„Solange man sich treiben lässt,
ist nichts zu befürchten, ja,
inmitten der Strömung überkommt einen
sogar das Gefühl trägen Wohlbehagens.“
[Christopher Isherwood: Der Einzelgänger]
Was, wenn das Kino all seine Geschichten schon erzählt, und uns nichts Neues mehr zu sagen hat? Wenn wir all das, was uns ein Film verraten wollte, längst wussten? Wenn kein Wort und keine Figur uns mehr zu überraschen vermag? Dann… muss das Kino seine ausgetrampelten Erzählwege und neuen 3D-Pfade verlassen, um uns mit Sinnlichkeit zu überraschen – so wie jetzt der Designer Tom Ford in seinem aufregenden Regiedebüt „A Single Man“. Alles, was der Zuschauer im Verlauf dieser 101-minütigen Verfilmung von Christopher Isherwoods 1964 veröffentlicht Roman „A Single Man“ („Der Einzelgänger“) erfahren wird, deutet sich in den ersten Minuten an: Da ist der britischen Professor George Falconer, der über den Unfalltod seines Lebensgefährten Jim nicht hinwegkommt und auch nicht über den Umstand, von dessen Beerdigung ausgeschlossen worden zu sein, da diese „im Familienkreis“ abgehalten wurde. So satt hat der Mittfünfziger die Last von Trauer und Verlust, dass er beschließt, sich das Leben zu nehmen – und es ist der Tag, an dem er seinen Selbstmord akribisch vorbereitet, den Zuschauer und Hauptfigur miteinander teilen.
Da ist Georges beste Freundin Charlotte (Julianne Moore), die wie er aus London nach Los Angeles kam – und dort auch nach Jahren die Hoffnung auf seine Liebe nicht aufgeben kann, trotz alledem. Oder die Gedanken darüber, was hätte sein können, wäre er keine „scheiß Schwuchtel“; und es fließen Tränen aus Gin von einer Umarmung in die nächste. Da ist der unangenehme Nachbar, der George einen „warmen Bruder“ nennt, und seine Frau, die alle Unfreundlichkeiten ihres Gatten hinwegzulächeln versucht. Und da ist der junger Student Kenny, der zu spüren scheint, dass sein Professor nicht dem blonden Mädchen an seiner Seite freundlich zulächelt, sondern ihn, den jungen Mann, meint, wenn seine Blicke begehrlich über die Campuswiesen schweifen. Die Kunst des texanischen Modedesigners besteht nicht darin, dem Zuschauer seine Figuren nahezubringen, obgleich es ihm gelingt. Auch nicht darin, diese Geschichte zu erzählen, gleichwohl er den Roman gemeinsam mit David Scearce für die Leinwand adaptiert hat. Seine Magie entfaltet dieser Film nicht dank der Erzählung, sondern durch das Gewand, in welches er sie kleidet. Ford reiht mit beinahe dreister Leichtigkeit Momente wie schimmernde Perlen auf und hält sie vor den Augen des Zuschauers ins grelle Sonnenlicht, damit sie ihn zugleich blenden und sich ihm ins Gedächtnis brennen. Jede Szene, jede Einstellung gar, wird zum bildgewaltigen Erlebnis, das Hingabe erfordert und den Mut, sich einzulassen auf die intensive Struktur und ungewohnte Form.
Wie im Zeitraffer bewegt sich George durch seinen (vermeintlich) letzten Tag und die Menschen, die ihm dabei begegnen, sind selten mehr als Projektionsflächen für sein Innenleben. Ist es wirklich die Nachbarsfamilie, die er aus dem Badezimmerfenster beobachtet, ist es der Nachbarsjunge, der einen Schmetterling zwischen seinen vor Aufregung feuchten Kinderhänden zerstauben lässt – oder sind all das nicht Erinnerungen des Professors an die eigene Kindheit? Kühl und entsättigt baut Ford seine Bilder wie kleine Kunstwerke um einen schmerzlich präsenten Colin Firth in der Rolle des Liebenden mit gebrochenem Herzen, der wenigstens im Traum die Chance hat, sich von seinem Mann mit einem zarten Kuss zu verabschieden – und zugleich bricht auch hier der Schmerz gewaltsam auf im Bewusstsein über den Verlust. Trauer und ein metallener Geschmack schwappen aus der dämmerigen Zwischenwelt in den Tag des Professors über, der neben einer Lache aus Tinte erwacht. Und dem Kuss nachfühlend landet sie als kühles Abbild der Erinnerung an diese letzte Berührung auf seinen Lippen, im Auge des neuen Tages. Es ist dieses Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, das sich von der Hauptfigur auf die Zuschauer überträgt. So, wie George selbst beinahe sezierend auf die Welt und die Menschen um sich herum blickt, ihre Bewegungen gleichsam verzögert wahrnimmt und ihre Worte erst registriert, wenn diese bereits verklungen sind, richten sich gleichzeitig die Blicke dieser Umwelt neugierig und verwundert auf den britischen Professor. Wenn er in seiner Vorlesung über die Angst spricht, die Menschen vor Minderheiten haben, als Motor dafür, diese auszugrenzen, ist nicht nur dem Zuschauer klar, welche Minderheit er bar des behandelten Romans meint.
So wagt sich schließlich sein Student Kenny (Nicholas Hoult) nicht nur, Falconer an der Universität auf seine bevorzugte Droge anzusprechen, sondern erfragt auch die Adresse des Lehrers im Instituts-Sekretariat, um später wie zufällig in einer Bar in der Nähe aufzukreuzen. Zuvor verbringt George jedoch einen Abend mit Charlotte, die trinkt, bis sie enthemmt genug ist, um sich ihm mit all ihrer Lust und Frustration anzubieten. Und dabei hofft, er sei seinerseits benebelt genug, um sie nicht abzuweisen. Und er tut es doch, hinterlässt sie offen und verletzt, trotz inniger Freundschaftsbekundungen, traurig und sehnsüchtig; er selbst noch im Glauben daran, sie nie wiederzusehen. Denn Zuhause wartet die geladene Waffe, wartet der Anzug, den er für sein eigenes Totenbett herausgesucht hat, liegen die Abschiedsbriefe bereit und wartet ein letzter Moment vor dem Kamin, bevor eine Kugel sein müde gewordenes Hirn treffen soll. Umtriebig von der Erinnerung an seine erste Begegnung mit Jim (Matthew Goode) landet George jedoch in einer Bar, wo er auf Kenny trifft. Die Farbe fällt zurück in die so entsättigten Bilder, der Professor wirkt um Jahre verjüngt, nun, da ein Lächeln seine Züge entspannt und er sich sichtlich angetan dem Flirt mit seinem jungen Schüler hingibt. Die beiden baden im Meer, Kenny wird dabei zum Retter des Älteren, als dieser von einer Welle niedergedrückt wird. Wie zufällig legt Ford dem Schüler die Worte des verstorbenen Liebhabers in den Mund, wandert George wie in Trance hinter dem Jungen über den Strand. Berührung, Begehren und die kribbelige Anspannung vor der ersten leidenschaftlichen Geste liegen greifbar in der Luft, doch der Designer lässt seine Figuren nicht aufeinander prallen, sondern umeinander tanzen.
Es ist ein zartes Andeuten und vorsichtiges Tasten, in dem beide sich verlieren, weil keiner dem Gegenüber zuerst den Blick hinters eigene Visier zugesteht. Die Begegnung schafft, was Freunde, Beruf und vorangegangene Flirts nicht vermochten – sie zieht George zurück ins Leben. Aus dem Off berichtet der Professor von den wenigen Momenten der absoluten Klarheit, die er in seinem Dasein verspürt hat und wie sie ihn aus der Tiefe zurückziehen ins Licht, wo er nun bleiben möchte; bleiben muss, gleichsam – zum Leben verführt. Firth schenkt seiner Figur in all dem eine entwaffnende Zärtlichkeit, in der sich jede Bewegung wie ein Streicheln anfühlt. Als am Ende unerwartet ein Stich Georges Herz durchfährt, trifft dieser den Zuschauer ebenso unvermittelt wie jenen Leinwandhelden, der sich dem Leben doch gerade wieder zugewandt hatte. Durch die Begegnung mit Kenny aber ist ihm ein Abschied in Frieden geschenkt – oder war da vielleicht gar niemand? Und ist der junge Mann am Ende nur eine flüchtige Vorstellung, eine Projektion, mit der George sich aus der Lethargie zu reißen versuchte…