Was schlimm ist

„Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers
einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.
Am schlimmsten: nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.“
[Gottfried Benn – Was schlimm ist.]

Du hast den Sommer geliebt. In meiner Erinnerung bist du immer sonnenverbrannt und strahlend. Stehst am Strand, da, wo das Meerwasser dir die Füße umspült, und winkst zu uns rüber, „kommt doch rein, Mädels! Das Wasser ist herrlich.“ „Aber Papi, die Haie!“ Wir Mädchen hatten immer Angst vor Haien. Du hast gelacht und bist ins offene Meer hinaus geschwommen. Und nur noch braungebrannter zurückgekommen. Ich sehe dich im Garten, in diesen albernen grün-weiß gestreiften Shorts. Die musst du wohl zwanzig Jahre lang immer wieder aus der untersten Schublade rausgekramt haben. „Die sind doch noch gut, was habt ihr denn?“ – und ab, in die Sonne. Den Spaten tief in die Erde gerammt. Gepflanzt und begrünt. Der Garten, das war deine zweite große Liebe. Nach uns natürlich, der Familie – von allen Lieben dir die größte.

Ich glaube dir jedes Wort und keines davon. (Foto: WP)

Ich glaube dir jedes Wort und keines davon. (Foto: WP)

Wenn du nicht in den Shorts im Garten unterwegs warst, dann sicher in deinem besten Anzug, sonntags, wenn wir aus der Kirche zurückkamen oder von einer feinen Einladung. Beides Anlässe, bei denen du dich ebenso hingebungsvoll gelangweilt hast wie wir Kinder. Aber, „der Mama ist das wichtig, Mädels!“, also sind wir hingegangen, alle zusammen. Hinterher durftest du dich dann bei deinen Pflanzen austoben. „Schatz, doch nicht im Anzug!“, würde unsere Mutter missbilligend rufen, „und ich muss den Scheiß nachher wieder waschen“. Und du hast gelacht, „ich pass schon auf!“, nur um Stunden später, wenn die Sonne schon blutrot am Horizont untergegangen war, vollkommen verdreckt ins Haus zu laufen, wo eine feine Lehmspur deinen Weg kennzeichnete; bis der nächste desinfizierende Lappen wütend darüber hinweggewischt hatte.

Du hast viele Geschichten aus deiner Kindheit erzählt und ich konnte dich dabei immer vor mir sehen. Den kleinen Bub, aus dem mal mein großer Papa werden sollte, denn dieser kindlich-jungenhafte Schalk, der ist dir für immer in den Augen sitzen geblieben und hat uns von dort angeblitzt. „Der Krieg hat uns doch nicht ernsthaft interessiert, wir waren ja noch Kinder. Haben nur dummes Zeug gemacht, damals, alle zusammen!“, lachst du uns an – und ich glaube dir jedes Wort und keines davon. Doch der Sommer war dir nicht so treu wie du ihm. Und so hat es immer wieder dunkle Wintermonate gegeben in deinem Leben. Gegen die du angelacht hast, weil ein Papi nicht weint, vielleicht – doch auch das hast du schließlich gelernt, und es hat gut getan. Die Tiefs, die dich überrannten, hast du auf eine Art gemeistert, die ich immer bewundert habe: Nie klagend, jammernd oder gegen das Schicksal wetternd, sondern mutig und entschlossen, mit der tiefen Überzeugung im Herzen, sie meistern zu können. Bist jede Krise angegangen, hast dich nie unterkriegen lassen, vom Leben.

Und dann, ganz unerkannt, der letzte Winter. Du, im neuen Häuschen, das alte Leben verlassen, um noch mal ganz von vorn anzufangen. Und ich, die ich aus diesem Wissen endlich die Kraft schöpfen konnte, ein eigenes, lange schon schmerzhaft gewordenes Kapitel meines Lebens zu beenden. Wir haben uns gegenseitig Mut ins Telefon geflüstert und auch hineingeweint, so lange, bis sie beide den Geist aufgaben: erst meines und dann deins. Weil du mehr Mut hattest und ich mehr Tränen. Dein Trost schmeckte neu und tat wohl. „Bis Ostern, Mädel, dann tut es nicht mehr weh!“, hast du gesagt. „Und wenn der Sommer kommt und die vielen Feste, dann kommst du mich besuchen, dann findest du mir noch mal eine liebe Frau – und ich dir einen guten Kerl!“, und wir haben uns gefreut, auf diese Zeit; wie Kinder auf den Rummel.

Doch der Sommer hat uns betrogen, denn ich sollte ihn ohne dich erleben. Dich aber hat der Winter geholt und du musstest sterben, einfach so, ohne Vorwarnung. In der kalten, dunklen Jahreszeit, als die Wiesen zugeschneit waren, die Erde eingefroren und alte Spaten in klirrende Friedhofserde stießen, um daran zu zerbrechen. So, wie ein Teil meines Herzens an deinem Tod.

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