Wenn Tod Verbindungen schafft

Carmen Mayer arbeitet als Trauerbegleiterin und beschäftigt sich mit Trauer im Fußball. Sie ist überzeugt, dessen Rituale schaffen Halt und geben Trost.

Carmen Mayer im Stadion von Turbine Potsdam. (Foto: marwi)

„Ich hab’ mir das ja nicht in dem Sinne vorgenommen, mit Tabus zu arbeiten.“ Carmen Mayer lacht ihr einnehmendes, herzliches Lachen, während sie ihre Tasse abstellt. Dann ergänzt sie: „Für den Fußball stimmt es auch nicht. Das ist ja das Schöne.“ Sie lächelt jetzt. Der Tod, das ewige Tabuthema, es ist ihr ganz selbstverständlich geworden. Wenn Mayer redet, ist da überall Verbindung. Es beginnt mit ihrer Sprache, aus der die erste Heimat Freiburg ebenso klingt wie ihr Zuhause Berlin. Eine warme, ungewöhnliche Mischung ist das, die sie an beiden Orten fest verankert. Verbindung ist auch herauszuspüren, wenn sie über andere spricht, mit großer Herzenswärme, die alle Menschen mit an den Tisch bringt, von denen sie erzählt. Und Verbindung wird zuletzt deutlich in „ihren“ Themen, die jedes für sich stehen und dabei doch alle in den Fußball hineinreichen. Auch ihre Arbeit als Trauerbegleiterin, gerade die, sogar ihre persönlichen Verluste, mit denen alles irgendwie begann.

September. Es ist nochmal so heiß geworden, dass die Menschen in einer Seitenstraße nahe des Frankfurter Bahnhofs in kurzen Röcken und leichten Hemden an dem italienischen Restaurant vorbeiflanieren. Mayer lebt in Berlin, ist auf dem Weg zu ihrer Mutter nahe Freiburg. Dort ist sie aufgewachsen, war jugendliche Umweltaktivistin, wie sie beinah erstaunt erzählt. „Das fällt mir jetzt erst wieder ein.“ Autofreie Städte, Atomkraft, nein danke. Die Themen der frühen 90er setzen etwas in ihr in Gang, keine klassische Politisierung, aber ein Gefühl für Ungerechtigkeit, ein Bedürfnis, dieser Wut entgegenzusetzen, etwas zu bewegen in der Welt.

Treffen sich zwei und reden über Trauer und Fußball. (Foto: WP)

Mayer, Jahrgang 1974, macht eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin, arbeitet in der offenen Jugendarbeit, in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Immer nah dran, immer von und mit dem Herzen dabei. Bis irgendwann der Kopf so voll ist mit Eindrücken, dass ein Tapetenwechsel nötig wird. Die damals 25-Jährige zieht nach Berlin, studiert Geschichte und Bibliothekswissenschaft, arbeitet nebenher im Archiv der Jugendkulturen. „Für mich hat das immer alles zusammengepasst.“ Sie lässt den Blick schweifen, scheint das Gesagte für sich abzuwägen, nickt. Das Verbindende ist sie selbst, sind ihre Interessen, ist ihre Offenheit.

In Berlin lernt Mayer ihren Mann kennen, wird Mutter. Im Frühjahr 2006 erwarten die Eltern ein Geschwisterchen. Berlin summt mit Lebendigkeit in jenem März. Die Männer-Fußball-WM steht vor der Tür, Menschen aus aller Welt entdecken das Land neu, die Vorbereitungen für das als Moment der Völkerverständigung geplante Ereignis laufen. Doch für Carmen Mayer und ihre Familie senkt sich dunkle Schwere mitten in diese flirrende Euphorie. Ihr Kind kommt in einer Stillgeburt tot auf die Welt. Sie spricht mit großer Ruhe über dieses Erlebnis – und mit unendlicher Zärtlichkeit über den Sohn. Es ist auch das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema, die tastend und suchend während dieses Turniers begann.

Die Rituale im Fußball machen Trauer möglich. (Foto: marwi)

„Wir hatten damals einen Untermieter aus der Schweiz bei uns, mit ihm habe ich viel Fußball geguckt in dieser Zeit.“ Mayers Erzählung ist halb erinnernd, halb routiniert. Diesen Teil ihrer Geschichte hat sie schon häufig erzählt, denn er ist gewissermaßen Ausgangspunkt auch für berufliche Veränderungen, für eine Verlagerung in ihren Interessen. Gleichzeitig wählt sie ihre Worte ganz bewusst, denn sie möchte das Private schützen, auch für ihre Familie, nur die Teile preisgeben, die sie für ihren Weg wichtig findet. Fußball also, vielleicht etwas überraschend, mitten in der Trauer. Als Kind habe sie mit ihrem Papa regelmäßig die Sportschau gesehen, erinnert sie sich lachend. „Mein Vater hat jeden Samstag beim Autoputzen das Bundesligaradio gehört und die Nachbarn damit genervt bis aufs Messer.“ Sie grinst breit über dieses erfüllte Klischee, mit dem sie viele schöne Erinnerungen verbindet. „Er fand den Waldhof gut.“

Als sie ihren Sohn verliert, leben die Fußballerinnerungen auf, vor allem aber ermöglicht ihr die Konzentration aufs Spiel „einfach mal abzuschalten. Ich musste 90 Minuten an gar nichts denken, auch nicht an die Trauer.“ Das wirkt erleichternd, nicht nur für Mayer. „Unsere Freunde haben das im Nachhinein bestätigt. Man hatte einen Grund, sich zu treffen – die Spiele. Und musste kein Programm machen, denn das Programm war ja: Fußball.“ Der ermöglicht ihr, mit der Trauer über den Verlust einfach zu sein, sich nicht anstrengen zu müssen und dennoch zugehörig zu fühlen. „Es gab so einen positiven Grund, sich zu treffen. Du triffst dich nicht zum Weinen, aber du darfst jederzeit losheulen und alle sind um dich herum.“

Trost und Erinnerung, Ablenkung und Glück: alles trifft sich im Fußball. (Foto: marwi)

Mayer beginnt erstmals, sich mit der Verbindung von Fußball und Trauer zu beschäftigen. Sie arbeitet in einer Therapie zu ihrem Verlust, beginnt eine Weiterbildung zur Trauerbegleiterin – und wird erneut schwanger. „Ich habe selbst keine Geschwister und wollte das gern für unser Kind.“ Die Tochter sei „eine Stramplerin“ gewesen, erzählt Mayer, und wieder ist da große Zärtlichkeit in ihrer Stimme. „Sie war mit bei vielen Fußballspielen.“ Die nehmen immer größeren Raum ein im Leben der damals 34-Jährigen.

Mai 2008. Die EM in Österreich und der Schweiz steht vor der Tür, als Carmen Mayer auch ihre Tochter in einer Stillgeburt tot auf die Welt bringt. „Danach wurde klar: nie wieder.“ Sie stellt die Worte ruhig in die Hitze des Septembernachmittages. Ihre Art, über die Verluste zu sprechen, schafft Raum für Nachfragen, für Unbefangenheit. Mayer betont, ihre eigene Geschichte dürfe im Job als Trauerbegleiterin keine Rolle spielen und doch ist offensichtlich, sie tut das im besten Sinne: Weil es durch die Arbeit, die sie an sich selbst geleistet hat, so einfach ist, mit ihr über Themen zu sprechen, die sonst in unserer Gesellschaft oft schweigend behandelt werden – eine Stille die Betroffene schmerzt und hilflos macht.

Erneut kommt dem Fußball eine besondere Rolle zu in der Zeit der ersten Trauer. „Es waren wieder die Spiele, klar. Und dann habe ich eine ganz besondere Verbindung gespürt zu Frank Lampard, der im April 2008 seine Mutter verloren hatte.“ Wie der heutige Trainer des Chelsea FC über diesen Verlust spricht, lässt etwas in Mayer wiederklingen. Noch einem weiteren Spieler fühlt sie sich in ihrem Schmerz verbunden: Khalid Boulahrouz, dessen Tochter im Juni zu früh zur Welt kommt und kurz darauf stirbt. „Es war sehr wertvoll, wie seine Kollegen damals damit umgegangen sind, auch öffentlich“, findet Mayer, die von „sozial nicht anerkannter Trauer“ spricht. „Das Kind hat für das Umfeld ja nicht gelebt, niemand hat es kennengelernt – für viele ist der Verlust deswegen nicht greifbar.“ Erneut macht sie die Beobachtung: „Der Fußball hat innerhalb seiner Rituale besondere Wege gefunden, mit dem Tod umzugehen.“

Tröstliche Erinnerung und unbelastete Freude: Im Stadion ist Platz für beides. (Foto: marwi)

Im Sommer 2012 eröffnet Mayer ihre eigene Praxis. Heute gibt sie ihre Erfahrungen auch als Dozentin im Ambulanten Hospiz-und Familienbegleitdienst der Johanniter weiter. Derweil schreitet im Bereich der Trauerbegleitung die Professionalisierung weiter voran, es gibt einen Bundesverband. Um anerkanntes Mitglied zu werden, macht sie eine erneute Weiterbildung, die sie mit einer Arbeit über den Zusammenhang von Trauer und Fußball abschließt. Erneut kommt sie auf das Thema Rituale zu sprechen: „Der Umgang mit Verlust und Trauer ist im Stadion oft sehr natürlich.“ In der Kurve werden verstorbene Fans mit Bannern geehrt, rivalisierende Ultras sind bei dem Thema respektvoll, bei Union Berlin wird im Stadion an verstorbene Fans erinnert und Hertha-Fans organisieren jedes Jahr den „Remember Benny-Cup“, um die Erinnerung an einen von ihnen aufrecht zu erhalten.

„Wenn du mich fragst, was Leute sagen, worunter sie nach dem Tod eines geliebten Menschen besonders leiden, ist es das Gefühl: Er wird vergessen. Der Fußball vergisst nicht, er hat eine Erinnerungskultur, die unheimlich tröstlich ist.“ Daneben ist Fußball Ablenkung, das Stadion – für Carmen Mayer das von Turbine Potsdam – ein Ort, um einfach zu sein, Tod und Trauer zu vergessen. „Ich kann vorm Spiel jemanden Fragen beantworten, wie Hospizunterbringung abläuft und dann 90 Minuten an gar nichts denken. Beides passt da rein und das ist ganz wunderbar.“

Ihren Themen widmet sich Mayer in einem außergewöhnlichen Fanzine. (Foto: marwi)

Im Herbst 2018 wagt sich Mayer mit der Verbindung ihrer Herzensthemen nochmal ganz neu an die Öffentlichkeit. Sie geht mit ihrer Webseite zu Trauer und Fußball online und startet einen Account bei Twitter. Dort teilt sie fast tagesaktuell Informationen, erinnert an deren Todestagen an verstorbene Spieler oder Fans und begleitet das Thema, unterstützt von einem kleinen Team, nahbar und intensiv. Mittlerweile wird sie regelmäßig für Vorträge gebucht und ist dank ihrer Arbeit Mitglied in der Deutschen Akademie für Fußballkultur. „Manchmal kann ich kaum glauben, wie sich das alles entwickelt hat.“ Sie lächelt offen – und ehrlich erstaunt. „Da bin ich schon oft sehr dankbar.“

Kürzlich hat sie sich nun einen Traum erfüllt und mit Kolleginnen ein Fanzine zum Thema Trauer und Fußball veröffentlich, klassisch geklebt und aus ihrer Wohnung heraus vertrieben. „Das Echo war überwältigend, wir haben das ja kaum beworben.“ Sie selbst, sagt Mayer, habe keine Angst vor dem Tod. „Ich habe das Gefühl, ich habe alles gemacht. Klar wäre es jetzt zu früh, weil ich mir wünsche, dass es so noch lange bleibt. Aber ich fürchte mich nicht.“ Sie hat dem Tod auf eine besondere Weise einen Platz eingeräumt in ihrem Leben. Jeder Verlust bleibt dabei zwar schmerzhaft, doch sie hat ihn seiner langen Schatten beraubt. „Es ist schon so, dass ich mit dem Thema mittlerweile auch viele sehr schöne, berührende Momente erlebt habe und das hat natürlich etwas an meinem Blick verändert.“ Der Tod, dem anhaftet, er kappe alle Verbindungen, er schafft in Carmen Mayers Leben ganz besondere Beziehungen.

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