Schwimmbaddusche

Unter der Schwimmbaddusche
sind die Körper
aller Frauen
genau richtig.
Die alten und jungen
die großen und kleinen
die weichen und muskulösen.
Unter der Schwimmbaddusche
wogt ein Meer aus Brüsten
zart und mächtig
spitz und flach
hängend und aufrecht
in friedlichem Einklang.
Unter der Schwimmbaddusche
grüßen Stimmen
so freundlich
wie Schweigen
hängen Gedanken
neben Träumen
in der schwülen Luft.
Unter der Schwimmbaddusche
verschwimmen Grenzen
verschwindet Scham
ist alles ein großes Wir
hier drinnen
die wir das Geheimnis des Beckens teilen
da draußen
und davon, was passiert
wenn unsere Herzen
unter Wasser
die Luft anhalten.
Unter der Schwimmbaddusche
sind alle Körper
genau richtig
genau glücklich.

Fanpreis 2022 für die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen

Am Wochenende hatte ich die große Ehre und noch größere Freude, bei der Gala der Deutschen Akademie für Fußballkultur die Laudatio auf die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen zu halten. Weil ich das Thema so wichtig finde, möchte ich diese hier gern zum Nachlesen veröffentlichen. Kontaktiert die tolle Truppe, wenn ihr ähnliches vorhabt. Und unterstützt ihre tolle Arbeit.

Hallo liebe alle, die Sie und ihr dem Fußball verbunden sind und seid. Ich freue mich wirklich sehr, heute die Laudatio für den easyCredit-Fanpreis 2022 halten zu dürfen. Seit der Jurysitzung hat diese Laudatio eigentlich immer ein bisschen in meinem Kopf und in meinem Herzen gearbeitet – und ich könnte bestimmt zwei Stunden über Fankultur sprechen. Aber ich verspreche, ich fasse mich kurz.

Fußballfans, Menschen, die dem Fußball verbunden sind, sind eine unglaublich heterogene Gruppe. Daran muss man vielleicht mal ganz explizit erinnern in Zeiten, in denen sich in der öffentlichen Wahrnehmung abermals ein Bild vom Fan als grölendem, betrunkenen, immer gewaltbereiten Fan verfestigt. Gibt’s im Stadion Probleme? Sicher. Wie überall sonst auch, wo Zehntausende aufeinandertreffen.

Gemessen an allen Menschen, die ihre Wochenenden in den Stadien verbringen, passiert dort allerdings sehr, sehr wenig, was negativer Schlagzeilen bedürfe. Und trotzdem ist die Aufmerksamkeit bei negativen Themen immens hoch, während all die wunderbaren Dinge, die Fans tun und leisten, ihr Engagement im sozialen, ihre Arbeit für ein inklusives Stadion, gegen Diskriminierungen und Ausgrenzung, viel zu selten im Rampenlicht steht.

Heute Abend wollen wir das Rampenlicht für die Fans ganz besonders hell strahlen lassen.

Die Fangruppen, die sich für den Fanpreis beworben haben, sind vielfältig und engagiert, sie klären auf, helfen vermeintlich Schwächeren, die ja in der Regel nur diejenigen sind, die von der Gesellschaft sonst zu wenig Hilfe bekommen. Sie engagieren sich in ihren Städten.

Eine Vielzahl von Fanclubs engagiert sich seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine ganz intensiv für Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten.

Wir waren in der Jury echt überwältigt von der Vielzahl der wunderbaren Einsendungen. Wir danken allen, die sich um diesen Preis beworben haben, für ihr Engagement und rufen ihnen zu: Wir sehen euch!

Und trotzdem. Trotz all der wundervollen Projekte war das eine sehr kurze Jurysitzung. Weil wir alle ein Gespür dafür hatten, dass da eine Gruppe dabei ist, die heraussticht damit, was für ein Thema sie beackert. Deswegen zeichnen wir die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen aus, deren fußballerische Liebe dem FC St. Pauli gehört.

Warum die Kaffeetrinker*innen?

Die Mitglieder des Fanclubs haben am Millerntor das so genannte Trockendock eröffnet, einen Verkaufsstand, an dem es ausschließlich alkoholfreie Getränke gibt. Sie haben aus Eigenmitteln die Finanzierung gestemmt, nachdem der Verein ihren Antrag abgelehnt hat, vier alkoholfreie Stände für alle Fans anzubieten. Der Club duldet den Trockendock heute, das Risiko tragen aber die Kaffeetrinker*innen. Mit dem Preis wollen wir ihr Engagement nicht nur auszeichnen, sondern auch unterstützen – und ihr finanzielles Risiko lindern.

Die Verbindung von Alkohol und Fußball ist sehr intensiv. Bier im Stadion ist für viele von uns total selbstverständlich, auf Auswärtsfahrten ist Alkohol morgens um neun der Standard, ein Spiel, bei dem es nur alkoholfreies Bier gibt, wird leidvoll beklagt. Was macht das mit denen, die eine Suchtkrankheit überwunden haben?

Es geht beim Engagement der Kaffeetrinker*innen nicht um Verbote, nicht darum, Bier aus den Stadien zu verbannen. Es geht darum, sichere Orte innerhalb des Fußballs zu schaffen. Inzwischen sind Menschen mit unterschiedlichen Suchtthematiken vereint unterm Dach der WBKler*innen. Während Vereine mit Wetten und Alkoholika für sich werben, macht dieser tolle Fanclub uns darauf aufmerksam, dass wir wachsam sein müssen beim Thema Sucht.

Das Stadion ist ein Ort für große Gefühle, für wunderbare Gemeinschaft, für das nun schon angesprochene soziale Engagement. Es ist aber zugleich ein Ort, an dem – übrigens gerade auch junge – Menschen extrem selbstverständlich mit Alkohol in Kontakt kommen. Und an dem umgekehrt dem Alkohol nicht leicht zu entkommen ist.

Deshalb ist das Angebot der Weiß-braunen Kaffeetrinker so wichtig und wir hoffen, dass es Schule macht. Und darum, ganz ohne Oscar-Umschlag: Ganz herzlichen Glückwunsch an die Weiß-braunen Kaffetrinker*innen zum easyCredit-Fanpreis 2022.

Horst Hülß: Abschied von einer echten 05-Legende

Was ich von Horst besonders in Erinnerung behalten werde: seine Begeisterungsfähigkeit, den schalkigen Humor, seine Zugewandtheit und die übergroße Liebe zu seinem Verein, dem 1. FSV Mainz 05. Im Alter von 84 Jahren ist er am Freitag gestorben und er hinterlässt eine Lücke, die bleiben wird. Menschen wie ihn, aber auch Vereinsikonen wie ihn, gibt es nur noch wenige und mit jedem von ihnen, der geht, verschwindet ein Stück gelebter Geschichte, ein Teil von 05.

Einer der schönsten Momente, die ich mit Horst miterleben durfte, war die Feier zu seinem 80. Geburtstag vor vier Jahren in Bretzenheim. Er war da voll und ganz in seinem Element, lauschte mit roten Wangen und strahlenden Augen den Festtagsreden, dirigierte später seinen eigenen Geburtstagschor und war sehr glücklich über die vielen Gratulant*innen, unter ihnen ehemalige Spieler, Mitspieler und Größen des Sports ebenso wie Freund*innen und Familie. Es war ein Tag ganz nach seinem Geschmack.

Auf dem Weg ins Stadion oder auch mal nach dem Spiel habe ich ihn häufig im Hasekaste gesehen. Da gab es dann ein kurzes Schwätzchen übers aktuelle Team, die Leistung der Trainer, das eigene Wohlbefinden, seins wie meins. Manchmal waren das nur kurze Momente, manchmal ein längerer Plausch, immer waren die eigenen Schritte beschwingter, nachdem man mit ihm geredet hatte. Am schönsten war es, wenn er Scherze machte, die hörte ich gern.

Als Spieler ging es für Horst Hülß 1965 zu Mainz 05. Der Verein hatte da gerade Schlagzeilen gemacht mit der goldenen Pokalgeneration, zudem konnte er in Mainz sein Studium fortsetzen. „Die Schule war immer das Wichtigste“, hat er 2018 bei den Dreharbeiten zu meiner Videokolumne erzählt. Drei Jahre spielte er im 05-Trikot, ging dann zum VfB Ginsheim und trainierte gerade den VfR Nierstein, als er bei Mainz 05 als Nachfolger von Gerd Menne ins Gespräch kam.

Er hat „keine Sekunde gezögert“. Allein die Gelegenheit, in der 2. Liga zu arbeiten, war Anreiz genug. Und dann noch seine 05er! Mit denen erlebt er ein Novum, als der Verein sich 1976 aus wirtschaftlichen Gründen aus der 2. Liga zurückzieht. Ein harter Schritt, auch für Trainer und Team. „Meine Schüler haben Unterschriften für den Ligaverbleib gesammelt.“ Er macht den Abstieg mit und bereut das nie. Das zweite Trainerintermezzo bei 05 Ende der Achtziger ist wenig erfolgreich, seine Liebe zum Verein bleibt ungebrochen, bis zum Schluss.

Nicht immer wird die so erwidert, wie Horst Hülß sich das wünscht. Er nennt den Umgang seiner 05er mit den Ehemaligen eine „wunde Stelle“ und glaubt, der Verein müsse da „in sich gehen und noch mehr machen“. Als Mitglied des Ältesten- und Ehrenrates gehört er lange zu denjenigen, die Vereinsmitglieder an halbrunden und runden Geburtstagen mit einem Strauß Blumen überrascht. Kontakt halten, Wertschätzung zeigen, darin war er wirklich gut und immer kam das von ganzem Herzen. Das ist eine Gabe, die er aber immer auch als Aufgabe begriffen hat.

Horst Hülß wird fehlen. Er hat das zuletzt schon an allen Ecken und Enden, weil er nicht mehr so konnte. Zu wissen, dass er nun wirklich nie mehr an der Ecke vor der Arena oder seinem Platz auf der Pressetribüne sitzen wird, ist sehr traurig. Wie der Verein ihn heute würdigt, das wäre ganz nach seinem Geschmack. Möge die Erde dir leicht sein, lieber Horst. Es war ein Privileg, dich zu kennen. Danke für alles.

Sc(h2o)wimmbad: Liebe

Sechs Bahnen. An diesen Rat erinnere ich mich, nicht aber daran, wer ihn mir gegeben hat. Sechs Bahnen am Stück, so lange braucht es demnach, um beim Schwimmen in den eigenen Rhythmus zu kommen. Sechs Bahnen, die an guten Tagen verfliegen und die es an schlechten durchzuhalten gilt: gegen Widerstände, Ängste, Müdigkeit. Danach, so das Versprechen, werde alles leichter.

Kurze Bahnen? Lange Bahnen? Auch das weiß ich nicht mehr. Woran ich mich erinnere, sind die Nachmittage im Hallenbad. Das Schwimmtraining, den Geruch von Chlor. Das Gefühl, im kalten Wasser einzutauchen und wie der ganze Körper darauf reagiert.

Als kleine Kinder haben wir nach dem Training in der dunklen Schwimmbadkneipe Cheeseburger aus Styroporboxen gegessen. Bis irgendwer uns fragte, ob uns das nicht sehr unsinnig vorkäme, Kalorien erst mühsam im Becken zu verbrennen – und dann wieder in uns reinzustopfen.

Von der Luft zärtlich erschlagen

Wir wussten damals nicht, was Kalorien sind, aber plötzlich war da dieses Wort – und damit eine Verbindung: Ein Grund, um zu schwimmen, konnte es demnach sein, an Gewicht zu verlieren. Oder zumindest, kein neues hinzuzugewinnen. Wir aßen die Burger danach weiter, aber sie schmeckten nie mehr so gut wie vor dieser übergestülpten Erkenntnis.

Die Diskussionen ums Föhnen nach dem Training, unter den blauweißen Hauben, die sich an der Wand hochschieben und runterziehen ließen. Als Kind habe ich nie gefroren. Ich wollte aus dem hitzigen Vorraum der Schwimmhalle raus an die kalte Luft und von ihr zärtlich erschlagen werden, ohne zu föhnen, die nassen Haare unter der Schlauchmütze.

An den Wochenenden fuhren wir in kleinen Bussen zu den Wettkämpfen. Bevor ich an der Reihe war, musste ich jedes Mal auf die Toilette, meine nervöse Blase ausschütteln. Es ist vorgekommen, dass ich dort noch saß, wenn mein Name aufgerufen wurde, aber immer schaffte ich es rechtzeitig auf den Block. Ich war eine gute Brustschwimmerin und fand meinen Namen am Tag danach in der Zeitung wieder. Aufregend war das und spaßig.

Bei der Staffel disqualifiziert

Die anderen Stile und ich, wir fanden nicht zusammen. Auf dem Rücken irrte ich kreuz und quer durchs Becken, beim Kraulen wurde es mir vom Hin und Her des Kopfes schwindelig und ich war zudem viel zu langsam, für einen ordentlichen Delfin bekam ich die Arme nicht weit genug aus dem Wasser und wurde dafür bei der Staffel disqualifiziert.

Es frustete mich, dass sich nicht überall Verbesserung einstellte, obwohl ich mich so sehr abmühte. Aber wenn ich in meiner Disziplin unterwegs war, fühlte ich mich auf eine Art leicht und richtig, die ich nur im Wasser kannte. Alles, was sich an Land schwer anfühlte, widerständig und mühsam, ließ ich dort zurück, wenn ich untertauchte. Auch darüber, ob mein Körper nach allgemeinem Maßstab richtig war, dachte ich nicht nach.

Irgendwann verkündete die Trainerin, sie nehme mich nicht mehr mit auf Wettkämpfe, weil sich das nicht lohne für eine Disziplin. Ich war betrübt, denn ich mochte diese Ausflüge – aber fügte mich. Als ich zuhause davon erzählte, waren meine Eltern enttäuscht, dass ihre Tochter als Einzige nicht gut genug war, um weiter anzutreten. Tatsächlich hatten alle, die zuvor bereits aussortiert worden waren, das Schwimmen danach aufgegeben.

Die Körpervorstellung der Anderen

Meine Mutter bewegte außerdem eine andere Frage. Schon als ich ein Kleinkind war, so erzählte sie, sei ihr mein breites Kreuz aufgefallen. Vielleicht wäre Schwimmen ja nicht wirklich ideal für mich, denn sicher wollte ich das nicht fördern. Da war sie wieder, diese Verbindung, die mit den Cheeseburgern angefangen hatte. Doch ich schüttelte sie ab.

Bald darauf trat ich aus dem Verein aus und kam nicht mehr ins Training. Ich schwamm nun für mich alleine – und es war mir egal, was das mit meinem Kreuz machte. Lediglich die besondere Stimmung bei Wettkämpfen vermisste ich, die kleinen bunten Fahnen über dem Becken, den Austausch mit anderen, die meine Leidenschaft teilten.

Als ich die elfte Klasse in den USA verbrachte, trat ich dort ins Swimteam ein und für einen kurzen Moment half mir das, in dem fremden Land anzukommen. Dann erklärte mir unser Coach, für die Wettbewerbe müssten wir unsere Arme und Beine rasieren und ich hörte von einem Moment auf den anderen auf.

Ich hatte keine Lust mehr auf die ständigen Vorschriften und Eingriffe, was ich mit meinem Körper zu tun, und wie er auszusehen hatte. Zwar konnte ich die Verunsicherungen, die dadurch in mir ausgelöst wurden, nicht komplett abschütteln, ich konnte aber gewisse Grenzen ziehen. Das zu realisieren, half mir ungemein.

Ich fand mich unter Wasser

Wer schwimmt, macht sich nackt; zwar nicht vollständig, aber es geht eine gewisse Preisgabe des Körpers damit einher. Im Erwachsenwerden und manchmal noch darüber hinaus musste ich einen Umgang damit finden. Im Becken aber hörten sämtliche Gedanken daran auf. Meine Mutter fand mich zu dick, mein Vater fand mich zu dünn, ich fand mich unter Wasser; auch in Phasen, in denen ich überall sonst verloren war.

Doch diese Sicherheit entglitt mir, als mein Leben in der Mitte des Studiums an zu vielen Stellen zugleich aus den Fugen geriet. Während Panikattacken mir die Luft aus der Lunge pressten, war ans Schwimmen zunächst nicht zu denken. Das lange, tiefe Becken, das in seiner Mitte ins schier unendliche Dunkel abkippten, schien unüberwindbar.

Da erinnerte ich mich an die sechs Bahnen. Strampelnd und angstvoll arbeitete ich mich durchs Nass. Eins. Schluckte Wasser. Zwei. Kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Drei. Überwand mich. Vier. Löste mich aus der Hektik. Fünf. Fand meinen Rhythmus. Sechs. Und von vorn.

So schwimme ich seither, in abgezählten Sechserpaketen, auch wenn diese Zeit zwei Jahrzehnte zurückliegt. Ich habe meinen Rhythmus gefunden.

Die kindliche Faszination für Hallenbäder ist mir mit den Jahren ein wenig verloren gegangen und ich habe eine gesunde Arroganz gegen 25-Meter-Bahnen entwickelt. „Mein“ Freibad hat tolle 50-Meter-Bahnen, es ist von Mai bis September ein Ort, an dem ich auftanken kann und wo alles, was mich beschäftigt, vor der Tür bleibt – oder mindestens am Beckenrand.

Alles ist im Fluss

Was nicht bedeutet, dass ich mir beim Schwimmen keine Gedanken mache, aber wie mein Körper sind auch sie dann weniger schwer. Unter Wasser schlägt mein Herz besonders zart, fühle ich mich versöhnlich, lasse ich hinter mir, was lange her ist, was ich nicht ändern kann. Unter Wasser lerne ich, loszulassen und zu verzeihen.

Die kühle Feuchtigkeit hüllt mich ein wie eine federleichte Decke, sie umarmt mich wie eine gute Freundin, hält und wiegte mich. Im Wasser ist: alles im Fluss; das klingt wie eine Phrase, aber es fühlt sich wahr an.

Ich weiß nicht, woher es kommt, dass Menschen sich in unterschiedlichen Elementen wohlfühlen, ob es ein Zeichen dafür ist, woher wir kommen – oder wohin wir gehen. So lange ich bleibe aber, möchte ich schwimmen.

Wenn Tod Verbindungen schafft

Carmen Mayer arbeitet als Trauerbegleiterin und beschäftigt sich mit Trauer im Fußball. Sie ist überzeugt, dessen Rituale schaffen Halt und geben Trost.

Carmen Mayer im Stadion von Turbine Potsdam. (Foto: marwi)

„Ich hab’ mir das ja nicht in dem Sinne vorgenommen, mit Tabus zu arbeiten.“ Carmen Mayer lacht ihr einnehmendes, herzliches Lachen, während sie ihre Tasse abstellt. Dann ergänzt sie: „Für den Fußball stimmt es auch nicht. Das ist ja das Schöne.“ Sie lächelt jetzt. Der Tod, das ewige Tabuthema, es ist ihr ganz selbstverständlich geworden. Wenn Mayer redet, ist da überall Verbindung. Es beginnt mit ihrer Sprache, aus der die erste Heimat Freiburg ebenso klingt wie ihr Zuhause Berlin. Eine warme, ungewöhnliche Mischung ist das, die sie an beiden Orten fest verankert. Verbindung ist auch herauszuspüren, wenn sie über andere spricht, mit großer Herzenswärme, die alle Menschen mit an den Tisch bringt, von denen sie erzählt. Und Verbindung wird zuletzt deutlich in „ihren“ Themen, die jedes für sich stehen und dabei doch alle in den Fußball hineinreichen. Auch ihre Arbeit als Trauerbegleiterin, gerade die, sogar ihre persönlichen Verluste, mit denen alles irgendwie begann.

September. Es ist nochmal so heiß geworden, dass die Menschen in einer Seitenstraße nahe des Frankfurter Bahnhofs in kurzen Röcken und leichten Hemden an dem italienischen Restaurant vorbeiflanieren. Mayer lebt in Berlin, ist auf dem Weg zu ihrer Mutter nahe Freiburg. Dort ist sie aufgewachsen, war jugendliche Umweltaktivistin, wie sie beinah erstaunt erzählt. „Das fällt mir jetzt erst wieder ein.“ Autofreie Städte, Atomkraft, nein danke. Die Themen der frühen 90er setzen etwas in ihr in Gang, keine klassische Politisierung, aber ein Gefühl für Ungerechtigkeit, ein Bedürfnis, dieser Wut entgegenzusetzen, etwas zu bewegen in der Welt.

Treffen sich zwei und reden über Trauer und Fußball. (Foto: WP)

Mayer, Jahrgang 1974, macht eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin, arbeitet in der offenen Jugendarbeit, in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Immer nah dran, immer von und mit dem Herzen dabei. Bis irgendwann der Kopf so voll ist mit Eindrücken, dass ein Tapetenwechsel nötig wird. Die damals 25-Jährige zieht nach Berlin, studiert Geschichte und Bibliothekswissenschaft, arbeitet nebenher im Archiv der Jugendkulturen. „Für mich hat das immer alles zusammengepasst.“ Sie lässt den Blick schweifen, scheint das Gesagte für sich abzuwägen, nickt. Das Verbindende ist sie selbst, sind ihre Interessen, ist ihre Offenheit.

In Berlin lernt Mayer ihren Mann kennen, wird Mutter. Im Frühjahr 2006 erwarten die Eltern ein Geschwisterchen. Berlin summt mit Lebendigkeit in jenem März. Die Männer-Fußball-WM steht vor der Tür, Menschen aus aller Welt entdecken das Land neu, die Vorbereitungen für das als Moment der Völkerverständigung geplante Ereignis laufen. Doch für Carmen Mayer und ihre Familie senkt sich dunkle Schwere mitten in diese flirrende Euphorie. Ihr Kind kommt in einer Stillgeburt tot auf die Welt. Sie spricht mit großer Ruhe über dieses Erlebnis – und mit unendlicher Zärtlichkeit über den Sohn. Es ist auch das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema, die tastend und suchend während dieses Turniers begann.

Die Rituale im Fußball machen Trauer möglich. (Foto: marwi)

„Wir hatten damals einen Untermieter aus der Schweiz bei uns, mit ihm habe ich viel Fußball geguckt in dieser Zeit.“ Mayers Erzählung ist halb erinnernd, halb routiniert. Diesen Teil ihrer Geschichte hat sie schon häufig erzählt, denn er ist gewissermaßen Ausgangspunkt auch für berufliche Veränderungen, für eine Verlagerung in ihren Interessen. Gleichzeitig wählt sie ihre Worte ganz bewusst, denn sie möchte das Private schützen, auch für ihre Familie, nur die Teile preisgeben, die sie für ihren Weg wichtig findet. Fußball also, vielleicht etwas überraschend, mitten in der Trauer. Als Kind habe sie mit ihrem Papa regelmäßig die Sportschau gesehen, erinnert sie sich lachend. „Mein Vater hat jeden Samstag beim Autoputzen das Bundesligaradio gehört und die Nachbarn damit genervt bis aufs Messer.“ Sie grinst breit über dieses erfüllte Klischee, mit dem sie viele schöne Erinnerungen verbindet. „Er fand den Waldhof gut.“

Als sie ihren Sohn verliert, leben die Fußballerinnerungen auf, vor allem aber ermöglicht ihr die Konzentration aufs Spiel „einfach mal abzuschalten. Ich musste 90 Minuten an gar nichts denken, auch nicht an die Trauer.“ Das wirkt erleichternd, nicht nur für Mayer. „Unsere Freunde haben das im Nachhinein bestätigt. Man hatte einen Grund, sich zu treffen – die Spiele. Und musste kein Programm machen, denn das Programm war ja: Fußball.“ Der ermöglicht ihr, mit der Trauer über den Verlust einfach zu sein, sich nicht anstrengen zu müssen und dennoch zugehörig zu fühlen. „Es gab so einen positiven Grund, sich zu treffen. Du triffst dich nicht zum Weinen, aber du darfst jederzeit losheulen und alle sind um dich herum.“

Trost und Erinnerung, Ablenkung und Glück: alles trifft sich im Fußball. (Foto: marwi)

Mayer beginnt erstmals, sich mit der Verbindung von Fußball und Trauer zu beschäftigen. Sie arbeitet in einer Therapie zu ihrem Verlust, beginnt eine Weiterbildung zur Trauerbegleiterin – und wird erneut schwanger. „Ich habe selbst keine Geschwister und wollte das gern für unser Kind.“ Die Tochter sei „eine Stramplerin“ gewesen, erzählt Mayer, und wieder ist da große Zärtlichkeit in ihrer Stimme. „Sie war mit bei vielen Fußballspielen.“ Die nehmen immer größeren Raum ein im Leben der damals 34-Jährigen.

Mai 2008. Die EM in Österreich und der Schweiz steht vor der Tür, als Carmen Mayer auch ihre Tochter in einer Stillgeburt tot auf die Welt bringt. „Danach wurde klar: nie wieder.“ Sie stellt die Worte ruhig in die Hitze des Septembernachmittages. Ihre Art, über die Verluste zu sprechen, schafft Raum für Nachfragen, für Unbefangenheit. Mayer betont, ihre eigene Geschichte dürfe im Job als Trauerbegleiterin keine Rolle spielen und doch ist offensichtlich, sie tut das im besten Sinne: Weil es durch die Arbeit, die sie an sich selbst geleistet hat, so einfach ist, mit ihr über Themen zu sprechen, die sonst in unserer Gesellschaft oft schweigend behandelt werden – eine Stille die Betroffene schmerzt und hilflos macht.

Erneut kommt dem Fußball eine besondere Rolle zu in der Zeit der ersten Trauer. „Es waren wieder die Spiele, klar. Und dann habe ich eine ganz besondere Verbindung gespürt zu Frank Lampard, der im April 2008 seine Mutter verloren hatte.“ Wie der heutige Trainer des Chelsea FC über diesen Verlust spricht, lässt etwas in Mayer wiederklingen. Noch einem weiteren Spieler fühlt sie sich in ihrem Schmerz verbunden: Khalid Boulahrouz, dessen Tochter im Juni zu früh zur Welt kommt und kurz darauf stirbt. „Es war sehr wertvoll, wie seine Kollegen damals damit umgegangen sind, auch öffentlich“, findet Mayer, die von „sozial nicht anerkannter Trauer“ spricht. „Das Kind hat für das Umfeld ja nicht gelebt, niemand hat es kennengelernt – für viele ist der Verlust deswegen nicht greifbar.“ Erneut macht sie die Beobachtung: „Der Fußball hat innerhalb seiner Rituale besondere Wege gefunden, mit dem Tod umzugehen.“

Tröstliche Erinnerung und unbelastete Freude: Im Stadion ist Platz für beides. (Foto: marwi)

Im Sommer 2012 eröffnet Mayer ihre eigene Praxis. Heute gibt sie ihre Erfahrungen auch als Dozentin im Ambulanten Hospiz-und Familienbegleitdienst der Johanniter weiter. Derweil schreitet im Bereich der Trauerbegleitung die Professionalisierung weiter voran, es gibt einen Bundesverband. Um anerkanntes Mitglied zu werden, macht sie eine erneute Weiterbildung, die sie mit einer Arbeit über den Zusammenhang von Trauer und Fußball abschließt. Erneut kommt sie auf das Thema Rituale zu sprechen: „Der Umgang mit Verlust und Trauer ist im Stadion oft sehr natürlich.“ In der Kurve werden verstorbene Fans mit Bannern geehrt, rivalisierende Ultras sind bei dem Thema respektvoll, bei Union Berlin wird im Stadion an verstorbene Fans erinnert und Hertha-Fans organisieren jedes Jahr den „Remember Benny-Cup“, um die Erinnerung an einen von ihnen aufrecht zu erhalten.

„Wenn du mich fragst, was Leute sagen, worunter sie nach dem Tod eines geliebten Menschen besonders leiden, ist es das Gefühl: Er wird vergessen. Der Fußball vergisst nicht, er hat eine Erinnerungskultur, die unheimlich tröstlich ist.“ Daneben ist Fußball Ablenkung, das Stadion – für Carmen Mayer das von Turbine Potsdam – ein Ort, um einfach zu sein, Tod und Trauer zu vergessen. „Ich kann vorm Spiel jemanden Fragen beantworten, wie Hospizunterbringung abläuft und dann 90 Minuten an gar nichts denken. Beides passt da rein und das ist ganz wunderbar.“

Ihren Themen widmet sich Mayer in einem außergewöhnlichen Fanzine. (Foto: marwi)

Im Herbst 2018 wagt sich Mayer mit der Verbindung ihrer Herzensthemen nochmal ganz neu an die Öffentlichkeit. Sie geht mit ihrer Webseite zu Trauer und Fußball online und startet einen Account bei Twitter. Dort teilt sie fast tagesaktuell Informationen, erinnert an deren Todestagen an verstorbene Spieler oder Fans und begleitet das Thema, unterstützt von einem kleinen Team, nahbar und intensiv. Mittlerweile wird sie regelmäßig für Vorträge gebucht und ist dank ihrer Arbeit Mitglied in der Deutschen Akademie für Fußballkultur. „Manchmal kann ich kaum glauben, wie sich das alles entwickelt hat.“ Sie lächelt offen – und ehrlich erstaunt. „Da bin ich schon oft sehr dankbar.“

Kürzlich hat sie sich nun einen Traum erfüllt und mit Kolleginnen ein Fanzine zum Thema Trauer und Fußball veröffentlich, klassisch geklebt und aus ihrer Wohnung heraus vertrieben. „Das Echo war überwältigend, wir haben das ja kaum beworben.“ Sie selbst, sagt Mayer, habe keine Angst vor dem Tod. „Ich habe das Gefühl, ich habe alles gemacht. Klar wäre es jetzt zu früh, weil ich mir wünsche, dass es so noch lange bleibt. Aber ich fürchte mich nicht.“ Sie hat dem Tod auf eine besondere Weise einen Platz eingeräumt in ihrem Leben. Jeder Verlust bleibt dabei zwar schmerzhaft, doch sie hat ihn seiner langen Schatten beraubt. „Es ist schon so, dass ich mit dem Thema mittlerweile auch viele sehr schöne, berührende Momente erlebt habe und das hat natürlich etwas an meinem Blick verändert.“ Der Tod, dem anhaftet, er kappe alle Verbindungen, er schafft in Carmen Mayers Leben ganz besondere Beziehungen.