Willi Löhr: Herzbube an der Gitarre

Wie auch an anderen Fußballstandorten, hat es rund um Mainz 05 immer wieder Fanzines gegeben – und nach einer Pause sind in den letzten Jahren famoser Weise einige nachgewachsen. Nils Friedrich hat sich ihnen in einem beeindruckenden Almanach gewidmet, in dem auch die unvergessene TORToUR verzeichnet ist.

Was von ihr definitiv bleiben wird, ist die Erinnerung an ihre Gimmicks, die sie quasi zum YPS-Heft unter den Fanzines machte. Das konnten Sticker von Spielern ebenso sein wie ein am Cover angeheftetes Tütchen mit Sand der damals vorm Abriss stehenden Gegengerade oder ein Adventskalender zum Selberbasteln. Und einmal war es ein (aufpreispflichtiges) Kartenspiel, auf dem statt der klassischen Figuren 05-Spieler abgebildet waren.

Zu ihnen gehört auch Willi Löhr. Der 1947 in Lahnstein geborene Abwehrspieler kommt 1971 vom 1. FC Nürnberg nach Mainz. Weil die Vereine sich nicht über die Höhe der Ablöse einig werden, schießt er selbst einige Tausend Mark zu, damit die Nullfünfer ihn aus dem Vertrag rauskaufen können. Obwohl seine vier Serien in Mainz von anderen Spielern leicht getoppt werden, gab es für Löhr nur eine mögliche Karte: den Herzbuben.

Der gelernte Radio- und Fernsehtechniker, der in der Endphase seiner Karriere in Mainz schon stundenweise bei den Stadtwerken in der Kommunikationstechnik arbeitet, verliebt sich nicht nur in seinen Verein, sondern auch Hals über Kopf in die Stadt und ihre Menschen – und diese Liebe wird hier bis heute innig erwidert.

Löhr ist deshalb nach den vier Jahren am Rhein so verwurzelt, dass er bleibt, als Trainer bei kleineren, umliegenden Vereinen arbeitet und später als Coach im Juniorenbereich zum Verein zurückkehrt, für den er bis heute im Scouting tätig ist. Auch, wenn er nicht ununterbrochen in offiziellen Ämtern war: Willi Löhr ist seit 50 Jahren Nullfünfer mit Herz und Seele und steht wie wenige andere für diesen Club, mit dem er so viel erlebt hat.

Wer das Haus der Löhrs betritt, biegt in der Regel links in den Wohnbereich ab. Es gibt aber auch einen anderen Weg, der geradeaus in einen ganz speziellen Raum führt. Die Wände sind hier – wie könnte es auch anders sein – rot und weiß gestrichen und geziert von Erinnerungen an die Zeit als 05-Spieler: Schwarz-Weiß-Fotografien, Geburtstagsgrüße, Wimpel, Collagen und jede Menge Bücher zur Vereinsgeschichte.

Löhr zeigt mit verschmitztem Lächeln auf bestimmte Details und erzählt Anekdoten wie Lausbubenstreiche. Dabei lacht er, es klingt wie ein Glucksen, und seine Augen leuchten bei der Erinnerung an Zeiten, „die mit heute einfach gar nicht mehr vergleichbar sind“. Zumindest ist schwer vorstellbar, dass die Spieler ihren Übungsleiter mit den Worten „Trainer, noch ein Bierchen!“ dazu bringen, die Sperrstunde im Trainingslager nach hinten zu verschieben.

Löhr hat alles miterlebt, die Südwestmeisterschaft, den freiwilligen Rückzug aus der 2. Liga, Trainerwechsel im Minutentakt. Er hat Guido Schäfer aus dem Trainingslager abhauen sehen, um sich in der Stadt eine nächtliche Theke zu suchen, war dabei, als Torjäger Gerd Klier von Trainer Uwe Klimaschefski rückwärts mit Medizinbällen im Arm über die Aschenbahn gejagt wurde und ist auf der Suche nach Talenten um die Welt gereist, aber nicht in jedes Stadion reingekommen.

Als er nach tagelanger Anreise zur Beobachtung eines Spielers einmal vor verschlossenen Toren steht, weil zum Spiel keine Zuschauer*innen zugelassen sind, rät Christian Heidel ihm per SMS, es doch mit Bestechung zu versuchen. „Das habe ich schon“, antwortet Löhr und als er davon erzählt, lacht er Tränen. Heidels entspanntes Fazit: „Dann kannst du dich nur noch besaufen.“ Gesucht wurde damals übrigens ein Innenverteidiger. Weil das im Sande verlief, kam der junge Niko Bungert zu seinem ersten Einsatz – der Rest ist Geschichte.

Wenn Fans sich heute beschweren, weil es nicht so läuft, wie sich das vorstellen, hat Willi Löhr dafür kein Verständnis. Er spricht dann vom Zusammenhalt der alten Truppe, und das hat nichts Belehrendes, sondern weckt Sehnsucht danach, diese Nähe aufleben zu lassen, weiterzutragen, wie an einem wärmenden Lagerfeuer darum zusammenzukommen.

aus: Fußballfibel / CULTURCON

Die alten Nullfünfer tun ja auch bis heute genau das, treffen sich in einem Seniorenkreis. Das klingt ein bisschen, als kämen Rentner*innen aus der Umgebung zusammen, um 05-Spiele zu schauen. Tatsächlich aber wäre die Runde mit Legendentreffen besser beschrieben, schließlich sitzen da regelmäßig etliche aus den alten Garden beieinander.

Willi Löhr und Gerhard Bopp, der ehemalige Trainer und Spieler Horst Hülß, der einstige Kapitän Norbert Liebeck und viele mehr. Weil diese Treffen – wir sprechen hier von Zeiten vor Corona – in geschlossenen Räumen stattfinden, brennt da natürlich kein Lagerfeuer, die Stimmung ist aber ganz ähnlich und dazu trägt auch eine Gitarre bei: Die hat Willi Löhr locker auf dem aufgestützten Oberschenkel liegen und spielt Evergreens nach dem Wunsch der klatschenden und johlenden Runde.

Dabei strahlt er, das kommt bei ihm aus dem tiefsten Inneren, er lacht gluckernd über die Zurufe seines Publikums und spielt jedes Lied, das ihm angetragen wird. Er ist, auch in dieser Runde, ganz klar: der Herzbube.

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