Es ist Freitag und ich sitze nach einem wieder mal viel zu späten Feierabend wie betäubt in meinem Auto, von dem ich mir gerade einbilde, es röche noch ein wenig neu. Natürlich ist das Quatsch, ich besitze es seit ein paar Jahren, diese Täuschung meines Geruchsinns will mich nur daran erinnern, dass es mir nicht alleine gehört – ich es mit meiner Bank teile. Ich also Schulden habe. Verpflichtungen. Finanzielle Auslagen. Aus dem Radio, das tatsächlich noch neu riecht, da ich es erst seit Kurzem besitze, dudeln die Beatles. Wobei, streng genommen kommt die Musik nicht aus dem Autoradio, sondern aus dem hübschen iPod, der in meinem Schoß liegt und wegen dem ich das neue Autoradio überhaupt gekauft habe – an das alte konnte ich ihn nicht anschließen. Luxuskauf, denke ich, mit einem glücklichen Lächeln. „Völlig überhöhter Lebensstandard“, klopft eine Stimme in meinem Kopf – es ist die Stimme meiner Mutter. Mein Lächeln versteckt sich. Ich bin 37 Jahre alt, lebe seit 19 Jahren nicht mehr bei meinen Eltern, sondern in meiner eigenen Wohnung, die ich mit meinem eigenen Geld finanziere. Mit eigenen, unendlich stilvollen Möbeln, weit weg von den geschmacklichen Entgleisungen meiner Eltern, unter denen ich jahrelang zu leiden hatte. Und trotzdem, die Begeisterung über jede funkelnde Neuanschaffung und die Freude am selbstverdienten Luxus wird beständig gestört durch die vorwurfsvolle Stimme meiner Erzieherin, irgendwo hinter meiner Stirn. Und nun mischt sie sich auch noch in meine just getroffene Entscheidung ein! „Hab ich dir nicht zigmal gepredigt, über wichtige Entscheidungen erstmal zu schlafen?“, hämmert es erbarmungslos.
Ich drehe nervös an dem weißen Rädchen meines iPods, den ich mir auch mit der Bank teile – genauso wie den Fernseher, Flachbildschirm, den stilvollendeten amerikanischen Doppeltürkühlschrank oder mein neues Wasserbett – und drehe die Musik lauter, um die Stimme meiner Mutter zu übertönen. Doch ihr Gekeife überdröhnt sogar den Bass meiner Anlage: „Und das war ja wohl eine sehr wichtige Entscheidung, oder?“ Das Schlimme ist nicht ihre Stimme an sich, sondern dass sie Recht hat – etwas, was aus meiner Sicht sonst nur selten der Fall ist. Heute aber schon; heute spricht sie aus, was ich längst weiß, was mir klar wurde, in exakt dem Moment, als ich den taubengrauen Umschlag in den Schlund des Briefkastens an der Ecke gegenüber meiner Firma geworfen hatte: Ich habe gekündigt. Und nicht nur das, ich habe die Kündigung während meiner Arbeitszeit geschrieben. Am Firmencomputer. Ausgedruckt auf dem teuren Briefpapier vom Drucker mit den guten Patronen. In ein Kuvert gesteckt vom Stapel mit den Arbeitsmaterialien. Mit Briefmarken aus der Hauspost frankiert! Nach Feierabend bin ich, die Kündigung unterm Arm, zu dem nagelneuen Briefkasten an der Ecke gegenüber meiner Firma (die mich nun nicht weiter ausbeuten kann, nie mehr!) gelaufen. Es fühlte sich großartig an, die ganze Welt wollte ich umarmen! Was genau so lange anhielt, bis die Kündigung im gelben Schlund des Briefkastens verschwunden war. Seit dem Moment plagen mich gemeine Zweifel. Etwas in meiner Magengegend grummelt – und mein Kopf fühlt sich ein wenig an, als habe meine Mutter (die sich ja offenbar da oben herumtreibt, wie sollte ich sonst unentwegt ihre Stimme hören) mir dort gerade den Sauerstoff abgepumpt.
Warum ich gekündigt habe ist schnell erzählt: Ich war nicht mehr zufrieden. Als ich vor neun Jahren in der Firma angefangen habe, war ich voller Begeisterung, Elan und Leidenschaft. Ich würde endlich eigenes Geld verdienen! Müsste niemandem mehr Rechenschaft ablegen, wofür ich wie viel davon ausgebe. Und erst mein Glück beim Gedanken daran, mir nun meine eigene Wohnung einrichten zu können, und zwar ganz nach meinem Geschmack! Doch leider ist mein Boss einer von denen, die sich die Grundanspannung von Arbeitnehmern und ihre Furcht um den Arbeitsplatz beim Blick auf die Zahlen aus der Arbeitsagentur zunutze machen, um mehr aus den Leuten herauszupressen, als moralisch oder sonstwie vertretbar ist. Lange Zeit fand ich nichts dabei, denn ich verdiente ja gutes Geld und konnte es mir leisten, nach Feierabend um mein Glück zu shoppen. Aber mit der Zeit blieben immer weniger Stunden für die Streifzüge in den Boutiquen der Stadt – und von meiner wunderschönen Wohnung sah ich kaum noch etwas. Der bordeauxfarbene Kühlschrank blieb tagelang leer und im Wasserbett konnte ich den einst so geliebten Wellengang nicht mehr genießen, weil ich nur noch überarbeitete, kurze Nächte darin fristete. Dennoch schwieg ich, aus Angst, den Ärger des Chefs zu wecken – und so bei der nächsten Gehaltsanhebung, die mir Parkettboden ermöglichen sollte, übergangen zu werden.
Heute aber ist er den berühmten Schritt zu weit gegangen: Kurz vor Feierabend stand er, mit einem Grinsen, in meiner Tür. Verkündete, seine Chefsekretärin sei ab Montag im Urlaub und ihre Assistentin noch bis Ende der Woche krank gemeldet. Da ich als verlässlich gelte und er meine Art, eigenständig zu arbeiten, besonders schätze, sei ich deswegen kommende Woche – neben meiner regulären Tätigkeit – auch mit den Aufgaben seiner Sekretärin betraut. Er empfehle mir, dafür das Wochenende im Büro zu verbringen, um mich in die entsprechenden Abläufe einzulesen. Da ist mir der Kragen geplatzt. Ich hatte einfach genug! Welch unvorstellbare Zumutung, noch ein Wochenende in diesem geschmacklosen Büro statt in meiner Wohnung zu verbringen – und das, wo ich die Lieferung meiner neuen Designercouch erwartete! Die Kündigung zu schreiben hat sich so gut angefühlt, und so richtig. Doch nun beherrschen mich Panik – und die Stimme meiner Mutter. „Du hättest dich nicht auf diesen Luxus einrichten dürfen!“, klopft sie mir gegen die mittlerweile schweißfeuchte Stirn, „denn nun, ohne Job, wirst du ihn nicht erhalten können“. Mit steigender Verzweiflung stelle ich mir vor, wie der Gerichtsvollzieher durch meine Wohnung geht und Kuckucksaufkleber verteilt. Wie konnte ich nur so unbedacht sein, ich – die ich sonst für alles den perfekten Plan habe!
Ich will nicht mein Auto verlieren. Oder meine Wohnung. Geschweige denn den Fernseher. Mein Herz hängt an diesem Kühlschrank! Und an dem iPod. Alles, was ich je wollte, war finanzielle Freiheit. Habe ich mich um die nun etwa gebracht? „JA! Und zwar, weil du keine Nacht darüber geschlafen hast!“, klopft harsch die mütterliche Stimme und ich, ganz die schuldbewusste kleine Tochter, fange tatsächlich an zu heulen. Und wie immer, wenn ich mich in einer aussichtslosen Situation befinde, beginnt mein Kopf mich mit hätte-, wäre-, wenn- Szenarien zu quälen. Auf der Bühne meines inneren Auges laufe ich zigmal zu dem verdammten Briefkasten und werde dabei wahlweise überfallen, von einer guten Fee am Einwurf des Briefes gehindert oder umgebracht. Auf ihrem Logenplatz in meinem Kopf bewertet meine Mutter die Szenen abwechselnd mit schallendem Gelächter oder ehrlicher Besorgnis. Schließlich Zuhause angekommen rufe ich einen Kumpel an, der „fit ist mit Computern“ und frage ihn – angenommen, ich hätte die Kündigung per Mail geschickt, hätte er sich dann in den Account meines Chefs einhacken und sie da löschen können? Als er mich nach drei Stunden mit einem selbstzufriedenen „Ja“ zurückruft, heule ich wieder los. Danach schneide ich das Katalogfoto von meiner neuen Couch aus und lege es neben mich aufs Wasserbett, wo ich vor dem schicken Zweitfernseher so viel Eis esse, dass ich Bauchweh bekomme.
Es folgt ein desaströses Wochenende. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, etwas ganz Wildes zu tun (Geld auszugeben solange ich es noch habe, mir eine Bettbekanntschaft aufzureißen oder mich hemmungslos zu betrinken) und der Idee, beim Chef zu Kreuze zu kriechen, dämmere ich in Angststarre auf meinem (pünktlich angelieferten) Sofa vor mich hin. Und lasse zwischen Tiefkühlessen und etlichen Flaschen Wein das unsäglich schlechte Wochenendfernsehprogramm an mir vorbeirauschen. Am Montagmorgen bin ich verkatert. Und noch verzweifelter als zuvor. Verbringe eine halbe Stunde im Bad damit, mich halbwegs wieder herzurichten. Ziehe das Lieblingskostüm des Chefs an und schleiche ins Büro, in der Hoffnung, ihn noch versöhnen zu können. Auf meinem Schreibtisch entdecke ich eine Übergabeliste von Frau Nölle, der Chefsekretärin, daneben eine gelbe Box mit dem Hinweis, „Post bitte jeden morgen in die Mitarbeiterfächer verteilen und die für den Chef direkt auf seinen Schreibtisch legen.“ Mit klopfendem Herzen beuge ich mich über die Box – und entdecke, ganz zuoberst, einen mir wohlbekannten, taubengrauen Umschlag.

Oh was für eine spannende Geschichte, die ich gerade gut nahcvollziehen kann. Das Hadern, leiden, reuen. Wie hatten Sie sich entschieden? Denn oft, so meine erfahrung, sind diese nochmaligen Möglichkeiten zur Umkehr ebenso schwierig zu entscheiden.
Es ist ja nun auch alles ein Weilchen her… :-)