Szymon Etminowicz

„Teilen Sie sich das Auto mit einem Kollegen, der nachts arbeitet?“, fragt Janna, weniger aus echtem Interesse denn aus Reflex – und um ein wenig von der Zeit herumzubringen, die sie bis zum Flughafen aushalten muss. Der Fahrer schüttelt bedächtig den Kopf. „Nein“, antwortet er, „das ist mein Wagen“. Er spricht mit unverkennbarem Zungenschlag, „Osten“, denkt Janna. Aber nicht die harte Tonalität, in der Russen die deutsche Sprache anwenden; auch nicht das vollmundige Kauderwelsch der Menschen aus der Balkanregion. „Früher habe ich auch nachts gearbeitet“, erzählt der großgewachsene Mann mit den undenkbar langen Armen und Beinen, von denen Janna sich fragt, wie er sie unter sein Lenkrad bekommen hat. „Als ich noch ein junger Mann war.“ Dazu lächelt er – und das wirkt sehnsüchtig. Polen, denkt Janna, kein Zweifel.

„Im Taxi?“, erkundigt sie sich, mehr höflich als neugierig, was er registriert, ohne dass es ihn zu stören scheint. Vier Tage hat sie in Bonn verbracht, dieser gefühlten Anti-Stadt, über die sie kürzlich im Radio gehört hat, sie sei die Flirtmetropole der Republik. Und läge im europäischen Vergleich angeblich sogar vor Paris – ausgerechnet Bonn, ein Ort, dem Janna als eines von drei Attributen ohne Zögern „unsexy“ anheften würde. „Beim polnischen Staatszirkus“, sagt der Taxifahrer, unaufdringlich, aber nicht ohne Stolz – und mit einem Lächeln, das wenig verklärt, wohl aber Nostalgie zulässt, begegnet er Jannas verwirrtem Blick im Rückspiegel. „Da habe ich gearbeitet“, setzt er nach. „Als Artist.“ Sanft spült die Stimme des Mannes die Worte ins warme Innere des eierschalfarbenen Fahrzeugs mit den fellbezogenen Sitzen. „Ach was“, murmelt Janna überrascht. Selbst keine regelmäßige Zirkusgängerin scheint es, als fehle ihr eine Art natürlicher Reaktion, um an die unerwartete Erklärung des Fahrers anzuknüpfen.

Besser im Taxi weinen, als... (Foto:  axel duerheimer/pixelio.de)

Besser im Taxi weinen, als… (Foto: axel duerheimer/pixelio.de)

Draußen fällt heftiger Regen. Mit sanftem Schmatzen zerschellen die Tropfen, vom Wind getrieben, an den Seitenfenstern des Mercedes, bevor sie als feuchte kleine Flundern auf der Scheibe nach hinten weggetrieben werden – und schließlich den Absprung in den dunkler werdenden Abend wagen. Bonn, denkt Janna, begrüßt und verabschiedet mich immer mit Regen. „Was haben sie denn da gemacht?“, erkundigt sie sich schließlich, ein Zögern darüber in der Stimme, nicht zu wissen, wie selbsterklärend das Wort Artist sein müsste. „Reck“, erwidert der Mann mit den silberfarbenen Haaren; dabei sucht er im Rückspiegel erneut ihren Blick; für einen Moment ist Janna nicht sicher, ob und wie die Unterhaltung von hier an weitergehen wird – doch sein Luftholen klingt mehr nach einer Pause denn einem Ende. „Wir waren zu dritt“, fährt der langbeinige Fahrer denn nun auch so ungelenk fort, wie sein Laufwerkzeug unter dem Lenkrad klemmt. „Und haben alle überlebt. Das war selten.“ Dabei streift er sich mit dem Handrücken schubsend über die eigene Wange, „und immer ging es vom Reck auf den Mann auf das Reck“.

Es muss beinahe schon Jahrzehnte her sein, dass ich zuletzt im Zirkus war, überlegt Janna. Und obwohl sie sich unter der erleuchteten Kuppel nie wirklich wohl gefühlt hat, rieselt ein warmer Schwall von Erinnerungen auf sie herab. Das große, bunte Zelt in gelb und blau. Die Sägespäne auf dem Boden, auf dem stark geschminkte Schaustellerinnen noch kurz vor Beginn der Veranstaltung ihre Babys in den Schlaf wiegen oder dem Publikum Zuckerwatte verkaufen. Der Geruch von Tieren, die am Nachmittag einen Guss Regen abbekommen haben, gemischt mit dem verbotenen Angstschweiß der Dompteure. Janna sucht die Begegnung seiner Augen im Rückspiegel des Taxis, doch der Blick des Fahrers schweift über die Kreuzung, die vom Feierabendverkehr verstopft vor ihnen liegt. „Das Reck“, so erklärt er, mehr zu sich selbst als zu Janna, „ist hoch genug für die Gefahr – beinahe drei Meter – aber nicht hoch genug für ein Sicherheitsnetz, wie das Trapez“. Nun ist er es, der unter den dichten, grauen Wimpern suchend in den Rückspiegel schaut, und endlich beantworten Jannas Augen seinen nun wieder wachen Blick. „Wo sollte man das spannen?“, fragt er; es klingt beinahe anklagend. „Darüber“, gesteht Janna, „habe ich noch nie nachgedacht“ – und sie stellt fest, dass ihre Stimme ein wenig schuldbewusst klingt.

„Sind Sie in eine Zirkusfamilie geboren?“, fragt Janna, das Bild des kleinen Jungen vor Augen, der nicht anders kann, den seine Eltern in unverbiegbarer Liebe von Zeltplatz zu Zeltplatz schleifen – und der Schulunterricht im Wohnwagen bekommt. Wo er auch den ersten Briefwahlzettel seiner Karriere ausfüllt und entjungfert wird; wo jedes prägende Erlebnis seiner Existenz stattfindet. „Mein Vater war beim Zirkus, ja“, erklärt der Taxifahrer, so höflich wie distanziert. „Am Reck, mit meinem Onkel, der während der Vorstellung abgestürzt ist.“ Fast klingt diese Feststellung vorwurfsvoll, so dass Janna bemüht ist zu sagen, „ich gehe nicht in den Zirkus; mir tun die Tiere leid, hinter deren Gesäßbacken die Peitsche knallt. Und ich fühle mit den Clowns, über die das stupide Publikum hämisch lacht.“  Doch es ist nicht seine Beziehung zum Zirkus, sondern der Verlust über ein atmendes, warmes Leben, der den Fahrer auf Distanz gehen lässt zu seiner eigenen Geschichte und dem, was er bereit ist, darüber zu erzählen. „Er ist gestorben, anschließend“, – seine Stimme ist nunmehr ein Flüstern. „Und mein Vater wollte nicht, dass ich ihnen beiden ans Reck folge.“

Was er doch tat, als Junge von gerade dreizehn Jahren. „Es gibt nichts Schöneres als das Reck“, sagt er, während die Distanz aus seiner Stimme schleicht. Mit deutlichem Zögern hakt Janna der Aussage nach: „Trotz der Geschichte mit ihrem Onkel?“ Der Taxifahrer weicht ihrem Blick nicht aus, als er erklärt: „Das Leben kommt, das Leben geht. Meines hat einmal ein Kollege gerettet, weil er mir im Sturz gegen den Kopf getreten hat. Da bin ich mit dem Popo, statt dem Kopf, gegen die Bande geflogen. Mein Onkel hatte weniger Glück – und am Ende einer Abendvorstellung das Genick gebrochen. Aber dafür ist niemals das Reck verantwortlich.“ „Das Leben kommt, das Leben geht“, stimmt Janna gedanklich zu, während Bilder der eben hinter sich gebrachten Beerdigung vor ihrem inneren Auge den Tango der Albernheiten aufführen. Es gibt Menschen, so stellt sie fest, deren Anwesenheit im eigenen Leben kaum einen Unterschied gemacht hat – dennoch reißt ihre Abwesenheit ein empfindliches Loch.

„Mein Onkel und ich, wir waren niemals nahe Seelen, nicht im Geiste verwandt“, erklärt der Fahrer des Taxis, als sie den Flughafen schließlich erreichen. Aber sein Unfall, so legen seine Worte nahe, hat dennoch eine Lücke gerissen für den damals noch jungen Mann, der weder mit Tod noch Verlust umzugehen wusste, und deswegen die Ängste des Vaters auszublenden vermochte angesichts der Entscheidung des Sohnes. „Ich wurde – Artist. Ich konnte nicht anders“, erklärt der Mann mit den absurd langen Beinen. Und Janna umarmt ihn zum Abschied; ohne sich für die Tränen zu schämen, die sie an seinem Kragen weint.

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