365 Tage

Als heute Morgen der Wecker klingelte, entspannte ein Strahlen seine Flügel auf meinem Gesicht, noch vor dem ersten Gedanken. Der kam nach, prüfte das Strahlen und schickte meine Erinnerung auf Reisen in die Vergangenheit. Ein Jahr bist du erst Teil unseres kleinen Familiensystems. Wir haben längst vergessen, wie es ohne dich war. Letztes Jahr war der 19. Juni ein Montag, und ich musste zu unmenschlichen Uhrzeiten aus meinem Bett krabbeln, um an der Geschäftsstelle von Mainz 05 für Karten anzustehen. Das erste Testspiel der Saison würde gegen Liverpool gehen – und einigen Fans war es das wert, die Nacht in Schlafsäcken auf dem Edeka-Parkplatz neben dem 05-Fanshop zu verbringen. Ich plauderte mit einem ehemaligen Kollegen über die aktuelle Jobsituation, Dauerkarten wurden ausgetauscht, Plätze verteidigt und ein junges Mädchen, das sich als Erstsemesterin vorstellte, bot an, zum Preis von 50 Euro würde sie für uns um Karten anstehen. Wir lehnten dankend ab.

Vergessen, wie es ohne dich war. (Foto: WP)

Vergessen, wie es ohne dich war. (Foto: WP)

Die WM hatte gerade begonnen. Der Einzug der Deutschen ins Achtelfinale war bereits klar gemacht, am nächsten Tag stand das Spiel gegen Ecuador an. Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlug, hatte ich das Gefühl, ein kleiner Glitterfilter läge über der Luft. Heute weiß ich, es war die Hoffnung, die so stark in mir wohnte in dieser Zeit. Alles schien möglich. Als das Handy klingelte, reichte ich dem neben mir anstehenden Fußballfan meinen unvermeidlichen Kaffeepot und kruschtelte in meiner Handtasche. Die Nummer im Display war die meiner kleinen Schwester, aber durch das Telefon klang die Stimme meines Schwagers an mein Ohr. Für einen kurzen, schrecklichen Moment blieb die Zeit stehen. Ich sah jene Nacht fünfzehn Monate zuvor in einer offenen Schublade meiner Erinnerung liegen, und mein Herz fühlte sie noch einmal nach, spürte die Kälte jenes Moments, inmitten des lauen Junimorgens. Der Anruf, mitten in der Nacht, mein Schwager am Telefon meiner Schwester, die unfassbaren Worte: „Dein Vater ist tot, es tut mir so leid.“ Mein Herz klopfte wild bis in meine Ohren, wo jeder Schlag mit einem Rauschen verklang.

„Hast du mich gehört?“, drang da die Stimme meines Schwagers in mein Bewusstsein. „Was?“ Ich kehrte zurück ins Jetzt und hörte ihn sagen: „Es geht los!“ Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, von dem ich da ergriffen wurde. Die unglaubliche Freude, aber auch Angst. Die Erleichterung und der dringende Wunsch, mich beamen zu können, zu meiner Schwester, jetzt und gleich. Um bei ihr zu sein, wenn das Wunder passierte. Meinen Kaffeepott habe ich vergessen, in der Männerhand auf dem Edeka-Parkplatz. Meine Dauerkarte dem ehemaligen Kollegen in die Hand gedrückt. Und mich auf den Weg gemacht. Im Auto die Geschwister angerufen. Geheult, gefiebert, mich gefreut, bis mir das Herz fast aus meiner Brust gesprungen war.

Der Friedhof war der erste Halt auf meinem Weg. „Papi, es ist so weit!“ Tränen. „Wir hätten dich heute so gerne dabei.“ Dann, endlich: das Krankenhaus. Die Geburtsstation. „Entschuldigung, meine Schwester bekommt hier gerade ein Baby“, stammelte ich einen vorbeieilenden Pfleger an. „Können sie mir Bescheid sagen, wenn es da ist?“ Wie aus weiter Ferne hörte ich ihn ihren Namen sagen und: „Der Kleine ist schon da!“ Hände, die mich in den kleinen Raum schoben. Und da lag sie, wunderschön. Mit roten Wangen. Das kleine Wunderbündel Leben an ihrer Brust. Ihr Mann, stolze Tränen in den weitoffenen Augen, lächelte mich an. „Den haben wir ziemlich gut hinbekommen, oder?“ Ich konnte nur nicken. Heulte. Lachte. Und war sprachlos, beim Anblick des kleinen Menschen. Der kleine Mensch warst du, Jakob. Seither ist ein Jahr vergangen. In dem du uns bezaubert hast und bereichert. Heute ist dein erster Geburtstag: Alles Gute, Zwerg!

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