Volljährig im Vermissen: 18 Jahre ohne meinen Paps

Es gib ein Foto, auf dem ich mit meiner Mutter am Frankfurter Flughafen stehe. Ich bin kurz davor, in ein großes Abenteuer zu starten, natürlich auch, weil meine Eltern es mir ermöglichen: Das Flugzeug, in das ich steige, bringt mich in die USA, wo ich die nächsten zehn Monate leben werde. Ein bisschen ist das damals schon eine Flucht vor den Verhältnissen zuhause, die mich erdrücken. Die Wochen vor meinem Abflug sind geprägt von einem unfassbaren schlechten Gewissen, vor allem gegenüber meiner kleinen Schwester, die ich mit dem Chaos alleine lasse, und meiner Mutter, deren emotionale Stütze ich bin. Doch ich spüre, dass ich fortmuss, wenn ich eine Chance haben will, mein eigenes Zerbrechen zu verhindern.

Auf diesem Foto nun klammert meine Mutter sich mit ausdruckslosen Augen an mir fest. Ich halte sie sicher in meiner Umarmung. Es wird alles gut, sagt mein Blick. Ich bin da. Und auch, wenn ich physisch in den nächsten Monaten an einem anderen Ort lebe, werde ich weiterhin dein Anker sein. So, wie ich das immer war. Damals bin ich 16 Jahre alt.

Die zehn Monate in Mississippi erinnere ich besonders deutlich in Briefen. Mitte der Neunziger schreiben wir weder Mails, noch sind wir per Messenger dauerhaft verbunden. Aber meine Mutter schreibt so lange intensive Briefe, dass ich oft denke, sie kann zuhause überhaupt nicht anwesend sein: Sie lebt in dieser Post. Zehn, zwölf Seite erreichen mich jede Woche, mit einer minutiösen Aufzeichnung dessen, was sie tut, sowie dessen, was mein Paps und meine kleine Schwester nicht oder falsch machen. Immer wieder bittet sie mich, diese Post nach dem Lesen wegzuwerfen, und wenn ich heute hineinlese, verstehe ich, warum.

Mich zwingen ihre vielen wunden Worte ebenfalls in eine schriftliche Parallelwelt, weil ich versuche, ihr den üblichen Trost und Rat in Briefumschlägen zu vermitteln, sie nicht alleine zu lassen. Erst spät in meiner Abwesenheit beginnt auch eine zaghafte, liebevolle Korrespondenz mit meiner Schwester und meinem Paps. Die beiden leiden unter meiner Abwesenheit ebenso wie unter jener meiner Mutter, die physisch anwesend und doch nicht da ist. Wieder kämpfe ich mit Schuldgefühlen.

Als ich zurückkehre in die Heimat, finde ich ein Haus voller Scherben vor. „Was hast du denn erwartet, wenn du einfach abhaust?“, fragt mich meine Mutter. Ich habe das Gleichgewicht, an das wir alle uns über Jahre gewöhnt hatten, durcheinandergebracht. Meine Eltern reden von Scheidung. Fremde Menschen wandern durch unser Haus, vermessen Wände und Türen und verhandeln über Kaufpreise.

Inmitten diesem Chaos kommt und geht unbemerkt mein 18. Geburtstag. Später in jenem Herbst raufen meine Eltern sich noch einmal zusammen und beschließen, einander eine Probezeit von einem Jahr zu gewähren. Was, wenn es nun, wo wir wieder zu viert sind, doch funktioniert? Ein Jahr später folgt schließlich die Trennung, es ist die erste, die beide auch räumlich durchziehen; weitere werden folgen.

In meiner Erinnerung steht dieser 18. Geburtstag wie ein ungelenkes Symbol für den Zerfall unseres Zuhauses. Nicht, dass zuvor alles auch nur annähernd in Ordnung gewesen wäre, die Trennung kommt dennoch mit einer großen Erschütterung über mich und meine Schwester. Vor allem, weil wir Kinder das Gefühl haben, keines der Elternteile alleine lassen zu können – was bedeutet, wir müssen uns trennen. Meine Schwester bleibt bei unserem Paps, ich bleibe bei unserer Mutter; darüber müssen wir überhaupt nicht sprechen, das wissen wir beide.

Zahlen, Jahreszahlen, Geburtstage, Zeitabstände sind schon eine komische Sache. Ob etwas fünf oder sieben Jahre her ist, elf oder vierzehn, was für einen Unterschied macht das letztlich? Natürlich verblassen manche Erlebnisse mit der Zeit oder beginnen Wunden, zu heilen. Gefühle aber werden nicht in Nummern erfasst und vermessen, lassen sich weder wiegen noch vergleichen. Und doch stehen Zahlen manchmal symbolisch für einen Moment oder eine Phase, so, wie für mich diese 18. „Jetzt wirst du erwachsen“, scherzen die Großen gern zur Volljährigkeit. Ich war es längst – und werde es seither doch immer jeden Tag ein wenig mehr.

Wenn der erste Monat eines neuen Jahres zu Ende geht, senkt sich Stille wie ein dunkles Tuch über mein Herz: In einer der letzten Januarnächte haben wir unseren Paps verloren, und jedes Jahr sind diese letzten Tage des Wintermonats angefüllt mit Erinnerungen an ihn. Mal sind sie heiter, mal schmerzlich, immer liegt darin ein Vermissen und die große Traurigkeit darüber, was ich alles nicht mit meinem Vater teilen konnte. Zugleich verspüre ich große Dankbarkeit für die Zeiten, die ich mit ihm teilen und erleben durfte, für die gemeinsamen Wege, das Wachsen.

In jenem Winter hatten sich meine Eltern erneut getrennt. Diesmal sollte es für immer sein, erklärten sie, ohne zu wissen, dass sie Recht behalten würden, weil das Leben ihnen diesmal keine Zeit lassen würde, sich selbst zu widerlegen. Mein Vater war feiern an dem Abend, der sein letzter werden sollte, tags darauf wollte ich ihn in seinem neuen Zuhause besuchen. Ich fuhr tatsächlich in den Odenwald an jenem Wochenende, doch es klaffte eine gewaltige Lücke im Ort meiner Kindheit, dort, wo unser Paps aus dem Leben gerissen worden war.

Mein Vater war kein einfacher Mensch, aber was heißt das schon. Ich glaube nicht, dass diese Zuschreibung auf irgendwen wirklich zutrifft. Er war witzig. Das ist bis heute das Erste, was mir einfällt, wenn ich an ihn denke. Der Schalk saß ihm im Nacken, von klein auf, er machte gerne Scherze, vor allem mit und für uns Kinder. Am Frühstückstisch quakte er auf Zuruf wie Donald Duck, er war ein leidenschaftlicher – und mieser – Witzeerzähler, und wenn er lachte, dann donnerte es in seiner Brust und sein ganzes Gesicht wurde eine frohe Landschaft.

Unser Paps war nicht leise und konnte doch verstummen, was selten ein gutes Zeichen war. Entweder ging es ihm dann schlecht oder er war wütend, und mit beidem konnte ich nur ganz schwer umgehen. Besonders schlimm war es, wenn die stillen Wolken, die ihn düster umgaben, wegen Streitigkeiten mit meiner Mutter aufgetaucht waren. Es fühlte sich dann an, als würde sein Herz in meiner Brust brechen – und ich war nicht in der Lage, ihn vor dem Kummer zu beschützen, der ihn heimsuchte.

Dieses Herz hatte eine emotionale Größe und eine organische Schwäche, und so richtig konnte ich beides nie zusammenbringen. Mit der Regelmäßigkeit von Schaltjahren wurde mein Paps aus dem Leben gerissen, um in einem Klinikbett zu landen, wo wir Kinder ihm die Zigaretten versteckten und es den Ärzten Mal um Mal gelang, sein Leben zu retten. Jedes Mal kehrte er danach zu uns zurück, als wäre nichts gewesen. Er hielt sich für unsterblich und wir begannen, ihm dieses unwahrscheinliche Märchen zu glauben, weil wir es uns so sehr wünschten.

Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich die Briefe wiederentdeckt habe, die mein Vater mir nach Amerika schickte. Sie sind ein Schatz, dessen Wert sich in Zahlen nicht beschreiben lässt. Die Wertschätzung, die daraus nicht nur für mich spricht, sondern auch für meinen Weg, der sich immer von dem meiner Geschwister unterschied, hat mich vollkommen überwältigt.

Ich weiß, dass mein Paps nicht immer nachvollziehen konnte, warum ich die Dinge so handhabte, wie ich es tue. Doch ich hatte in den bangen Momenten, in denen ich mich nach seinem Tod frage, was er heute zu meinem Leben sagen würde, vergessen, wie liebevoll und unerschütterlich sein Zuspruch für mich immer gewesen ist.

In den letzten Tagen habe ich immer wieder an die Skiurlaube mit meinem Paps gedacht. Ich war in der Grundschule mühelos Klassenbeste, und wenn er im Januar eine Woche mit der Schneeclique Skifahren ging, wurde ich regelmäßig dafür beurlaubt. Ich war das einzige Kind auf diesen Reisen und liebte alles daran, von den Erwachsenen, die mir über die Jahre vertraut wurden, mitgeschleift und durchgeknuddelt zu werden. Ich erinnere die sonnengebräunten Gesichter, die in blasse Hälse übergingen, feiernde Erwachsene und mittendrin ich, auf dem Schoß meines Paps, mit glänzenden Augen und immer einem Stück Schokolade zur Hand. Der heimischen Familiendynamik entledigt, war unser Verhältnis am unkompliziertesten.

Es schneite in der Nacht, die zur letzten meines Paps werden sollte, und er war tanzen. Später beschwerten sich einige Leute darüber, dass die Feier eine Stunde vor ihrem offiziellen Ende abgebrochen wurde, weil er tot in der Lobby lag. Sein Sakko mit den Goldknöpfen, für das er einen rührenden Stolz empfand, wurde ihm geklaut, während die herbeigeeilten Ärzte noch um sein Leben kämpften. Wir konnten ihn nicht darin beerdigen und das war in den Tagen nach seinem Tod eine dieser sinnlosen Kleinigkeiten, die uns völlig fertigmachten.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr hätte tun können, um meinem Paps ein glückliches Leben zu bescheren. Was ich weiß, ist, dass er sich in seinem Weg nie hat beirren lassen, und dass er mir damit die Freiheit geschenkt hat, dasselbe zu tun; zumal, wenn es um unser Verhältnis ging.

Die Nacht, in der mein Vater starb, war kalt und roch nach Schnee. Vielleicht erinnere ich mich deswegen so intensiv an die gemeinsamen Skiurlaube, wenn sich der Tag jährt, an dem er aus diesem Leben gerissen worden ist. Ich habe lange nicht verstanden, dass ich ihn nirgends mehr besuchen kann, als der Anruf kam. An seine gesundheitlichen Episoden waren wir alle so sehr gewöhnt, dass wir nicht mehr damit rechneten, ihn bei einer davon wirklich zu verlieren. Doch genau das passierte ihn jener Nacht vor achtzehn Jahren.

Es ist überhaupt nicht greifbar, wie lange dieser Verlust uns nun schon begleitet. Und es schwingt in diesem Jahr die Erkenntnis darin mit, dass wir volljährig werden ohne ihn. Vielleicht ein zweites Mal erwachsen.

„Wein doch nicht, Mädel“, würde mein Vater sagen. „Das Leben muss ja weitergehen.“ Ich weiß, dass er Recht hat und sehe es auch daran, dass es ja seit vielen Jahren passiert. Meins, das Leben meiner Schwester und die der großen Geschwister, sie alle drehen sich auch ohne ihn immer weiter. Und auch dafür bin ich natürlich dankbar. Ich bin aber auch traurig, dass er daran nicht mehr teilhaben kann und immer im Januar gebe ich der Trauer einen besonderen Raum.

Ich vermisse ihn dann mit reißendem Herzen und schweren Tränen, bevor ich mich mit einem Lächeln und großer Wärme an ihn erinnere.

Horst Hülß: Abschied von einer echten 05-Legende

Was ich von Horst besonders in Erinnerung behalten werde: seine Begeisterungsfähigkeit, den schalkigen Humor, seine Zugewandtheit und die übergroße Liebe zu seinem Verein, dem 1. FSV Mainz 05. Im Alter von 84 Jahren ist er am Freitag gestorben und er hinterlässt eine Lücke, die bleiben wird. Menschen wie ihn, aber auch Vereinsikonen wie ihn, gibt es nur noch wenige und mit jedem von ihnen, der geht, verschwindet ein Stück gelebter Geschichte, ein Teil von 05.

Einer der schönsten Momente, die ich mit Horst miterleben durfte, war die Feier zu seinem 80. Geburtstag vor vier Jahren in Bretzenheim. Er war da voll und ganz in seinem Element, lauschte mit roten Wangen und strahlenden Augen den Festtagsreden, dirigierte später seinen eigenen Geburtstagschor und war sehr glücklich über die vielen Gratulant*innen, unter ihnen ehemalige Spieler, Mitspieler und Größen des Sports ebenso wie Freund*innen und Familie. Es war ein Tag ganz nach seinem Geschmack.

Auf dem Weg ins Stadion oder auch mal nach dem Spiel habe ich ihn häufig im Hasekaste gesehen. Da gab es dann ein kurzes Schwätzchen übers aktuelle Team, die Leistung der Trainer, das eigene Wohlbefinden, seins wie meins. Manchmal waren das nur kurze Momente, manchmal ein längerer Plausch, immer waren die eigenen Schritte beschwingter, nachdem man mit ihm geredet hatte. Am schönsten war es, wenn er Scherze machte, die hörte ich gern.

Als Spieler ging es für Horst Hülß 1965 zu Mainz 05. Der Verein hatte da gerade Schlagzeilen gemacht mit der goldenen Pokalgeneration, zudem konnte er in Mainz sein Studium fortsetzen. „Die Schule war immer das Wichtigste“, hat er 2018 bei den Dreharbeiten zu meiner Videokolumne erzählt. Drei Jahre spielte er im 05-Trikot, ging dann zum VfB Ginsheim und trainierte gerade den VfR Nierstein, als er bei Mainz 05 als Nachfolger von Gerd Menne ins Gespräch kam.

Er hat „keine Sekunde gezögert“. Allein die Gelegenheit, in der 2. Liga zu arbeiten, war Anreiz genug. Und dann noch seine 05er! Mit denen erlebt er ein Novum, als der Verein sich 1976 aus wirtschaftlichen Gründen aus der 2. Liga zurückzieht. Ein harter Schritt, auch für Trainer und Team. „Meine Schüler haben Unterschriften für den Ligaverbleib gesammelt.“ Er macht den Abstieg mit und bereut das nie. Das zweite Trainerintermezzo bei 05 Ende der Achtziger ist wenig erfolgreich, seine Liebe zum Verein bleibt ungebrochen, bis zum Schluss.

Nicht immer wird die so erwidert, wie Horst Hülß sich das wünscht. Er nennt den Umgang seiner 05er mit den Ehemaligen eine „wunde Stelle“ und glaubt, der Verein müsse da „in sich gehen und noch mehr machen“. Als Mitglied des Ältesten- und Ehrenrates gehört er lange zu denjenigen, die Vereinsmitglieder an halbrunden und runden Geburtstagen mit einem Strauß Blumen überrascht. Kontakt halten, Wertschätzung zeigen, darin war er wirklich gut und immer kam das von ganzem Herzen. Das ist eine Gabe, die er aber immer auch als Aufgabe begriffen hat.

Horst Hülß wird fehlen. Er hat das zuletzt schon an allen Ecken und Enden, weil er nicht mehr so konnte. Zu wissen, dass er nun wirklich nie mehr an der Ecke vor der Arena oder seinem Platz auf der Pressetribüne sitzen wird, ist sehr traurig. Wie der Verein ihn heute würdigt, das wäre ganz nach seinem Geschmack. Möge die Erde dir leicht sein, lieber Horst. Es war ein Privileg, dich zu kennen. Danke für alles.

Tante Inge: Dem Himmel so nah, so nah

Manchmal, wenn ich über Menschen schreibe, von denen ich mich verabschieden muss, frage ich mich, ob ich ihnen im Leben so intensiv gezeigt habe, dass sie mir wichtig für sind, wie meine Worte es im Tod versuchen. Bei Tante Inge weiß ich es mit sicherem Herzen; diese Feststellung erleichtert mich ebenso, wie unser Besuch bei ihr vor wenigen Tagen, während das letzte Lebewohl dennoch gleich einem heftigen Sturm an meinem Herzen rüttelt.

Odenwald Ende der 1970er: A love like no other. (Foto: P.W. Braun)

Als meine Mutter kurz nach meiner Geburt wieder arbeiten ging, wurde aus der Nachbarin im Haus gegenüber meine Tante Inge, die jeden Vormittag auf mich aufpasste – und ihr Mann zu meinem Onkel Horst. Ich schätze, so war das eben, wenn aus Fremden Wahlverwandte wurden. Meine Eltern zogen 1977 in die Straße meiner Kindheit, deren Name „In den Bergen“ für mich märchenhaft war. Inge und Horst mit Sohn Udo gehörten zu den wenigen Familien, die damals schon am Westhang lebten. Sie bewahrten sie mich davor, Johanna Elisabeth Désirée zu heißen, weil Inge klipp und klar sagte: „Wenn ihr das Kind so nennt, passe ich nicht auf sie auf.“

Sie war eine resolute Frau mit großem Herzen und meine Eltern einigten sich in Sachen Namen auf folgenden Modus: Bei Mädchen, die mein Paps sich wünschte, bestimmt er den Rufnamen – bei Jungs meine Mutter, die auf Söhne hoffte. So ging der Johanna-Elisabeth-Kelch an mir vorbei und ich verbrachte sorglose, schaukelnde Kinderstunden in den warmen Umarmungen meiner Tante Inge. Die Eheleute lebten in ihrem Elternhaus unterm Dach und teilten sich Bad und Küche mit Feriengästen, die dort einkehrten, um das Familienauskommen zu sichern. Als dieses Kapitel zu Ende war, wurden Stockwerke getauscht, Inges Eltern zogen unters Dach.

Ein Ort, um weinen zu dürfen

Ich erinnere mich vor allem als Farbe an diese Wohnung: grün. Und als Geschmack: schwer und süß. Inge und ihre Mutter waren sich sehr ähnlich. Als die Eltern im Sterben lagen, pflegte Inge sie in einem Zimmer im Erdgeschoss in Krankenhausbetten. Wenn ich sie nach der Schule besuchte, fiel mir der scharfe Geruch auf. Die zwei lagen sich über die Monate an vielen Stellen wund und Inge hob und bettete sie immer wieder neu. Dabei kam ihr nie ein böses Wort über die Lippen und keine Klage. Ich weiß noch, das galt den anderen Erwachsenen als tapfer, aber vielleicht wäre es besser für sie gewesen, auch einen Ort zu haben, an dem sie über die emotionale und körperliche Belastung weinen kann. Das denke ich heute oft.

Bis in den Himmel und darüber hinaus! (Foto: privat)

Meine Gedanken wandern schnell und weit, wenn ich mich mit Tante Inge beschäftige. Bis in den Himmel – das ist schon vor ihrem Tode wörtlich zu verstehen. Der Himmel, als weitumspannendes Bild über mir, ist eine der ersten Erinnerungen, die ich habe. Ich bin bei Inge und Horst im Garten unterhalb des Hauses und schaukle so hoch, dass meine kindlichen Gedanken überzeugt sind, ich könne mit den Füßen das leuchtendhelle Blau berühren.

Eine andere Erinnerung: Ich habe keine Angst. Etwas an Tante Inges Liebe und Zuversicht ist so unerschütterlich, dass ich mich nicht sorge, weder davor, von der Schaukel zu fallen, noch, in den Stachel einer Wespe zu treten oder für mein Verhalten gescholten zu werden. Ich darf mir ihrer Liebe gewiss sein, komme, was wolle. Das muss sie nicht erklären, ich spüre es und etwas daran ist anders als die Liebe meiner Mutter, von der ich glaube, ich müsse sie mir erarbeiten.

Die beiden Frauen treten in Konkurrenz zueinander, ohne das vermutlich je zu wollen. Meine Eltern trennen 19 Jahre und noch mehr Welten, doch ihre Liebe hält die beiden in den ersten Jahren zusammen. Uns Mädchen bekommen sie früh, vielleicht zu früh für meine Mutter, die mit Anfang 20 am Beginn ihrer Berufsliebe steht und uns auf ihre Weise möchte, aber sich durch die Familie auch gefesselt fühlt. Tante Inge, die wir Mädchen wie eine Oma betrachten, ist tatsächlich drei Jahre jünger als unser Paps. Da sie selbst jung Mutter geworden ist, genießt sie die Zeit mit uns 20 Jahre später intensiv. Die Ruhe und Klarheit, die sie uns Kindern schenkt, sind wir nicht gewohnt und sie ziehen uns zu ihr hin. Das schürt Eifersucht.

Trennung ohne Erklärung

Eines abends stehe ich im Kinderpyjama in Inges Hof, weinend, weil ich meine Schwester nicht beruhigen kann. Inge bringt mich zurück ins Bett und bleibt bei uns, bis meine Eltern von ihrem Kneipenabend mit Freund*innen zurück sind. Sie sagt ihnen lautstark die Meinung, es kommt zum harten Bruch und wir Kinder dürfen Inge und Horst nicht mehr besuchen. Für mich ist das Verbot besonders schlimm. Nach der Geburt meiner Schwester war meine Mutter eine Zeitlang ohne Job und so bei ihr zuhause, während ich in den Kindergarten ging. Ich aber habe in den ersten Jahren jeden Vormittag bei Inge verbracht und fühle mich wie amputiert, zumal uns Mädchen niemand erklärt, was vorgefallen ist. Wenn meine Eltern nicht da sind, sitze ich auf der Mauer, die unser Grundstück umrandet, und warte darauf, dass sich gegenüber etwas bewegt.

Wenn Tante Inge zum Briefkasten kommt, deute ich mit den Armen ein Flugzeug an. Sie lacht, wir winken einander gegen die Tränen. Wenn ich weiß, meine Mutter ist länger weg, wage ich mich auf die andere Straßenseite für eine verbotene Umarmung. Ich atme den so vertrauten Geruch und drücke meinen Kopf unter ihre Brüste wie unter ein schützendes Dach. Danach renne ich ins Haus, werfe mich in die Kissen meines Kinderbetts und weine bitterlich.

„Guggemol, en Fliescher!“ Das waren Tante Inges Worte, als über meiner Schaukel ein Flugzeug hinwegdonnerte. Als ich den Satz vor meiner Mutter wiederhole, schüttelt sie ihren Kopf, dass die kurzen Haare nur so fliegen. Dann klärt sie Inge auf, ihre Töchter sollten keinesfalls im Dialekt sprechen. Flugzeug, statt Fliescher – um Himmels Willen kein „Guggemol!“ Die ausgebreiteten Arme bleiben ein trotziges Symbol zwischen Tante Inge und mir, bis sich nach ein paar Jahren die Wogen zwischen ihr und meiner Mutter so geglättet haben, dass die Besuche auf der anderen Straßenseite wieder erlaubt sind. Die Geschichte vom Fliescher haben wir uns dennoch immer wieder erzählt und uns daran gewärmt wie an einem Lagerfeuer.

Mit dem Zauberneffen bei Onkel Horst und Tante Inge. (Foto: privat)

Wie halten Menschen Kontakt in diesem bunten, vollen Leben? Als ich nach dem Abitur aus dem Odenwald wegzog, sah ich Inge und Horst viel seltener als zuvor. An unserer Verbindung hat das nie etwas geändert. Dieses Gefühl, dass Familie immer bleibt, egal, was auch passiert, haben die beiden mir immer vermittelt. Dass wir einander Familie sind, daran hat in all den Jahren nie ein Zweifel bestanden. Wenn es Tante Inge schlecht ging, was häufiger der Fall war, sagte Horst nicht immer Bescheid. Wenn wir ihn sanft scholten, schenkte er uns einen seiner entwaffnend offenen Blicke und sagte, er habe uns damit doch lieber nicht belasten wollen.

Onkel Horst konnte Gletscher schmelzen mit den liebevollen Blicken, die er seiner Frau in allen Lebenslagen schenkte. Seine sanfte, beharrliche Liebe war ein Geschenk für alle, die er damit bedachte. Je häufiger Inge krank war, umso mehr fragte ich mich, wie das Leben ohne sie für ihn einmal sein würde. Bis er sehr schnell sehr krank wurde – und schneller gestorben war, als wir verstanden, was da gerade passierte. Sein Tod zog einen Bruch durch unsere Herzen.

Liebe, die Gletscher schmilzt

Tante Inge hat sich in den folgenden Jahren gegen das Leben regelrecht gewehrt. Ihr von den vielen Krankheiten gezeichneter Körper aber hielt sich hartnäckig und gegen ihren Willen fest daran und manchmal schienen die beiden regelrechte Krieg miteinander zu führen. Wir Mädchen versuchten, wie ihre eigene Familie, sie aufzuheitern, oft war es schwierig. Die schönsten Momente ergaben sich in diesen letzten Jahren, wenn sie von sich aus anrief und etwas erzählen wollte. Dann lachte sie das herzliche, weltumfassende Lachen, an das ich mich aus Kindertagen erinnerte, und die Sonne schien in alle Winkel unserer verbundenen Herzen. Aber diese Momente wurden immer seltener und irgendwann gab sie ihr Licht auf.

Ihr Körper aber wollte nicht loslassen und ich habe mich oft gefragt, woran das liegt, warum er immer wieder um ein Festhalten an diesem Leben gerungen hat, selbst, als so unmissverständlich klar war, dass sie diese Welt, diese Hülle, hinter sich lassen will. Ihr Sohn und seine Familie sind bis zuletzt bei ihr gewesen. Meine Schwester und ich konnten uns von ihr verabschieden, beide sanft gestützt von unseren Männern, die sich in die Liebe und den Kummer eingebracht haben und den reißenden Schmerz so ein klein wenig erträglicher machten.

In das emotionale Chaos und die hämmernden Gedanken hinein gab es einen Moment bei dieser letzten Begegnung, als Tante Inge in ein kurzes, herzliches Lachen ausgebrochen ist. Dieses Lachen hat alle Glocken in meinem Herzen zum Läuten gebracht und ein helles Licht in jede Erinnerung mit ihr geleuchtet. Das zarte Glück dieses Augenblicks wird mich begleiten, so lange ich lebe.

Danke für alles, Tante Inge.

Ein dunkler, ruhiger Ton in der Melodie meiner Tage

Als mein Paps noch lebte, ist mir selten bewusst geworden, dass ihn das Alter zu verändern begann. Meine Eltern waren 20 Jahre auseinander und erzählten uns oft die Geschichte, dass sie sich beieinander um jeweils 10 verschätzt hatten, als sie sich trafen: Mein Vater wirkte immer deutlich jünger, als er war, meine Mutter als junge Frau reifer. Wenn ich heute Fotos aus seinen letzten Tagen betrachte, fällt mir auf, dass er, ganz unbemerkt, älter geworden war. Wie hätte er wohl als alter Mann ausgesehen? Das haben wir Kinder uns unmittelbar nach seinem Tod oft gefragt.

Was sich aber erkennbar veränderte in den letzten Jahren seines Lebens, war, wie er seinen Körper hielt in der Welt. Mein Paps hatte es nicht mehr eilig und seine Bewegungen verrieten das. Ich erinnere mich an den letzten Besuch bei ihm, die Zeit in der kleinen Küche, in der er sich zwischen Tisch und Anrichte bewegte. Die Ruhe, die er ausstrahle, obwohl er innerlich noch mit den Veränderungen dieser Zeit zu kämpfen hatte. Meinen Eltern war im Herbst zuvor nach zunehmend quälenden Jahren die Trennung gelungen und er hatte ein Häuschen gekauft, es entkernt und von Grund auf renoviert. Das war einfach sein Ding: bauen.

Mein Vater als kleiner Junge mit seiner Schwester und den Eltern.

Seine zwei Jahre ältere Schwester hat mit ihrem Mann ein Architekturbüro geleitet, für meinen 1936 geborenen Paps kam keine längere Schullaufbahn und erst Recht kein Studium infrage. Er beendete die Volksschule und machte eine Lehre in der Firma, in der auch sein Vater tätig war. Später arbeitete er viele Jahre als Handelsvertreter und ohne, dass ich mit ihm darüber groß gesprochen habe, glaube ich, dass er daran vor allem die vielen Begegnungen mit anderen Menschen mochte.

So lange ich mich erinnern kann, hat mein Vater immer Pläne gezeichnet. Ich könnte heute gar nicht mehr im Detail sagen, wofür. Mal ging es um den Ausbau unseres Dachbodens, dann träumte er von einem Häuschen im Süden und plante es so liebevoll, als sei es beschlossene Sache. Uns Kinder konnte er mit derlei Luftschlössern immer begeistern und es störte uns kein bisschen, wenn es bei diesen Träumereien blieb.

Mit nur 48 Jahren hatte mein Paps beim Tennis den ersten Herzinfarkt. Zum Glück wussten wir da nicht, dass ihn der letzte 20 Jahre und sieben Monate später umbringen sollte. Im Krankenhaus irritierte uns Mädchen, wir waren damals fünf und drei Jahre alt, der Rollstuhl, schließlich hatte er doch ein kaputtes Herz und keine kranken Beine.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wie groß und voller Liebe das Herz meines Vaters war, wie unbezwingbar und stark. Es war wie das letzte Zuhause, dass er sich geschaffen hat: nicht für sehr viele Menschen gedacht, aber alle, denen er darin Platz machte, hatten den sichersten Ort der Welt gefunden. Ihn aber konnte sein Herz nicht schützen: ein seltsamer Widerspruch. Vielleicht würde er mir zuflüstern, dass auch er nicht gut darauf aufgepasst hatte und ich wüsste, das stimmt: Schließlich war ich es, die ihm über die Jahre zärtlich fluchend seine geliebten Zigaretten in die verschiedenen Krankenhäuser schmuggelte.

Meine Schwester und ich mit meinem Paps und einem Eis im Krankenhaus.

1984 also der erste Herzinfarkt und mir fällt zum ersten Mal auf, dass sein Alter und die Jahreszahl sich spiegeln lassen, 84:48. So, wie sein Geburtsjahr und das seines ersten Kindes, meiner älteren Schwester, 36:63. Die Liebe zu solchen Zahlenspielen habe ich von ihm.

Ich schweife ab.

Der erste Herzinfarkt und die große Angst. Das Krankenhaus, der Rollstuhl, die Tränen meiner Mutter, die so jung ist, zwei kleine Kinder hat und der die Ärzte sagen, ihr Mann werde es wohl leider nicht schaffen. Sie verabschiedet sich alleine von ihm, wir Mädchen sitzen ahnungslos bei den Nachbarn, die tiefen Ringe unter ihren Augen, als sie uns abholt.

Mein Vater lebt einfach weiter, sitzt lachend im Krankenhausbett und wünscht sich ein Eis. Er hat früher nie Eis gegessen und plötzlich möchte er nichts Anderes. Mein Mann und ich haben in den ersten Wochen des Jahres 2021 Twin Peaks geschaut und die Szenen der dritten Staffel, in denen Dougie mit dieser seligen Zufriedenheit Kuchen isst, haben mich an meinen Paps und seine Eisbecher erinnert. Dieser absolute Frieden. Das war selten in unserer Familie.

Mein Vater erklärte, Eis essend, im Krankenhaus, wenn er diesen Mist ganz und gar überlebe, wolle er eine Sonnenbank kaufen und ein Haus bauen. Sonnenbänke waren damals der letzte Schrei und weil man noch nicht wusste, wie ungesund sie sind, lagen meine Schwester und ich viele Stunden fasziniert blinzelnd im lilafarbenen UV Licht und sonnten uns.

Ein halbes Jahr nach dem Herzinfarkt stand ein knallgelbes Puppenhaus mit leuchtend rotem Dach unter dem Weihnachtsbaum, das mein Vater gebaut hatte. In jedem Raum lag Teppich, die Wände waren tapeziert und die Lampen daran verkabelt und spendeten echtes Licht. Ich war begeistert. Drei Jahre später zog unsere Familie ebenfalls in ein gelbes Haus mit rotem Dach. Mein Paps hat seinen Traum verwirklicht. Das glückliche Zuhause auf Lebenszeit wurde es aber nicht für ihn, bei einer der Trennungen meiner Eltern ließen wir es alleine am Hang zurück. Wenn ich von früher träume, bewege ich mich bis heute durch diese Räume, obwohl wir danach noch an vielen Orten gemeinsam oder getrennt voneinander lebten.

Das gelbe Puppenhaus mit dem roten Dach.

Wenn ich aber an meinen Vater denke, sehe ich ihn in seinem Häuschen. Es war das erste Mal, dass er ein Zuhause nur für sich plante. Bei unserem letzten Telefonat nur wenige Tage vor seinem Tod erzählte er mir, nun hinge auch die letzte Lampe und ich musste an die schaukelnden Lichtkörper im gelben Puppenhaus denken. Mein Paps war sehr gut darin, Orte zu schaffen, an denen Menschen sich wohlfühlen.

In jenem Telefonat erzählte er, das Gästestübchen unterm Dach sei eigentlich meins, weil ich von den vier Kindern doch am weitesten wegwohnte. Wir schmiedeten Pläne für Besuchstage, für Rotweinabende auf dem Sofa, für alles, was er neu entdecken würde und er wollte sich so gerne noch einmal neu verlieben, wenn der Sommer kommt.

Doch als der Sommer kam, war er nicht mehr da und mein Herz wirft bis heute eine große, traurige Falte darüber, dass er nicht noch einmal so geliebt wurde, wie er es verdient hatte. Dann denke ich daran, wie tief bewusst ihm in den letzten Monaten seines Lebend die große Liebe seiner Kinder war und das tröstet mich ein bisschen, aber mein Herz ziept auch im Vermissen. Ich hätte gerne viel mehr Zeit mit ihm gehabt; so ist das vermutlich immer. Vor allem frage ich mich, wie sich unser Verhältnis mit den Jahren verändert hätte und daran gewachsen wäre, wie wir beide uns ins Leben entwickeln.

Die Ehe mit meinem Paps hat meine Mutter zur Stiefmutter seiner älteren Kinder gemacht, doch das war mir als kleinem Mädchen nur vage bewusst. Die Beziehung zwischen meinem Bruder und unserer Mutter war eng, wir Mädchen sind oft eifersüchtig darauf gewesen. Es schien, als mildere er ihren Frust darüber, selbst keinen Sohn, sondern nur uns Töchter bekommen zu haben. Wie hat mein Paps das empfunden? Was würde er zu mir in der Rolle als Stiefmama sagen, welchen Rat würde er mir geben? Könnte er verstehen, dass es mich ärgert, wie sehr diese Rolle häufig von Fremdzuschreibungen bestimmt ist, verletzt, wenn Leute sich ein Bild davon machen, ohne mich zu kennen? Ich vermute, mein Paps würde sagen, was scheren dich die Gedanken der anderen. Ihn hat so etwas nie bekümmert.

Ich würde ihn fragen, wie es für ihn als Vater war, die großen Kinder, die neue Ehe und der Wunsch, all das zusammenzuführen. Das ist nicht immer so gelungen, wie er es sich gewünscht hat; weil er eine große Offenheit hatte in diesen Dingen, würde er mir davon erzählen. Mein Vater war ein großer Geschichtenerzähler und vielleicht wird mir das gerade zum ersten Mal so bewusst. Aber ja: Er war ein großer Erzähler und ich konnte ihm stundenlang zuhören, wie er Anekdoten aus seinem Leben wiedergab. Er war außerdem sehr witzig, konnte schallend über sich selbst lachen und andere zum Lachen bringen. Das war schön.

Die Liebe meines Vaters bleibt, auch wenn er nicht mehr hier ist.

Mein Vater war auch ein komplizierter Mensch, stur und rechthaberisch. Sich mit ihm zu streiten, war schlimm. In seiner Wut konnte er sehr unfair werden und wir haben einander bisweilen schlimme Dinge an den Kopf geworfen. Aber mein Paps konnte sich entschuldigen und dabei machte es keinen Unterschied, ob er sich mit Erwachsenen oder uns Kindern gefetzt hatte. War er im Unrecht, sah er das ein, wenn sein Zorn verraucht war – und gab es zu. Und egal, wie heftig wir gestritten hatten, war undenkbar, dass wir ohne eine Umarmung ins Bett mussten: Man geht nicht im Groll aufeinander schlafen, so lautete sein Credo. Daran hat er sich immer gehalten und es war eine wichtige Konstante für uns Kinder.

Je häufiger er krank wurde, umso mehr fürchtete ich seinen Schlaf und den Tag, an dem er nicht mehr aufwachen würde. Größer als meine Angst, ihn zu finden, war nur die, nicht bei ihm zu sein, wenn er diese Welt verlässt. Ihm nicht die Hand zu halten. Nie zu erfahren, ob er friedlich gehen durfte. Doch mein Paps ist nicht im Bett gestorben, sondern auf dem Weg von der Tanzfläche einfach umgefallen. Sein bester Freund hatte ihn an diesem Abend mitgenommen, weil seine Frau kurzfristig passen musste. Vielleicht haben die beiden gescherzt, ob mein Vater sich bei dieser Feier neu verlieben würde.

Ich weiß es nicht, weiß aber, dass sie einen schönen Abend hatten, dass der Mann mit dem großen Herzen, mein Vater, glücklich gewesen ist in diesen letzten Momenten, seine Schritte beschwingt. Das bedeutet so viel. Der erste Infarkt in jener Januarnacht hat sein Herz aus dem Takt gebracht und ihn zu Boden stürzen lassen, wo herbeieilende Ärzte versuchten, sein Leben zu retten. Der zweite hat ihn mit sich hinfortgeholt. Zwischen den beiden ist meine Schwester blind vor Tränen in die große Halle gestolpert, weil Gäste der Feier sie, die nahebei wohnte, angerufen hatten.

Auch wenn sie seine Hand nicht halten konnte, war sie doch bei ihm und so schwer diese Momente für sie gewesen sein müssen, so tröstlich ist doch das Wissen darum. Mein Vater hat alle seine Kinder von Herzen geliebt, er kannte da keine Unterschiede. Mit seiner Jüngsten hatte er dennoch eine besondere Verbindung, die sich nicht erklären lässt, die einfach da war, wie ein warmes Licht. Ich bin unendlich dankbar im Wissen darum, dass sie im Moment des Abschieds bei ihm war.

Seine Hand habe ich Tage später im Leichenschauhaus gehalten. Ungläubig über ihre Kälte und untröstlich über diesen Abschied, habe ich ihm meine Liebe an diesem seltsamen Ort flüsternd mit auf die letzte Reise gegeben. Die Dunkelheit und Schwere dieses Raumes haben mich lange nicht losgelassen. Der Tod meines Vaters hat mich verändert und es gab Zeiten, in denen ich dachte, ich könne nie wieder frei atmen. Doch irgendwann hat der Schmerz begonnen, sich zu verändern.

Heute ist das Vermissen ein dunkler, ruhiger Ton in der Melodie meiner Tage. So ist mein Paps immer bei mir. Und ich entdecke ihn in den Kindern meiner Schwestern. Vor allem in den Jungs, auch wenn ich glaube, das ist Zufall. Es ist dann, als würde er uns durch sie zuwinken von dort, wo er jetzt ist. Seine Zuneigung lebt weiter in jener, die wir, seine Kinder und Enkel, miteinander teilen. Sein großes Herz hat Räume in unseren Herzen gefüllt. Die Liebe bleibt. Und das ist schon sehr viel.

Corona und die Abstandsregel: Im Herzen nahe bleiben

Eigentlich würde ich von mir selbst sagen, ich bin mir meiner Privilegien sehr bewusst. Ich bin im Großen und Ganzen gesund. Ich liebe und werde geliebt. Ich habe ein Zuhause. Ich bin Teil einer Familie, die ich mit den Menschen (und Katzen…), die ich liebe, gemeinsam geschaffen habe – und Teil von einer, in die ich einst hineingeboren wurde. Ich habe wunderbare Freund*innen, einen Job, den ich gewählt habe und der mich manchmal wahnsinnig, viel häufiger aber sehr glücklich macht. Ich lebe in einem der reichsten Länder dieser Welt, hatte und habe immer Zugang zu Bildung und als weiße, heterosexuelle Cis-Frau bin ich immerhin nicht mehrfach marginalisiert. Ich kann Dinge offen ansprechen, die ich falsch finde, darf protestieren und schimpfen. Ich lebe, glücklicherweise, in vielerlei Hinsicht ein freies, selbstbestimmtes Leben. All das ist mir sehr bewusst.

Das Privileg, mit den Menschen zu leben, die ich liebe. (Fotos: privat)

Dann kam Corona und nein, dies ist kein Text gegen vermeintlich überzogene Maßnahmen in der Ausnahmesituation. Die Krise kam auf leisen Sohlen in einen Februar hinein, in dem viele von uns die Todeszahlen zu Covid-19 noch mit denen der saisonalen Grippe verglichen. Weil es zu diesem Zeitpunkt logisch schien. Sie war schon da, aber noch im Verborgenen, als zwei liebe Freundinnen von mir Ende Februar aus Amerika zu Besuch kamen. Wir haben darüber gesprochen: Who’s afraid of the virus? Not us. Wie kaum jemensch zu dieser Zeit. Prost und schau mal, wie schön alles ist, die Weinberge, Wiesbaden, das Wiedersehen.

Die Krise kam mit immer neuen, unerwarteten Wendungen. Sie kam mit der Erkenntnis, wir wissen sehr wenig und müssen viel Neues lernen, werden Fehler machen, uns korrigieren (lassen) müssen, eine Mischung finden aus Vertrauen in die, die Lösungen finden sollen und kritischer Betrachtung all jener Veränderungen, die nun herbeigeführt werden, und sei es auf Zeit.

Sie kam lange Zeit fast unbemerkt und dann mit einem großen Knall, der uns zeigte, die Krise war längst da, bloß hatten wir das nicht begriffen. Und mit dem Knall die bange Frage, was hat uns das späte Begreifen bereits gekostet? Stand heute weniger als befürchtet, aber was heißt das schon für jene, die Angehörige verloren haben, um ihren Job fürchten, für alle, die rund um die Uhr Balancen suchen zwischen Kinderbetreuung, Homeoffice und neuem Alltag. Diese Krise ist in Deutschland bislang weniger tödlich verlaufen als anderswo – und das ist gut. Dennoch trifft sie uns alle, betrifft uns, verursacht Ängste und Nöte, die gehört werden müssen.

Das Virus macht uns dabei nicht alle gleich, das ist ein Märchen. Im Gegenteil zeigt es schon bestehende soziale Ungerechtigkeiten besonders deutlich. Auch die getroffenen Regelungen betreffen uns auf unterschiedliche Weise, je nachdem, wie privilegiert wir in jenem Moment waren, als die Krise uns erreicht hat. Das zu verstehen, ist enorm wichtig, danach zu handeln unsere gemeinsame Aufgabe. Wer schon in Not war, ist nun in größerer Not.

Wenn die Zeiten seltsam werden, atmen nicht vergessen.

Was uns verbindet, ist die Notwendigkeit, Dinge neu zu lernen. Wie unser Zusammenleben sich in den letzten Wochen verändert hat, ist enorm – und natürlich auch Gegenstand von Diskussionen. Die Veränderung, die vielleicht erst mit Verzögerung ihre ganze Bedeutung entfaltet hat, ist die Abstandsregel. Seit nunmehr knapp zwei Monaten sollen wir alle zu Menschen, die nicht unserem Haushalt angehören, mindestens 1,5 Meter Abstand halten. Dieses Kontaktverbot ist natürlich schwierig zu kontrollieren, zumal im privaten Raum, was uns alle in die besondere Verantwortung nimmt, auf Abstand zu gehen.

Während die Folgen der Krise für die Wirtschaft hoch und runter beschrieben und diskutiert werden, greift die Abstandsregel in einen sehr geschützten Bereich hinein. Sie berührt uns in einem Raum, von dem wir glaubten, ihn vollkommen selbstbestimmt gestalten zu können. Und vielleicht sind die Folgen davon noch gar nicht absehbar, was es bedeutet, dass wir uns gerade körperliche Nähe auf diese Art abtrainieren. Ein kulturelles Phänomen hat sich daraus bereits ergeben: Hands up, wer nicht zusammenzuckt, wenn Leute sich im Film umarmen. Aber wird es dabei bleiben? Und wie können wir verhindern, an dieser Krise die Nähe zu verlernen?

Auch hier werden Privilegien sichtbar: Wer mit anderen zusammenlebt, kann im besten Falle Nähe erleben, kann einander in die Arme nehmen, Haut spüren, vertrauten Geruch tief einamtmen. Ich würde definitiv nicht sagen, dass ich das bislang als Selbstverständlichkeit empfunden habe. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass eine Situation eintreten kann, in der ich nicht selbst über die körperliche Nähe entscheide, die zu meinem Leben gehört, sondern diese ein Stück weit reguliert wird. Andere trifft das noch viel deutlicher: die vielen Menschen, die alleine wohnen. Ältere, die ohnehin gerade zur eigenen Sicherheit Abstand halten sollen.

Was macht es mit uns, an Geburtstagen, Hochzeiten und Beerdigungen jede Umarmung, die wir instinktiv teilen möchten, zu hinterfragen? Wie verändert es Menschen, länger nicht berührt zu werden, wie verändert es uns, in Berührungen plötzlich auch eine potentielle Gefahr zu wissen? Das Virus kennt keine Feiertage und keine Familien, keine besten Freund*innen oder einmaligen Erlebnisse. Und niemensch kann aktuell sagen, wie lange dieser Zustand noch dauern wird, wie lange Abstand Sicherheit bedeutet und körperliche Nähe auch Unvernunft und die Gefährdung von uns und anderen birgt.

Wir dürfen die Nähe in diesen Zeiten nicht verlernen, auch wenn wir momentan damit aussetzen müssen. Es ist deswegen auch nicht gut, von „Social Distancing“ zu sprechen, wie Eric Wallis alias „Wortgucker“ schon im März für Übermedien treffend geschrieben hat. Es geht nicht um soziale Distanz, sondern um körperlichen, um räumlichen Abstand.

Denn sozial ist Nähe im Gegenteil gerade besonders wichtig – und wir alle sollten all die Liebe und Zuneigung, die wir nicht in Umarmungen ausdrücken können, in Telefone flüstern, auf Postkarten schreiben, in Paketen verschnüren, in winkende Hände legen und in liebevolle Nachrichten tippen. So in Kontakt zu bleiben und einander nah, bis wir uns wieder sorglos in die Arme sinken dürfen, ist unfassbar wichtig. Im Hier und Jetzt, aber auch für die Zeit danach, weil wir die räumliche Distanz nur wieder abbauen können, wenn wir einander im Herzen nahgeblieben sind.