Als mein Telefon mit einer Mannheimer Nummer klingelt, befürchte ich das Schlimmste und mir wird unwillkürlich flau im Magen. Am anderen Ende der Leitung meldet sich wie gedacht eine Stimme, die nach meinem Besuch im örtlichen Schlachthof am nächsten Tag fragt: Ob und mit wem der Termin abgeklärt sei? Fast muss ich da lachen, denn abgeklärt erscheint mir leicht euphemistisch – abgesichert, mit sämtlichen denkbaren Netzen und doppelten Böden, trifft es schon besser. Das Telefonat verläuft dann zum Glück positiv, ich kann den Anrufer mit der Nennung diverser Namen und Wiedergabe einiger Telefonate der letzten Wochen beruhigen: Der Termin am Tag darauf steht.
Fast ein halbes Jahr hat es gedauert, bis ich meine Idee, eine(n) Medizinstudent(in) beim Pflichtpraktikum im Schlachthof zu begleiten, umsetzen konnte. Die letzten beiden Monate waren zwar reine Wartezeit, der Termin stand da schon fest – dass er tatsächlich stattfinden würde glaubte ich aber erst, als ich zwischen zahlreichen Spinden tatsächlich in die weiße Schutzkleidung schlüpfte. Hunderte Telefonate mit zig Schlachthöfen waren notwendig, um den einen zu finden, der bereit war, mir seine Tore zu öffnen, nachdem ich vorher überall nur auf Ablehnung gestoßen war. Man habe zwar nichts zu verbergen, so die Standardaussage, die Erfahrung mit Besuchern im Allgemeinen und der Presse im Speziellen sei aber nun mal nicht so, dass man darauf erpicht wäre, sie zu wiederholen. Dazu die Vermutung, ich könnte Aktivistin oder einfach nur Vegetarierin sein, das Interesse am Studienverlauf der Tiermedizin vortäuschen und am Ende wieder die Zunft der Schlachter niederschreiben, wie das schon so oft der Fall gewesen sei. Ein ums andere Mal mailte ich die Artikel durchs Land, in denen ich über das Medizinstudium, Nachtschichten im Krankenhaus und Tierforschung geschrieben hatte, um meinen journalistischen Ansatz zu belegen – keine Chance. Als ich endlich doch Erfolg hatte, wäre ich vor Begeisterung fast im Dreieck gehüpft: Ich wollte diese Geschichte unbedingt machen, nun hatte ich die Chance dazu.
Der große Tag beginnt verdammt früh: Um sechs Uhr soll ich am Fleischversorgungszentrum sein, um vier klingelt der Wecker – für eine Nachteule wie mich eine grauenvolle Uhrzeit, um die ich deutlich häufiger überhaupt erst ins Bett gehe, statt es bereits wieder zu verlassen. Die Fahrt von Mainz nach Mannheim verläuft ohne Zwischenfälle und fast ohne Verkehr: So leer habe ich die Autobahnen hier in der Gegend noch nie gesehen. Zum ersten Mal seit ich mich aufgemacht habe, diese Geschichte umzusetzen, wird mir richtig bewusst, was das für mich bedeutet: Ich werde den kommenden Tag tatsächlich im Schlachthof verbringen – einem Ort also, an dem Tiere getötet und zerlegt werden. Plötzlich ist mir wieder ziemlich flau. Auf dem Gelände angekommen riecht es wie auf einem Bauernhof, das wirkt irgendwie beruhigend. Vor den Hallen stehen Transporter, welche Tiere darin sind, kann ich von hier nicht sehen. Als ich zum Verwaltungsgebäude laufe, sehe ich durch ein Fenster in der dahinter liegenden Halle die ersten toten Tiere: Schweine, die kopfüber von der Decke hängen. In diesem Moment passiert in meinem Kopf das, was ich von ähnlichen Terminen schon kenne: Ich schalte um auf eine Art Jobmodus, der mich so weit in die Beobachterposition bringt, dass ich mir alles anschauen würde. So war es auch, als ich die Medizinstudenten in der Anatomie begleitet habe. Und nur deswegen bin ich, die sonst beim Blutabnehmen das Bewusstsein verliert, nicht in Ohnmacht gefallen, als ich für eine Reportage in der Unimedizin mit am OP-Tisch stehen durfte.
Ich habe in der Vorbereitung auf diesen Tag viele Berichte von Studierenden gelesen, die das Praktikum absolviert haben. Die meisten sind hochemotional und was auf den Schlachthöfen abläuft, wird darin als grauenvoll beschrieben. Auch ich bin im Vorfeld oft gefragt worden, wieso ich mir den Termin antun will. Zum einen, weil ich es spannend finde, dass angehende Tiermediziner hier ein Praktikum durchlaufen. Zum anderen, weil ich das Thema je länger ich den Termin zu realisieren versuchte auch generell immer interessanter fand: Es ist nunmal so, dass viele Leute Fleisch essen – da finde ich es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wie es produziert wird. Denn so zu tun, als müsste für ein Steak kein Tier sterben, ist scheinheilig – auf diesen Höfen wird also eine Arbeit verrichtet, die gesellschaftlich im Ergebnis absolut gewollt ist, und da sollte man hin- und nicht wegschauen.
Als ich in der Teeküche ankomme, sind die Studentinnen noch nicht da. Eine Veterinärin, die nebenan im Labor arbeitet, versorgt mich mit Kaffee und zeigt mir anschließend, wo ich die Schutzkleidung finde, die ich an dem Tag tragen muss. Sie ist blütenweiß und frisch gestärkt, doch dieser Zustand wird nicht lange halten. An einem Ständer im Umkleideraum hängen lange Messer, in dem großen Waschbecken, in dem die Gummistiefel abgewaschen werden, klebt getrocknetes Blut. Inzwischen sind auch die beiden Studentinnen, die ich begleiten werde, angekommen. Eine ist ganz ruhig, die andere spürbar aufgekratzt. Ich verstaue meine Haare unter einem Netz und setze den Helm auf, den mir eine der Frauen aus dem Labor geliehen hat, da ich keinen eigenen habe. Die amtliche Tierärztin, die uns unter ihre Fittiche nehmen wird, stellt ihre Kaffeetasse in die Spüle: Es kann losgehen. Draußen nieselt es leicht. Die Ärztin inspiziert einen der Tiertransporter. Oft seien die nicht genügend ausgestreut, erklärt sie, die Schweine deshalb dreckig. Die Fahrer redeten sich meist damit raus, es habe geregnet und die Tiere seien deshalb unterwegs schmutzig geworden. Als sie dem jungen Mann, der gerade wieder in den Transporter steigt, das Fahrtenbuch zurückgibt, sagt der sogar ungefragt, er sei übrigens nachts in einen heftigen Schauer gekommen.
Die Schweine liegen träge in den Stallungen, wo sie ihre letzten Stunden verbringen. Auf dem Weg zu den Boxen weisen Schilder auf das Thema Tierschutz hin. Die Lüftungsanlage über den Köpfen der Tiere surrt, die Fenster stehen halb offen. Ein Spatz sucht Schutz vor dem Regen und lässt sich auf dem Hintern eines Schweins nieder. Neugierig kommen die Tiere angelaufen, als wir vier durch die Gänge gehen. Kaum zu glauben, dass diese Brummer erst ein halbes Jahr alt sind. Aufmerksam beobachten sie alles um sich herum. Als die Tierärztin einem ihre Hand hinhält, schleckt es daran wie ein Kätzchen.
In Vierergrüppchen werden die Schweine den schmalen Gang entlang geführt, der vor einer riesigen Anlage endet: In deren Bauch betäubt Gas die Tiere. Auf der anderen Seite landen sie in einer Art Wanne, werden dann aufgehängt, geschnitten – und bluten aus. Der Mann, der den tödlichen Stich setzt, lächelt uns freundlich zu. Er ist von oben bis unten verspritzt mit Blut, das auch auf dem Boden schwimmt und sich in der Wanne vor ihm sammelt. Ich frage mich, was das wohl mit einem Menschen macht, den ganzen Tag das Blut sterbender Tiere zu sehen. Und muss an das Fleisch denken, das ich selbst schon gegessen habe, dass Burger und Stadionwurst nur möglich sind, weil es Menschen gibt, die diese Jobs machen. In der Schlachthalle vermischen sich unzählige verschiedene Gerüche, die meisten davon sind im ersten Moment schwer zuzuordnen. Feuer züngelt aus einem Teil der Anlage, in dem die Tiere abgeflammt werden, ein paar Meter weiter riecht es plötzlich wie beim Metzger: Die Tiere werden abgebrüht, damit sich ihre Poren schließen. An einer Art Förderband fahren die Schweine über unseren Köpfen durch die Luft, als wir uns unter ihnen hindurch ducken, platschen dicke Blutstropfen auf unsere Helme, meinen Block, die Schutzkleidung. Der Lärm in der Halle ist ohrenbetäubend.
Die Tierärztin geht mit uns vor die Tür, wo die Studentinnen offene Fragen stellen können und sie das Procedere weiter erklärt. Der Betrieb in Mannheim gilt als vorbildlich, sicher ein Grund dafür, warum ich hier Erfolg hatte mit meiner Anfrage. Dass auf einem Schlachthof nun mal Tiere sterben, ist eine offensichtliche Tatsache, die Frage nach dem „Wie“ macht aber auch innerhalb der Massentierhaltung und -tötung einen gewaltigen Unterschied. Alles solle eben billig sein und immer verfügbar, sagt die Veterinärin achselzuckend. Und so werde dann natürlich auch produziert: Das gilt ja nicht nur für Fleisch, sondern alle Lebensmittel – unsere Schweine werden nicht auf der Wiese totgestreichelt, die Milchkühe nicht liebevoll mit der Hand gemolken und Hühner oftmals in Käfigen gehalten.
Wie die meisten ihrer Kollegen hier hatte sie nie vor, auf einem Schlachthof zu arbeiten, es war letztlich eine wirtschaftliche Entscheidung. Dass es ihr aber Spaß macht, mit den jungen Frauen zu tun zu haben und ihnen alles zu erklären, ist offensichtlich. Die arbeiten später an den Tieren am Förderband, ich beobachte die Messerstiche, die schnell gezielter werden, dann die Kollegen, die routiniert arbeiten und einen Metzger, der sich am Ende seiner Schicht pfeifend das Blut von den Gummistiefeln spült. Als er meine Blicke wahrnimmt, zwinkert er mir zu, dann duckt er sich unter ein paar blutenden Schweineleibern hindurch und läuft in Richtung Hygieneschleuse. Ich starre auf die Blutlache am Boden, dann wieder auf die Tiere am Band. Die werden mit einer Art Säge in zwei Hälften geteilt, bevor die Tierärzte ihr Innenleben inspizieren. Dabei machen die Veterinäre immer wieder kurze Pausen, um ihre Messer an einem Schleifstein zu schärfen. Unterhaltungen sind bei dem Lärm kaum möglich, die meisten Ärzte am Band tragen zudem Ohrstöpsel. Sie zeigen den Studentinnen durch Andeuten und Gesten, was zu tun ist.
Eine Veterinärin erklärt in der Mittagspause, ihre Arbeit sei ähnlich wie die in einem OP – mit dem Unterschied, dass die Tiere anschließend nicht mehr aufwachen. Fast alle sind sich einig, die Schweine, wenn sie abgeflammt und halbiert bei ihnen ankommen, wirken seltsam abstrakt, kaum mehr wie Lebewesen, die noch kurz zuvor geatmet haben. Viele sind verärgert über den schlechten Ruf, den ihre Arbeit und deren Umfeld haben und ich kann sie verstehen, auch den Unwillen darüber, die meisten Menschen wollen Fleisch ja essen, nur nicht wissen, wie es auf ihrem Teller landet. Das ist wie mit dem Strom, der praktischerweise direkt aus der Steckdose kommt – sich über seinen Weg dorthin, Umweltbelastungen und politische Entscheidungen Gedanken zu machen, das ist zu unbequem.
Unterm Strich war der Tag im Schlachthof für mich eine nicht immer einfache, aber sehr spannende Erfahrung. Ich bin, das habe ich an anderer Stelle bereits gesagt, den Verantwortlichen im Fleischversorgungszentrum Mannheim dankbar für ihr Vertrauen. Dass die Wochen dort manche Studierende an Grenzen führen kann ich nachvollziehen, genauso die Notwendigkeit der Erfahrung für den späteren Beruf. Eine Debatte über Fleischkonsum im Allgemeinen zu führen, war bei der Sache nie mein Anliegen, natürlich drängen sich aber Fragen auf und ich beschäftige mich seither noch intensiver damit, was ich eigentlich esse und warum oder wo ich welche Lebensmittel kaufe – das gilt wie gesagt nicht nur für Fleisch. Ganz grundsätzlich empfinde ich es als wichtig, hinzuschauen, nachzuhaken und Themen unaufgeregt ins Bewusstsein zu bringen. Die Möglichkeit, das tatsächlich auch zu tun, hinter die Kulissen zu schauen und Geschichten, die mir am Herzen liegen zu erzählen, gehört zu den wunderbaren Seiten meines Berufes – auch wenn man manchmal etwas länger rütteln muss, bis die betreffenden Türen sich öffnen.



