Die TORToUR trifft… Elkin Soto

Zwei Dinge wissen wir mit Sicherheit. Erstens, bei manchen Spielen ist es derart scheißegal, wie sie ausgegangen sind, man müsste glatt ein neues Wort dafür erfinden. Und zweitens, Die TORToUR ist nicht tot, sie riecht nur komisch. Alle Gedanken in unserem Team gelten heute nur einem: Elkin Soto! Deswegen haben wir im Archiv unser Interview mit einem der größten Mainzer Helden der Neuzeit ausgegraben, und veröffentlichen es heute auch online.

Wir wünschen dir schnelle, gute Genesung, Elkin!

Elkin Soto in seinem Element. (Foto: TORToUR-Archiv – Zaunsturm1905.de)

Elkin Soto in seinem Element. (Foto: TORToUR-Archiv – Zaunsturm1905.de)

IMMER AUF BALLHÖHE

Jahrelang haben wir uns auf dieses Interview vorbereitet! In der Volkshochschule Spanischkurse belegt, um endlich mit Elkin Soto sprechen zu können, unserem kolumbianischen Kampftechniker. Es war glorreich!

¿Porqué tú aún estás aquí? ¿Porqué no estás jugando en Hamburgo, en Schalke, quiza en Inter Milán? ¿Cómo esta es posible retener a un jugador como tú… ¿como ti? ¿como ta te ti to tu? – durante sie­te u ocho años? ¡Eres muy fuerte pa­ra Maguncia pequeña!

„Nein, Elkin“, sagt Spari, „auf deutsch. Du kannst Deutsch.“ Und geht weg. Glück für die TORToUR, denn die Frage, warum die Großen uns den Elkin nie wegkaufen wollten, war die einzige, die wir auf messfremd hingekriegt hätten, und die war schon schwierig genug. Elkin, so schüchtern, wie man es ihm gar nicht zutrauen würde, wenn man ihn nur vom Fußballplatz kennt, ist uns wehrlos ausgeliefert. Taut aber schnell auf.

Ich habe mich in Mainz vom ersten Tag an sehr wohl gefühlt. Meine beiden Töchter sind hier geboren. In meinem Kopf ist nur Mainz.

Das hat man gemerkt, als du vor ein paar Wochen in Manizales als Sportler des Jahres geehrt wurdest. Ganz Mainz hat sich wie verrückt gefreut über deinen Gruß bei Facebook.
Die Journalisten haben mich gewählt, weil ich in einer großen Liga Stammspieler bin. Das habe ich Mainz und unseren Fans zu verdanken. Ich kann nur hier spielen, weil Mainz das will.

Aber bist du nicht zu gut für Mainz?
Mainz ist doch sehr gut. Die Leute, die Fans… Alle haben mir sehr geholfen, als ich zweimal schwer verletzt war. Dafür bin ich dankbar.

Wie hast du dich über Mainz informiert, als das Angebot kam?
Das war Ende Dezember 2006. Mein Berater hat mich gefragt, ob ich nach Deutschland will und ich habe ja gesagt. Von Mainz oder Mainz 05 hatte ich noch nie gehört. Im Internet habe ich mich über den Verein und seine Geschichte informiert und den Verein auf dem letzten Tabellenplatz gesehen. Mein Traum war es aber immer, in Europa zu spielen, also war mir die Platzierung egal. Und die Entscheidung war richtig.

War das die erste Anfrage aus Europa?
Im Juni 2006 hatte ich ein Angebot aus Kroatien. Da stand ich aber noch in Ecuador bei Barcelona Guayaquil unter Vertrag. Dort habe ich ein Jahr gespielt, bevor ich nach Mainz kam.

Den Südamerikapokal hast Du aber mit deinem Heimatverein Once Caldas gewonnen, oder?
Ja, 2004. Die Copa Libertadores ist so etwas wie die Champions League in Europa. Das war ein großer Erfolg in meiner Karriere. Auch dem Verein und meiner Heimatstadt hat es viel bedeutet. Sechs Monate später haben wir in Tokio das Interkontinentalfinale gegen Porto gespielt und erst im Elfmeterschießen verloren.

0:0 nach 120 Minuten, dann 7:8. Soto wurde nach 99 Minuten ausgewechselt. Diego, der Wolfsburger, damals noch beim FC Porto, sah im Elfmeterschießen Gelb-Rot.

Ein solches Spiel erlebt nicht jeder. Wer es gewinnt, ist Weltmeister – mit einem Verein, dem man schon den Copa-Sieg nicht zugetraut hat.
Unser Ziel war, die erste Runde zu überstehen. Und wir haben gewonnen! Im Finale haben wir gegen die Boca Juniors gespielt. Im Hinspiel in Buenos Aires 0:0, dann in Kolumbien eine Woche später 1:1. Im Elfmeterschießen haben wir es entschieden. Ich habe geschossen und getroffen.

Als einer von zwei Schützen. Insgesamt.

Welches Spiel ist größer? Das gegen Boca Juniors oder das gegen Bayern München? Kann man das vergleichen?
Schwer zu sagen. Gegen Boca Juniors war es ein Finale. Gegen die Bayern spielen wir jedes Jahr. Aber sie sind einer der größten Vereine der Welt, das ist immer etwas Besonderes. Ich habe alle Spiele genossen und werde sie weiter genießen.

Bist du in den Gedanken der Fans in Kolumbien noch präsent? Du fliegst alle paar Wochen zur Nationalmannschaft, sitzt auf der Bank und fliegst wieder zurück…
Das stimmt. Aber ob ich spiele oder nicht: Ich bin ein Teil dieser Mannschaft, die für unser Land spielt. Ich bin sehr stolz, dabei sein zu können.

Wer ist noch dabei? Falcao von Atlético…
Fast alle spielen in Europa. Unsere Innenverteidiger spielen beim AC Mailand: Cristián Zapata und Mario Yepes. In Neapel spielen die Verteidiger Zúñiga und Armero. Ospina, unser Torwart, spielt in Nizza. Fredy Guarín bei Inter Mailand. Jackson Martínez beim FC Porto. Aguilar bei La Coruña in Spanien. Und Adrián Ramos in Berlin. Falcao von Atlético Madrid ist unser Bester. Ein sehr guter Torjäger, der zweimal den Europapokal gewonnen hat.

Zurück zu Mainz 05. In deinem ersten Spiel, gegen Cottbus, hast du direkt nach sieben Minuten ein Tor vorbereitet. Dann kamen die erste Verletzung, der Abstieg, eine lange Sperre, der Kreuzbandriss. Hast du daran gezweifelt, es in Mainz zu schaffen?
Das waren schwierige Momente. Aber auch die Verletzungen haben mich stärker gemacht. Mein Traum war, in Europa zu spielen. Das ging ein Jahr lang fast gar nicht, aber ich war in Europa und wusste, dass ich es schaffen werde.

Nach dem Comeback wurdest du immer nur eingewechselt – und dann gab es diesen Freistoß gegen Kaiserslautern…
Das wisst ihr noch?

Das weiß jeder Mainzer noch.

Und Elkin strahlt, flüstert fast:

Dieses Tor war super. Ich habe es genossen… Aber es stimmt: Bei Jørn Andersen hatte ich keine große Chance zu spielen. Ich bin ein Jahr fast nur von der Bank gekommen. Aber ich kannte meine Stärken und wusste, dass ich nur nur Geduld brauche.

Wer hat dich eigentlich zum defensiven Mittelfeldspieler gemacht?
In der Nationalmannschaft habe ich immer links außen gespielt. Unser Trainer Thomas hat mich vor einem Freundschaftsspiel in Bad Kreuznach gegen Duisburg gefragt: Elkin, kannst du als Sechser spielen? Viele Spieler waren mit der Nationalmannschaft unterwegs. Ich habe gesagt: Ich versuche es. Es hat gut funktioniert. Er war zufrieden. Seitdem bin ich Sechser. Ich fühle mich sehr wohl auf dieser Position, weil ich dort viele Ballkontakte habe und immer mit dem Ball spielen will.

Seitdem macht unser Fanfotograf in jedem Spiel das gleiche Bild: Elkin Soto quer in der Luft, eine Hand am Boden, die Augen auf dem Ball, ein Bein am Ball, das andere Bein irgendwo…

Elkin lacht sich kaputt.

Wo gibt es dieses Bild? Ich muss es sehen!

Manch ein Spieler bricht seinem Gegner auf diese Art alle Knochen. Aber wenn man die lateinamerikanische Sense kann, wundert sich der Gegner nur: Wo ist der Ball? Eben war er noch da! Jetzt ist er weg!
Diese Grätsche mache ich gern. Nach meiner Verletzung hatte ich etwas Angst, aber nach einiger Zeit hatte ich wieder Vertrauen in sie.

Vor ein paar Monaten ist diese Grätsche ja früh im Spiel zweimal schiefgegangen, der Schiedsrichter hat dich ermahnt und dich damit völlig aus dem Spiel genommen…
Aaah, gegen Nürnberg! Er hat mich gewarnt, dass ich beim nächsten Mal Gelb bekomme, vielleicht sogar Rot. Dabei versuche ich immer, nur zum Ball zu gehen. Ich will ja niemanden verletzen. Im Fußball ist halt immer ein bisschen Risiko dabei, egal was man macht.

Beitrag aus: Die TORToUR #32, April 2013

Beitrag aus: Die TORToUR #32, April 2013

Ist es schwierig, so weit weg von der Familie und den Freunden zu leben?
In den ersten sechs Monaten war ich ganz alleine. Das war schwierig. Meine Frau hatte noch kein Visum und konnte erst im Sommer nachkommen. Ich war auch noch wochenlang verletzt. Meine Familie ist in Kolumbien, aber meine Frau und meine Töchter sind hier. Mainz ist unser Zuhause, hier ist unser Leben. Meine ältere Tochter fühlt sich im Kindergarten sehr wohl, sie mag ihre Kindergärtnerin sehr. Wir freuen uns aber, wenn wir in Kolumbien unsere Verwandten sehen. Wenn ich aufhöre mit Fußball, gehen wir wieder zurück. Meine Frau will dann wieder arbeiten. Sie ist Physiotherapeutin. Aber das dauert noch ein paar Jahre. Ich will dann vielleicht mit Kindern als Trainer arbeiten. Das fände ich toll. Vorhin war ich am Stadion, da haben mich Kinder erkannt und sind zu mir gekommen und wollten Autogramme. Ich war als Kind genauso.

Wie alt sind eure Kinder?
Laura ist vier Jahre alt, die Kleine, Valerie, neun Monate. Sie schläft schon von zehn Uhr bis um zwei oder drei. Dann wird sie wach, aber will nur eine Babyflasche und weiterschlafen. Das ist ganz normal. Wir sind sehr geduldig.

Hast du eigentlich noch Kontakt zu Félix Borja?
Der spielt jetzt in Mexiko. Wir schreiben uns oft.

Der hat mir im Trainingslager meinen ersten spanischen Satz beigebracht, den ich heute noch kann: Quiero una cerveza y una mujer.

Und da muss er wieder lachen, der Elkin. Übersetzt es selbst.

cka, clatra, hilde

Dies ist die Nacht, da mir erschienen

Alles hängt ja bekanntlich mit allem zusammen. Wenn also zwei Redakteure der TORToUR gemeinsam ein Buch über Mainz 05 verfassen, lässt sich zumindest vermuten, ihre Arbeit für das Fanzine war dem Zustandekommen dieses Vertrages nicht abträglich. Wenn dann just die Dame aus dem Autorenduo eingeladen wird, für einen Abend auf der orangegelben Couch im Studio der SWR-Sendung „Flutlicht“ platz zu nehmen, hängt das vielleicht damit zusammen, dass sich dereinst der Wunsch ihres Vaters erfüllte, und sie als Mädchen zur Welt kam. Mehr Fußballsachverstand hätte am End’ sogar der männliche Autor auf die Couch gebracht – alles Gerüchte, kann ich dazu nur sagen. Und überhaupt…

Herzlich Willkommen im Studio! (Foto: WP)

Herzlich Willkommen im Studio! (Foto: WP)

Was genau Kölnfan Wolfgang Niedecken ins Fußballfeindesland verschlägt, konnte vorab niemand ahnen, für ihn trudelten jedoch tonnenweise Autogrammwünsche ein; Hans-Peter Briegel, die Walz aus der Pfalz, hat angeblich eine Zweitwohnung in Studionähe: Niemand tritt häufiger bei Flutlicht auf als er (behaupte ich und mir wird nicht widersprochen). Am Anfang stand jedenfalls die Nervosität und von der ist es nur ein Katzensprung bis hin zum Schnaps; da es aber betüddelt auf der Fernsehcouch vermutlich schneller peinlich wird, als eine Katze springen kann, gab es stattdessen ein Trinkspiel im doppelten Sinne, wonach die Autorin für jede Erwähnung der TORToUR ein Stadionbier ausgegeben bekommt, einerseits, und andererseits vereinzelte Freiwillige aus der Redaktion bei jeder dieser Erwähnungen an den heimischen Fernsehgeräten einen Schnaps kippten.

Ob das angedrohte Public-Viewing zu diesem Anlass tatsächlich zustande kam, ich weiß es nicht, was ich aber sagen kann ist, mit dieser Anekdote einzusteigen, hat alles viel einfacher gemacht. Es ist ja schön leicht gesagt, dass man sich in einer derart ungewohnten Situation – Kameras, Prominenz, Publikum – einfach locker machen soll, am Ende hilft es doch, wenn ein Studio voller Menschen herzlich lacht und Wolfgang Niedecken, Hans Peter Briegel und Tom Bartels alles daran setzen, so oft wie möglich von einer Tortour zu sprechen. Immerhin, die Herren kannte man bisher auch nur aus dem Fernsehen. Gut, mit Tom Bartels hatte man sich am frühen Mittag schon beim Plausch vertraut gemacht, und das in Unterwäsche, aber davon ahnt der ja glücklicherweise nichts; solche Dinge passieren eben, wenn man quasi aus der Dusche direkt ans klingelnde Telefon stolpert. Vielleicht ist es ja wichtig!

Högschde Konzentration im Studio! (Foto: J. Braun)

Högschde Konzentration im Studio! (Foto: J. Braun)

Was bleibt von dem Abend? Die TORToUR ist jetzt endlich ein bisschen näher dran an der Berühmtheit, die sie verdient hat. Der Tom, der Wolfgang und der Hans-Peter sind echt drei nette Jungs. Mein Postfach war am nächsten Tag voller als an meinem Geburtstag. Ach und, einige verwirrte FCK-Fans haben sich tatsächlich die Mühe gemacht, mich zu googeln, dabei meinen Twitter-Account gefunden und mich da standesgemäß als „Labertante“ und „Fan von Depp 05“ beleidigt, die ihnen „voll auf den Sack geht“. Ich bin schon ein bisschen stolz.

PS: Pfalz halt, ihr Telefon können sie bedienen, aber zum Umschalten hat’s nicht gelangt.
PPS: Tausend Dank für die vielen gedrückten Daumen, fürs Mitkommen und Mitfiebern und Mitfreuen, lang lebe Die TORToUR, Prost und Hurra.

Es kommt ein Schiff geladen

Das Schiff geht still im Triebe,
trägt eine teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast.
[Johannes Tauler]

Seinem neuen Buch „Wenn Spieltag ist – Fußballfans in der Bundesliga“ hat Hardy Grüne das wunderbare Zitat von Eric Cantona voran gestellt, in dem dieser treffend ausformuliert, was jeder Fan ohnehin weiß: „You can change your wife, your politics, your religion – but never, never can you change your favorite football team.“ Besser ist diese absolute Liebe niemals beschrieben worden.

Grüne unterteilt seine 256-Seiten-starke Reise durch die Geschichte der Fußballfans in acht thematische Kapitel, nämlich: Fans – Eine Typologie, Kurve – Die Seele der Fans, Farbe – Aktive Fankultur, Auswärts – Fans auf Reisen, Gewalt – Die dunkle Seite des Spiels, Frauen – Weibliche Fankultur, Kommerz – Moderner Fußball, Ultras – die Rebellen der Kurve. Für die Bereiche Frauen und Ultras hat er sich mit Nicole Selmer und Christoph Ruf zwei Co-Autoren ins Boot geholt, die über das jeweilige Thema bereits zuvor publiziert haben.

Spieltag aus zwei Perspektiven. (Foto: Verlag)

Spieltag aus zwei Perspektiven. (Foto: Verlag)

Früher hatten neue Bücher einmal diesen besonderen Geruch. Ich weiß nicht, wohin genau der verschwunden ist, denn Druck ist Druck, sollte man meinen, doch die kleinen Softcover von heute verströmen nicht mehr den Duft, mit dem man sich tagelang am Kamin festlesen wollte. Grünes Spieltagsbuch ist von einer üppigen Haptik, die beinah vergessen scheint in Zeiten von Kindle & Co. – nicht nur ist die DinA4-Größe als Format fast ausgerottet, es ist auch ein dickes, schweres Buch – ein Wälzer im besten Sinne –, dabei aber keine Bleiwüste, sondern mit unzähligen Bildern liebevoll gestaltet und aufgewertet durch allerlei Zitate von Fußballgrößen. Und es duftet, lacht ihr ruhig, aber ich hatte vergessen, wie gut so ein neues Buch duften kann… Völlig egal also, ob auf einen Reader etwa zig Hundert Bücher passen, wer Grünes Buch durchblättert, glaubt (wieder) an die Zukunft von Druckerschwärze.

Was am Ansatz des Autors besonders angenehm ist – er betrachtet die Szene gleichermaßen als Aktiver und aus der Distanz. Fan ganz allgemein und auch speziell im Fußball, das ist er vor Jahrzehnten geworden, aber er setzt sich mit der Kultur und Entwicklungsgeschichte eben auch als Journalist und Historiker auseinander. Es ist genau dieser Spagat, der das Buch besonders macht, weil da einer schreibt, der sich ehrlich bemüht, beide Perspektiven auf Fans und Szene zu schildern, sie einander und jedem Leser, der sich weder zu der einen noch der anderen Seite zählt, nahe zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe doch zumeist gelingt der von ihm selbst benannte Spagat.

Bei aller Genauigkeit der Recherche, Aktualität und Liebe zum Detail sind es aber doch vor allem die Fotos, von denen dieses Buch lebt. Bilder aus zig Jahrzehnten Fußballliebe, in die nach und nach die Farbe einfließt, Abbildungen aus den Stadien der Republik, Impressionen begeisterter Fans, Erinnerungen an magische Momente – skurril, erstaunlich und emotional. Sie machen das Buch quasi zum Familienalbum, in dem sich die ganze weit verstreute Sippe wieder findet. Schön!

Driving Home for Christmas

Man soll den Mund ja bekanntermaßen nicht zu voll nehmen. Selbst dann nicht, wenn man am Tag des Zweitrunden-Pokalspiels gegen Köln bei Freunden zu Besuch ist: in Köln. Wo natürlich der eigene Weg ab und an den eines FC-Fans kreuzt – und die sind gut zu erkennen, sei es am umgeschlungenen Schal, am übergezogenen Trikot oder am lauthalsen Telefonat, in dem die mobile Kristallkugel für den Abend eine haushohe Mainzer Pleite voraussagt. „Könnt ihr vergessen!“, rufe ich dem Telefonierenden im Vorbeigehen gut gelaunt zu. Wann hat Köln denn bitte in Mainz zuletzt etwas geholt? Eben…

„Driving in my car
I’m driving home for Christmas
With a thousand memories.“

Taking the long way home... (Foto: Simone Hainz/pixelio)

Taking the long way home… (Foto: Simone Hainz/pixelio)

Für den Heimweg habe ich großzügig geplant, man weiß ja, wie es zwischen Köln und Mainz so laufen kann auf der Autobahn. Die Zeit bis zum eigenen Spiel in ein paar Stunden lasse ich mir bald von der Berichterstattung über die Pokalbegegnungen überbrücken, die bereits früher angepfiffen worden sind. Zwei Mal trifft Jovanovic im Gütersloher Heidewaldstadion für den SV Sandhausen – für dieselbe Anzahl Tore hat er in Mainz 39 Spiele gebraucht.

„It’s gonna take some time but I’ll get there
Top to toe in tailbacks
Oh, I got red lights all around
But soon there’ll be a freeway, yeah
Get my feet on holy ground.“

Der Straßenbahnmeisterei im Großraum Köln hat offenbar niemand Bescheid gegeben, dass ein paar Tausend der Einwohner an diesem Abend gen Mainz pilgern werden; es ist ja nicht so, dass ich die Strecke alleine antrete, um mich herum wimmelt es nur so von mit Geißbock beflaggten Fahrzeugen… Und ich habe jede Menge Gelegenheit, um mir die auch in Ruhe zu betrachten – aufgrund einer Nachtbaustelle (die offenbar pünktlich zur 9-to-5-Feierabendzeit aufgerissen wurde) stehe ich plötzlich in einem zehn Kilometer langen Stau. Was, so viel ist schnell klar, ziemlich sicher verhindern wird, dass meine Füße bei Anpfiff auf dem heiligen Boden der Arena auf und ab hüpfen werden…

„So I sing for you
Though you can’t hear me
When I get through
And feel you near me.“

Zum Anpfiff nuschle ich mich inmitten der bunten Lichter auf der Autobahn durch „You’ll never walk alone“ und zupfe dabei mit verdrehtem Arm an dem kleinen 05-Schal, der hinter mir am Fenster hängt. Zehn Kilometer können verdammt lang sein…

„I take a look at the driver next to me
He’s just the same.“

…und die Unruhe steigt inzwischen minütlich. Regelmäßig klettern Leute aus den Autos rund um mich herum, um mit verrenkten Hälsen das Ende des Staus auszumachen. Irgendwann löst der sich tatsächlich auf (ohne dass ich je eine Baustelle gesehen hätte). Mit durchgedrücktem Gaspedal geht’s so nahe ran ans Stadion wie irgend möglich, inzwischen haben Sandhausen, Augsburg und Wolfsburg ihre Spiele gewonnen, der BVB muss in die Verlängerung. Quasi mit dem Halbzeitpfiff erreiche ich das Stadion, Toilette, Bier, S-Block, allgemeines „Hallo“ und die tröstlichen Worte: „Du hast nichts verpasst.“ Dieses Spiel gewinnen wir offenbar in der zweiten Halbzeit, soll mir recht sein, denn ab jetzt bin ich live dabei.

„I’m driving home for Christmas
Oh, I can’t wait to see those faces
I’m driving home for Christmas, yeah
Well, I’m moving down that line.“

45 Spielminuten und viele stirnrunzelnde, von Bier unterlegte Gespräche später steht fest, die Stunden im Stau waren nicht unbedingt der schlechtere Teil des Abends.

Dein König kommt in niedern Hüllen

„Trag ihm entgegen Friedenszweige,
bestreu mit Maien seine Steige
Oft wollten dir der Erde Herren
den Weg zu deinem Throne sperren.“
[Friedrich Rückerts]

Das mit den Friedenszweigen hatten unsere Buben beim Spiel gegen Szalai 04 offenbar falsch verstanden, denn die trugen sie leider eher ihrem Gegner entgegen… Es ist aber natürlich auch schwierig, im Herbst alle Spiele so abzuliefern, dass sie der TORToUR hinterher in irgendein Adventskalenderkonzept passen, das wollen wir an dieser Stelle nicht verhehlen; zumal da die Redaktion ihre geniale Eingebung ja erst hatte, als etliche Begegnungen längst Vergangenheit waren… Nun ja. Im Dezember üben wir mit der Mannschaft mal Weihnachtsliedgut!

Fürs erste ist in der inneren Logik der Saison aber noch mal der 14. September, und hinter uns liegt ein absolut fantastischer Auftakt mit drei Jubelsiegen sowie eine zu hoch ausgefallenen, in der Sache aber doch verschmerzbaren Auswärtsniederlage gegen Hannover 96. Im Stadion, ums Stadion und ums Stadion herum schwirren emsige TORToUR-Verkäufer, um das neueste Heft an den Fan zu bringen. Lediglich die Tatsache, dass außerdem auch zahlreiche Wespen angriffslustig schwirren, den Attackestachel unbeirrt auf die knallorange leuchtenden Westen der Verkäufer gerichtet, kann zwischenzeitlich meine die Stimmung trüben.

War ja klar: alles Lutscher! (Foto: Flickr.com/moe_in_berlin)

War ja klar: alles Lutscher! (Foto: Flickr.com/moe_in_berlin)

Aber wer sollte an Spieltagen gegen Schalke ernsthaft schlechte Laune haben, viel zu putzig ist es anzuschauen, wenn der in mehrfacher Hinsicht blaue Anhang aus Gelsenkirchen gen Arena rollt und kugelt. Und dann erst die Fachgespräche! „Kennst du’n Mainzer?“ „Spieler?“ „Ja!“, eingeleitet von einem lauten Rülpsen. „Ne, nur den Szalai.“ Kopfkratzen. „Aber der ist ja jetzt bei uns.“ „Mhm.“ „Oder warte, noch einen, den Chupa Chups!“ Genau, gebt den Kindern ein paar Lollis und setzt sie im Ballparadies aus, bis das Spiel vorbei ist.

Leider zum wiederholten Male wird die Arena allerdings zum Ballparadies für die Gäste. Es ist natürlich nicht ganz fair, das Spiel mit dem desaströsen 2:4 der vorvergangenen Saison zu vergleichen, bei dem Mainz 05 zur Halbzeit noch mit 2:0 geführt hatte. Und doch, auch diese Niederlage hat etwas von einem Dolchstoß – weil unsere Jungs auf dem Rasen definitiv kein schlechtes Spiel abliefern und am Ende vor allem ein individueller Fehler den Ausschlag gibt. Den wiederum ein Schalker mit seiner individuellen Klasse auszunutzen vermag: Okazakis „Pass“ auf Boateng schiebt dieser bereits in der 34. Minute ins rechte untere Eck ein.

Ob Unglücksrabe Shinji hinterher in der Kabine mit Lollis getröstet wurde, ist leider nicht überliefert, aber auf dem Weg zum Throne – die Mainzer wären mit einem Sieg auf dem 4. Rang, dem Qualifikationsplatz für die Königsklasse also, gelandet – standen den Jungs die irdischen Schalker an diesem Tag tatsächlich versperrender Weise im Weg…