…where I left a Piece of my Heart

Sie waren mir besonders, die zehn Tage im Jahr. Als hier noch Heimat war und er nicht schwankte, der Boden, auf den ich nun unsicher meine Füße setze. Der Ort, an dem ich keinen Platz mehr habe. Der Heimat geblieben ist, alt, aber kein Heim mehr bietet, neu, weil sich alles den Veränderungen der Zeit unterwerfen muss, ohne dass wir danach gefragt werden, ob uns das nun passt oder nicht. Ich denke an meinen Vater – denn es waren auch seine zehn Tage. Dieses riesige, bunte Fest voller Menschen, mit den flackernden Lichtern, die das Dunkel der Nacht durchzucken, hat ihn und mich gleichermaßen angezogen, so, wie auch Bären dem Geruch des Honigs folgen – weil das eben so ist. Das große, beleuchtete Rad dreht sich, immer und wieder, ich sehe in den Nachthimmel und den Gondeln hinterher, bis mir schlecht wird davon.

Ich kann, wenn ich die Augen schließe, das Häuschen sehen, in dem mein Paps die letzten Wochen seines Lebens verbracht hat. Es ist nur ein paar Minuten von hier den Berg hoch. Oben, unterm Dach, das Gästezimmer – mein Zimmer. Dort wollte ich übernachten, jeden Sommern, mit drehendem Schädel, nach dem Fest. Mit ihm die ersten Biere trinken. Und dann losziehen, weiter, Freunde treffen. Die alten. Nun trinke ich mein Bier ohne ihn. Dafür mit einer Schulfreundin, bei der ich später auch übernachte, nun, da ein fremder Mann im Haus meines Vaters lebt. So werde ich also keine Nacht mehr im Gästezimmer unterm Dach verbringen – und habe ich ohnehin nie, wo doch alles so schnell ging, plötzlich, in jenem Januar.

Begegnung mit dem Gestern. (Foto: Marieke Stern)

Begegnung mit dem Gestern. (Foto: Marieke Stern)

Heute nun also bei jener Freundin, alten, der ich mal die Haare geschnitten habe, in der zweiten Klasse. Was großen Ärger gab, mit ihrem Vater, vor dem ich mich fürchtete – ebenso wie sie. Der Arzt war, außerdem noch Alkoholiker – und sich umgebracht hat, zehn Jahre ist das jetzt her. Und ich bin mir nicht sicher, ob das eine ganz andere Geschichte ist, oder vielleicht einfach die selbe. Mit Bier und Zigaretten ziehen wir über das Fest und plötzlich fällt mein Blick auf die Halle, kaum hundert Meter von uns entfernt. „Hej“, sage ich, „lustig: Hier war ich seither nie.“ „Seit wann?“ Ich muss nicht wirklich nachdenken, tue aber so – nur kurz, bevor ich grinse, „na, seitdem der Papi gestorben ist“. „Was hat das mit der Halle zu tun?“ „Hier ist es passiert.“ „Echt, ich dachte in der anderen, weiter da unten?“ Sie deutet irgendwohin ins Leere. Ich weiß nicht welche Halle sie meint, schüttle den Kopf und denke dabei, so lustig war das doch gar nicht – aber ihr ist es noch nicht einmal aufgefallen. Doch da schiebt sich ihre Hand in meine, ist sie an meiner Seite mit einem Blick, der heute noch alles so versteht wie früher. Weil es eben Dinge gibt, die sich der Veränderung der Zeit nicht unterwerfen lassen; zum Glück.

Als wir noch zur Schule gingen, sind wir in den großen Ferien zehn Tage lang jeden Abend auf dieses Fest gezogen, um gemeinsam zu feiern, uns und das Leben, zu lachen, in der warmen Luft der endlosen Sommernächte, Karussell zu fahren – und dann, wenn die Geräte das Drehen an unsere Mägen und das Bier es an unsere Köpfe weitergegeben hatten, in Scharen nach Hause zu wanken und irgendwie beseelt in unsere Jugendzimmerbetten zu fallen. Mein Kopf sendet eine vergrabene Erinnerung aus jedem Jahr das ich je hier verbracht habe an mein waches Herz, und in jeder Sekunde dieses Abends spüre ich ebenso viele Gründe um zu lachen wie um zu weinen, liebe ich es hier zu sein – und hasse mich auch dafür, diesen Abend zwischen heute und gestern auf dem lauten, bunten Fest zu verleben; zumal freiwillig.

Und spüre doch, dass es an der Zeit war für diese Begegnung mit dem Gestern. Weil ein Teil von mir in jeder der Ecken steckt, die ich an diesem Abend streife. Ein Bild von mir in jedem dieser Menschen, die mich erinnern wie ich sie: vielleicht nicht ganz richtig, vielleicht sogar völlig falsch, dabei aber immer echt, einfach, weil es da all diese Jahre gab, die wir geteilt haben. Das macht sie mir wichtig, immer noch – obwohl ich es vergessen hatte, unterwegs. Wichtig, weil ich zwar nicht meine Wurzeln bin, mich aber wohl fühle daran, sie hier zu spüren, nach langer Zeit wieder. Es liegt immer ein Schmerz im Abschied, doch er folgt der Wut erst nach, kommt nicht mit ihr und auch nicht davor. Was zunächst aussah wie eine Verabschiedung, ist in Wahrheit nur hilfloses Abwenden gewesen. Denn erst, wenn die Wut sich zurückgezogen hat, ist der Moment gekommen, wiederzukehren, um noch einmal Abschied zu nehmen, ehrlich nun – dort, wo vor langer Zeit ein Teil des eigenen Herzens zurückgeblieben ist. Wo ich es schließlich in den Begegnungen mit Menschen an diesem Abend wiedergefunden habe – und eingesammelt. Nicht, um es mitzunehmen, dahin, wo ich nun bin, sondern um es zu verbuddeln, genau da, wo meine Wurzeln sich tief in die Erde gewühlt haben. Damit mein wilder Herzschlag sie am Leben hält und ich zurückkehren kann, jederzeit, um mich ihrer zu vergewissern.

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