungen ist – oder gar nicht erst auch nur im Versuch unternommen würde. Dabei gibt es einiges, worüber wir in Deutschland und Europa angesichts dessen, was wir im Emirat kritisieren, mal nachzudenken hätten.

Von wessen Ausbeutung, geschichtlich ebenso wie aktuell, profitieren wir? Wer muss(te) für unseren Wohlstand in Baracken hausen und zu Niedriglohn arbeiten? Von den selbst während Corona herangekarrten Spargelstecher*innen über Arbeiter*innen etwa in Schlachthöfen hin zu etlichen Menschen, die trotz eines Jobs von dem bisschen, was ihnen als Lohn zugestanden wird, nicht leben können, gibt es da einiges zu beackern.

Die Kluft zwischen Arm und Reich, von der in Bezug auf das Emirat sehr viel gesprochen wurde während des Turniers, ist hierzulande ebenfalls Realität, genau wie das Prinzip der Abschottung zwischen unterschiedlichen sozialen Räumen. Hier warten wirklich große Aufgaben auf uns als Gesellschaft – nicht in fernen Emiraten, sondern genau vor unserer Haustür.

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