Ronald Reng: Fremdgänger

Der Autor beginnt die Geschichte seines Protagonisten Tobias Linderoth, indem er dessen Einstellung zum Lesen beschreibt. Er tut dies mit einer Klarheit und Nähe zu seiner Figur, die von der ersten Seite an berührt und Rengs Kunst offenbart, seine Hauptfigur sehr dicht und erlebbar zu machen. So wird Linderoth dem Leser bei all seiner inneren Zerrissenheit und der augenscheinlichen Distanz zu den Menschen um ihn herum – vielleicht dem Leben an sich – nie fremd oder gar unsympathisch. Mit dem lesenden Tobias endet das Buch 354 Seiten später auch und spannt so zum Schluss erneut den direkten Draht von der Figur zum Leser.

Linderoth arbeitet als Investmentbanker in London, der Stadt der Ausländer, wie er sie nennt. Von denen gibt es in seiner Denke zwei Arten. Die eine, der er angehören möchte, mischt sich unauffällig unter die echten Londoner und versucht, es ihnen gleichzutun. In allem – und besonders darin, Erfolg zu haben, es zu etwas zu bringen. Die Anderen bleiben unter sich, sie vermischen sich nicht mit den Londonern sondern putzen deren Wohnungen, hüten ihre Babys und reinigen die Straßen dieser pulsierenden Stadt. Die Beziehungen, die er führt, sollen vor allem eins sein – unaufgeregt. Die Frauen unbedingt ein wenig angepasst, sie müssen akzeptieren, dass sein Beruf die erste Geige spielt und er gerne auch tageweise das Gefühl des Singles zurückerobern möchte: alleine ausgehen, flirten vielleicht – ohne, dass sich das aber gegen seine Partnerin richtet. Über seine Gefühle zu sprechen hat er nie gelernt und erachtet es mittlerweile auch als überflüssig. Seine Partnerschaften verfolgen von einem ersten Anflug der Verliebtheit an ein bestimmtes Muster, das abgeschlossen wird damit, dass die Frau ihn irgendwann aufgibt und geht. Zuvor aber hat er sich ohnehin aus Langeweile bereits so weit von ihr zurückgezogen, dass er kaum mehr wahrnehmbar ist.

Ein Leben nach festen Mustern. (Foto: Verlag)

Ein Leben nach festen Mustern. (Foto: Verlag)

Als er beruflich in der Ukraine zu tun, hat lernt er die junge Larissa kennen; die beiden verlieben sich. Verärgert über die abweisenden Reaktionen seines Umfeldes auf dieses von ihm als so selten und echt empfundenen Gefühls und besessen von dem Wunsch, alles „richtig“ zu machen – und Larissa die Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu beweisen –, heiratet er die 11 Jahre jüngere Frau nach vier Monaten und holt sie zu sich nach London. Schnell ergeben sich in ihrer jungen Ehe erste Probleme. Tobias ist der Doppelbelastung von Jobs und einer echten Beziehung nicht gewachsen, während Larissa, die sich an der Musikhochschule beworben hat und vorerst nichts tun kann, als auf das Ergebnis der Aufnahmeprüfung zu warten, sich zusätzlich zum Heimweh zu langweilen beginnt. Zum Entsetzen ihres Mannes freundet sie sich mit seiner Putzfrau an, Monika, einer gleichaltrigen Polin. Anstatt durch die früher stets erhoffte Liaison mit einer echten Londonerin den letzten Schritt auf die aus seiner Sicht richtige Seite der Stadt zu schaffen, scheint er nun abgerutscht in das London, vor dem er seit jeher flieht. Larissa spürt seinen wachsenden Unwillen, der doch zum Teil auch aus der Unsicherheit über seine eigene Gefühlswelt rührt, will ihm helfen, nahe sein. Doch er weist sie ab und schafft es erneut nicht, seine Gefühle zu artikulieren.

Tief entführt uns Reng in die Gedankenwelt seines Protagonisten, der so sehr darum bemüht ist, ein guter Mitarbeiter zu sein, ein guter Ehemann, ein guter Freund, ein guter Mensch – dass er sich dabei fast selbst verloren geht. Die Sprache des Autors ist zugleich klar und poetisch und lässt zu jedem Zeitpunkt starke Bilder im Kopf des Lesers entstehen über den jungen Mann und seine Stadt – die heimliche Heldin des Buches – in der alles möglich ist, oder zumindest sein sollte. Seine Flucht aus den Zwängen der jungen Ehe, die jedoch letztlich zu großen Teilen selbst gemacht sind, führt ihn schließlich weit in die Vergangenheit. Diese kommt in Form seiner ersten großen Liebe daher, mit der er sich hinter dem Rücken seiner Frau trifft. Doch dann ist es just diese Begegnung, die ihm in Erinnerung ruft, warum er sich damals in der Ukraine in Larissa verliebt hatte, und im fremden Kiew an diese Liebe glauben konnte. So kehrt er zu ihr zurück, ohne sie betrogen zu haben. Reng gibt am Ende glücklicherweise nicht vor, eine Lösung zu den Problemen der beiden bieten zu können, hinterlässt seine Leser aber mit dem Besten, was er ihm bieten kann – dem Mut seines Protagonisten, sich den Anforderungen dieser Liebe zu stellen. Und der Hoffnung darauf, dass es eben wegen der Liebe, dieser speziellen ebenso wie der Liebe an sich, jeden Tag eine neue Lösung geben wird.

Ronald Reng
Fremdgänger
364 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
9,90 Euro

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