Ein guter Tag zum Puzzeln

Wenn in der Zeit vor Christi Himmelfahrt die Ausflüge mit Bollerwagen und Bierpaletten geplant werden, frage ich mich, ob es diese Tradition während meiner Kindheit im Odenwald nicht gab – oder ob mein Vater sich nur nicht daran beteiligt hat. In meiner Erinnerung wurde bei uns der Bollerwagen jedenfalls nur mit Bier beladen, um den abgeschafften Wiesenmarktsdonnerstag unbeirrt weiterzufeiern – aber das ist eine andere Geschichte. Ansonsten waren es meine Schwester und ich, die darin herumgezogen wurden; keine alkoholischen Kaltgetränke. Bedeutet das aber im Umkehrschluss, dass mein Paps diesen Tag lieber mit uns, seiner Familie, beging? Oder wurde gar nichts gefeiert? Auch daran kann ich mich nicht erinnern: Muttertage, Vatertage – ich, die sich normalerweise mit einem Elefantengehirn herumschlägt, das alles festkrallt, habe keine Bilder dazu, keine Erinnerung, nichts.

Also müssen die alten Fotoalben helfen und siehe da, ich werde fündig. Gebastelte Herzen, liebevolle Briefe und selbst verfasste Gedichte ziehen sich durch die Grundschuljahre, an Vater- und an Muttertagen. Dazu das ein oder andere Foto, wir Kinder, in Frotteeschlafanzügen, mit unseren Eltern, verstrubbelt und verschlafen. (Wann sind eigentlich die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen damals und heute vergangen?) Vatertag 1991: Für den liebsten Papi der Welt – Auf ewig Dein – Bussi, Deine Mara. Dreiundzwanzig Jahre ist das jetzt her, und neun davon ist mein Vater bereits tot. Das Verrückte ist, es kommt mir viel kürzer vor, im Grunde immer noch, als wäre es gestern erst gewesen, als ich mich das letzte Mal von ihm verabschiedet habe. Mach’s gut Mädel, und danke für alles. Damit war gemeint, alles, wobei ich an diesem Tag in seinem neuen Zuhause geholfen hatte. In der Rückschau bekommt der Satz trotzdem eine ganz andere Bedeutung.

Erinnerungen, gepuzzelt. (Montage: WP)

Erinnerungen, gepuzzelt. (Montage: WP)

Ein gutes Wort hat oft die Macht, ein Wunder zu vollbringen, steht auf dem Herz zum Vatertag 1991. Ich weiß nicht, wieso ich damals, mit zwölf, gerade diese Zeilen geschrieben habe, was ich aber weiß ist, dass mein Vater, obwohl nicht im eigentlichen Sinne ein Mann der Worte, gut darin war, genau die zu finden: gute Wörter, warme, tröstende. Sein Weg dorthin klang manchmal unbeholfen. Man musste geduldig sein, Zeit mitbringen für ihn, der alles mit Bedacht aussprach, sonst zog er sich zurück und behielt das, was sein Herz ihm diktiert hatte, für sich. Mein Vater konnte auch hässliche Worte sagen. Er konnte ungehalten sein und aufbrausend, intolerant und streitlustig. Er war ein Mensch mit Ecken und Kanten und manchmal war es nicht auszuhalten mit ihm, dann knallten zuhause die Türen und wir Mädchen wurden laut. Mein Vater hasste das, hasste es, zu streiten, sich uneins zu sein mit denen, die er liebte. Man geht nicht im Streit miteinander ins Bett, daran glaubte er und daran hielt er sich.

Neun Jahre und all die Erinnerungen, die man in dieser Zeit schafft, all das Erlebte, Glück und Leid, Zaubermomente, Krisen, Begegnungen, Entwicklung. Alles ohne ihn. Wenn mir das bewusst wird, verwandelt sich das leichte Vermissen, das ganz selbstverständlich zu mir gehört, das sanfte Erinnern, in einen dunklen Schmerz, der den Rest der Welt ausblendet. Alles nur, weil da dieses Wort im Kalender steht, Vatertag, das etwas mit mir macht – so wie sein Geburtstag und sein Todestag, an denen diese Wunde mit der selben herzlosen Regelmäßigkeit schmerzt, im ungläubigen Vermissen. Manchmal bin ich dann mit mir selbst schrecklich frustriert, weil neun Jahre eine lange Zeit sind, weil ein Kalender kein Stimmungsbarometer ist, weil es nun mal leider zum Leben dazu gehört, loslassen zu müssen, auch vor der Zeit – und kommt nicht ohnehin jeder Tod zu früh? Dann glaube ich, ich müsse das lernen: Diese Tage so zu behandeln wie jeden anderen, unbeirrt und unberührt, statt ihnen all den Raum zu geben. Aber vielleicht ist das, was ich lernen muss, viel eher, milder mit mir zu sein, wenn solche Jahrestage mich treffen wie schlechtes Wetter, das lange vorher angekündigt war.

Das Sterben, der Tod und die Toten kommen in unserer Gesellschaft kaum vor, genau wie der Umgang derer, die zurückbleiben, mit dem Verlust. Diese Themen finden kaum öffentlich statt, was einerseits sicher ein Stück weit normal ist, andererseits aber dazu führt, dass man wenig darüber weiß, wie andere damit umgehen und so versucht, kein großes Ding daraus zu machen. Schon gar nicht, je länger ein Verlust zurück liegt: Irgendwann muss es doch mal gut sein; aber das muss es nicht, wenn es nicht im Einklang mit dem eigenen Empfinden steht. Ich war noch nicht fertig damit, meinen Paps zu lieben. Nicht damit, mich mit ihm zu streiten und zu versöhnen, seine Stimme zu hören und ihm dabei zuzusehen, wie er lacht, sich die Zigarette anzündete oder im Garten werkelte. Ich konnte ihm nicht alle Orte zeigen, die mich bezaubert haben, ihm nicht alle Menschen vorstellen, die mir wichtig sind. Es ist, als wäre er mitten im Puzzeln aufgestanden, um kurz aufs Klo zu gehen – und nicht zurückgekommen. Jetzt sitze ich da, ein wenig ratlos, die nicht verbauten Teile in den Händen.

Tage wie heute sind gut zum Puzzeln. Dafür, an all das zu denken, was ich mit ihm erlebt habe und über all das zu philosophieren, was ich gerne noch mit ihm geteilt hätte. All die Meilensteine und kleinen Momente, bei denen er fehlt, all die Umarmungen und Auseinandersetzungen, zu denen wir nicht mehr gekommen sind. So zieht sich im Laufe dieser Tage auch immer der dumpfe Schmerz zurück, mit dem sie beginnen. Weil das Puzzeln mich zur Ruhe kommen lässt und meine Erinnerungen hell und warm anstrahlen gegen jeden Kummer. Und schließlich mein Blick auf ein Puzzleteil fällt, das immer wieder aus seiner Position hüpft, wie um auf sich aufmerksam zu machen, damit ich es sanft zurückstreiche ins Gesamtbild: Es ist meine Dankbarkeit darüber, seine Tochter zu sein. So lange ich lebe.

2 thoughts on “Ein guter Tag zum Puzzeln

  1. Du schreibst mir aus dem Herzen. Und gegen das Gefühl meldet sich dann wieder der Kopf: „Irgendwann muss es doch mal gut sein.“ Wird es hoffentlich. Irgendwann. Bei Dir. Bei mir. Aber es ist doch schön, dass die Dankbarkeit das nachhaltigste der Gefühle ist, oder?
    LG

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..