Wenn das Publikum Schwierigkeiten hat mit dem Verständnis von Produktionen, ist das ein Problem der Stücke oder des Publikums?
Der Vorhang zur letzten Vorstellung der dritten Ausgabe der Wiesbaden Biennale ist gefallen. Was zunächst bleibt, ist der Eindruck, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Festival die Frage nach Vermittlungswillen und -kompetenz des neuen Kurators Kilian Engels eine viel größere Rolle gespielt hat, als die eigentlichen Stücke und ihre Botschaften.
Das ist zum einen bedauerlich, zum anderen sagt es womöglich mehr über die Diskutierenden, als über den Kurator. Denkbare Fragen hierzu lauten: Wer möchte eigentlich was erklärt bekommen? Warum gibt es Erklärungsbedarf? Und wird Dialog wirklich verweigert?
Aus dem Besuch eines Theaterstücks oder generell der Begegnung mit Kultur Fragezeichen mitzubringen, ist zunächst einmal überhaupt nichts Schlechtes. Im Gegenteil ließe sich sogar argumentieren, Kultur, die uns genau da abholt, wo wir bereits sind, uns vor keine Aufgaben stellt und keine Fragen in uns aufwirft, hat ihre Wirkung verfehlt.
Kultur als Komfortzone ist die Idee eines Konzertabends bei der eigenen Lieblingsband, aber kann sicher nicht die Idee bei einem Festival wie der Wiesbaden Biennale sein. Das haben auch deren ersten Ausgaben gezeigt.
Es geht also eher um die Souveränität im Umgang mit den Fragezeichen – und vielleicht auch darum, wie sehr verschiedene Gruppen diese gewohnt sind. Ein klassisches Theaterpublikum Wiesbadener Produktionen der vergangenen Jahre geht womöglich davon aus, mit allem, was auf der Bühne speziell im Großen Haus passiert, automatisch etwas anfangen zu können. Was, wenn das plötzlich nicht mehr zutrifft, auch, weil gesellschaftliche Aspekte auf dieser Bühne stattfinden, die hier bislang eher keinen Raum gefunden haben?
Wenn beispielsweise über das „visuelle Gedicht“ How A Falling Star Lit Up The Purple Sky zu lesen ist, die angekündigten Bezüge zum Western seien nicht klar, muss die Frage erlaubt sein: Wem? Immerhin ist es der Song „Walk On By“ von Isaac Hayes, der da aus den Lautsprechern dröhnt. Der Sprung zu dessen Titelsong für den Film „Shaft“, den Blaxploitation-Filmen in den 1970ern und der Rolle des Westerns darin, ist durchaus machbar.
Vielleicht nicht für jede*n Zuschauer*in, aber: Ist das so schlimm? Oder anders gefragt: Sind Bezüge in dem, was vielfach als klassisches Theater definiert wird, umgekehrt für jedermensch gleich offensichtlich? Und wird der Unwille über eine vermeintlich schwierige Zugänglichkeit der Stücke nicht bei näherer Betrachtung eher davon ausgelöst, diesmal auf der Seite jener zu sein, denen nicht alles Bühnengeschehen auf den ersten Blick einleuchtet?
Wenn dem so wäre, müsste die ehrliche Feststellung nicht lauten: Dieser Perspektivwechsel spricht für eine extrem gelungene künstlerische Arbeit, die aufschreckt, entblößt und zum Nachdenken anregt?
Der Abgleich, der mir in der Debatte fehlt, ist: Auf wen möchte Kilian Engels mit seiner Haltung Rücksicht nehmen? Und: Auf wen nimmt das klassische Theater Rücksicht? Wenn der Kurator betont, als weißer Mann nicht die Kunst Schwarzer Frauen erklären zu wollen, so nimmt er Rücksicht auf seine Künstler*innen, von denen er weiß: Ihr Zugang zu den Räumen, die sie bei der Biennale bespielen, ist vielfach beschränkt. Sie nutzen diesen unter anderem, um auf ihre Geschichten aufmerksam zu machen, persönliche Erfahrungen auf die Bühne zu bringen.
Ist es nicht eine brutale Haltung eines mehrheitlich weißen Publikums, das oft nicht hinsehen will, wenn es um Kolonialgeschichte, um Rassismus und Unterdrückung geht, man müsse ihm diese Stücke nun erklären? Und eine arrogante Haltung im Umgang mit Gender, jene Künstler*innen, die sich nicht innerhalb binärer Grenze wiederfinden, sollten Rücksicht nehmen auf diejenigen, denen solche Themen neu sind – und nicht umgekehrt? Ist es denn Aufgabe Betroffener, immer Care- und Erklärarbeit zu leisten? Oder eher die der Mehrheitsgesellschaft, zuzuhören und Raum zu geben?
Und wie erklärt sich bitte das klassische Theater all jenen, die vielleicht nicht damit aufgewachsen sind, wo nimmt es Rücksicht auf diejenigen, denen Querverweise und Bezüge nicht ohne Weiteres einleuchten, die sich ausgeschlossen fühlen von einem elitären Kulturbegriff, der sich um nichts schert, vor allem nicht um die eigene Zugänglichkeit?
Die Debatte um einen vermeintlichen Mangel an Spielstätten in der Stadt lässt sich vor dem Hintergrund dieser Themen jedenfalls auf zwei Weisen lesen. Manch eine*r mag vermissen, dass sich das Theater anlässlich des Festivals in ganz Wiesbaden ausbreitet. Aber ist nicht umgekehrt ein Teil der Irritation darin begründet, dass die als so andersartigen empfundenen Stücke sich genau dort Raum nehmen, wo sie sonst nie stattfinden: auf der Bühne des Großen Hauses?
How dare they …
Wer über diese und andere Fragen während der Biennale 2022 mit ihrem Kurator diskutieren wollte, hatte dazu vielfach Gelegenheit. Kilian Engels war durchaus präsent während des Festivals und hat aufkommende Fragen geduldig beantwortet. Was der Theatermacher aber nicht getan hat, ist, sich von seiner Haltung zu bestimmten Komplexen abbringen zu lassen.
Damit hat er womöglich einige Menschen vor den Kopf gestoßen. Seine Künstler*innen gehören nicht dazu; zum Glück. Das Festival steht so aber unterm Strich viel stärker in der Tradition der bisherigen Biennalen, als es vielen bewusst zu sein scheint. Gleichzeitig wagt es Neus. Und es macht Lust auf 2024.