Es gib ein Foto, auf dem ich mit meiner Mutter am Frankfurter Flughafen stehe. Ich bin kurz davor, in ein großes Abenteuer zu starten, natürlich auch, weil meine Eltern es mir ermöglichen: Das Flugzeug, in das ich steige, bringt mich in die USA, wo ich die nächsten zehn Monate leben werde. Ein bisschen ist das damals schon eine Flucht vor den Verhältnissen zuhause, die mich erdrücken. Die Wochen vor meinem Abflug sind geprägt von einem unfassbaren schlechten Gewissen, vor allem gegenüber meiner kleinen Schwester, die ich mit dem Chaos alleine lasse, und meiner Mutter, deren emotionale Stütze ich bin. Doch ich spüre, dass ich fortmuss, wenn ich eine Chance haben will, mein eigenes Zerbrechen zu verhindern.
Auf diesem Foto nun klammert meine Mutter sich mit ausdruckslosen Augen an mir fest. Ich halte sie sicher in meiner Umarmung. Es wird alles gut, sagt mein Blick. Ich bin da. Und auch, wenn ich physisch in den nächsten Monaten an einem anderen Ort lebe, werde ich weiterhin dein Anker sein. So, wie ich das immer war. Damals bin ich 16 Jahre alt.
Die zehn Monate in Mississippi erinnere ich besonders deutlich in Briefen. Mitte der Neunziger schreiben wir weder Mails, noch sind wir per Messenger dauerhaft verbunden. Aber meine Mutter schreibt so lange intensive Briefe, dass ich oft denke, sie kann zuhause überhaupt nicht anwesend sein: Sie lebt in dieser Post. Zehn, zwölf Seite erreichen mich jede Woche, mit einer minutiösen Aufzeichnung dessen, was sie tut, sowie dessen, was mein Paps und meine kleine Schwester nicht oder falsch machen. Immer wieder bittet sie mich, diese Post nach dem Lesen wegzuwerfen, und wenn ich heute hineinlese, verstehe ich, warum.
Mich zwingen ihre vielen wunden Worte ebenfalls in eine schriftliche Parallelwelt, weil ich versuche, ihr den üblichen Trost und Rat in Briefumschlägen zu vermitteln, sie nicht alleine zu lassen. Erst spät in meiner Abwesenheit beginnt auch eine zaghafte, liebevolle Korrespondenz mit meiner Schwester und meinem Paps. Die beiden leiden unter meiner Abwesenheit ebenso wie unter jener meiner Mutter, die physisch anwesend und doch nicht da ist. Wieder kämpfe ich mit Schuldgefühlen.
Als ich zurückkehre in die Heimat, finde ich ein Haus voller Scherben vor. „Was hast du denn erwartet, wenn du einfach abhaust?“, fragt mich meine Mutter. Ich habe das Gleichgewicht, an das wir alle uns über Jahre gewöhnt hatten, durcheinandergebracht. Meine Eltern reden von Scheidung. Fremde Menschen wandern durch unser Haus, vermessen Wände und Türen und verhandeln über Kaufpreise.
Inmitten diesem Chaos kommt und geht unbemerkt mein 18. Geburtstag. Später in jenem Herbst raufen meine Eltern sich noch einmal zusammen und beschließen, einander eine Probezeit von einem Jahr zu gewähren. Was, wenn es nun, wo wir wieder zu viert sind, doch funktioniert? Ein Jahr später folgt schließlich die Trennung, es ist die erste, die beide auch räumlich durchziehen; weitere werden folgen.
In meiner Erinnerung steht dieser 18. Geburtstag wie ein ungelenkes Symbol für den Zerfall unseres Zuhauses. Nicht, dass zuvor alles auch nur annähernd in Ordnung gewesen wäre, die Trennung kommt dennoch mit einer großen Erschütterung über mich und meine Schwester. Vor allem, weil wir Kinder das Gefühl haben, keines der Elternteile alleine lassen zu können – was bedeutet, wir müssen uns trennen. Meine Schwester bleibt bei unserem Paps, ich bleibe bei unserer Mutter; darüber müssen wir überhaupt nicht sprechen, das wissen wir beide.
Zahlen, Jahreszahlen, Geburtstage, Zeitabstände sind schon eine komische Sache. Ob etwas fünf oder sieben Jahre her ist, elf oder vierzehn, was für einen Unterschied macht das letztlich? Natürlich verblassen manche Erlebnisse mit der Zeit oder beginnen Wunden, zu heilen. Gefühle aber werden nicht in Nummern erfasst und vermessen, lassen sich weder wiegen noch vergleichen. Und doch stehen Zahlen manchmal symbolisch für einen Moment oder eine Phase, so, wie für mich diese 18. „Jetzt wirst du erwachsen“, scherzen die Großen gern zur Volljährigkeit. Ich war es längst – und werde es seither doch immer jeden Tag ein wenig mehr.
Wenn der erste Monat eines neuen Jahres zu Ende geht, senkt sich Stille wie ein dunkles Tuch über mein Herz: In einer der letzten Januarnächte haben wir unseren Paps verloren, und jedes Jahr sind diese letzten Tage des Wintermonats angefüllt mit Erinnerungen an ihn. Mal sind sie heiter, mal schmerzlich, immer liegt darin ein Vermissen und die große Traurigkeit darüber, was ich alles nicht mit meinem Vater teilen konnte. Zugleich verspüre ich große Dankbarkeit für die Zeiten, die ich mit ihm teilen und erleben durfte, für die gemeinsamen Wege, das Wachsen.
In jenem Winter hatten sich meine Eltern erneut getrennt. Diesmal sollte es für immer sein, erklärten sie, ohne zu wissen, dass sie Recht behalten würden, weil das Leben ihnen diesmal keine Zeit lassen würde, sich selbst zu widerlegen. Mein Vater war feiern an dem Abend, der sein letzter werden sollte, tags darauf wollte ich ihn in seinem neuen Zuhause besuchen. Ich fuhr tatsächlich in den Odenwald an jenem Wochenende, doch es klaffte eine gewaltige Lücke im Ort meiner Kindheit, dort, wo unser Paps aus dem Leben gerissen worden war.
Mein Vater war kein einfacher Mensch, aber was heißt das schon. Ich glaube nicht, dass diese Zuschreibung auf irgendwen wirklich zutrifft. Er war witzig. Das ist bis heute das Erste, was mir einfällt, wenn ich an ihn denke. Der Schalk saß ihm im Nacken, von klein auf, er machte gerne Scherze, vor allem mit und für uns Kinder. Am Frühstückstisch quakte er auf Zuruf wie Donald Duck, er war ein leidenschaftlicher – und mieser – Witzeerzähler, und wenn er lachte, dann donnerte es in seiner Brust und sein ganzes Gesicht wurde eine frohe Landschaft.
Unser Paps war nicht leise und konnte doch verstummen, was selten ein gutes Zeichen war. Entweder ging es ihm dann schlecht oder er war wütend, und mit beidem konnte ich nur ganz schwer umgehen. Besonders schlimm war es, wenn die stillen Wolken, die ihn düster umgaben, wegen Streitigkeiten mit meiner Mutter aufgetaucht waren. Es fühlte sich dann an, als würde sein Herz in meiner Brust brechen – und ich war nicht in der Lage, ihn vor dem Kummer zu beschützen, der ihn heimsuchte.
Dieses Herz hatte eine emotionale Größe und eine organische Schwäche, und so richtig konnte ich beides nie zusammenbringen. Mit der Regelmäßigkeit von Schaltjahren wurde mein Paps aus dem Leben gerissen, um in einem Klinikbett zu landen, wo wir Kinder ihm die Zigaretten versteckten und es den Ärzten Mal um Mal gelang, sein Leben zu retten. Jedes Mal kehrte er danach zu uns zurück, als wäre nichts gewesen. Er hielt sich für unsterblich und wir begannen, ihm dieses unwahrscheinliche Märchen zu glauben, weil wir es uns so sehr wünschten.
Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich die Briefe wiederentdeckt habe, die mein Vater mir nach Amerika schickte. Sie sind ein Schatz, dessen Wert sich in Zahlen nicht beschreiben lässt. Die Wertschätzung, die daraus nicht nur für mich spricht, sondern auch für meinen Weg, der sich immer von dem meiner Geschwister unterschied, hat mich vollkommen überwältigt.
Ich weiß, dass mein Paps nicht immer nachvollziehen konnte, warum ich die Dinge so handhabte, wie ich es tue. Doch ich hatte in den bangen Momenten, in denen ich mich nach seinem Tod frage, was er heute zu meinem Leben sagen würde, vergessen, wie liebevoll und unerschütterlich sein Zuspruch für mich immer gewesen ist.
In den letzten Tagen habe ich immer wieder an die Skiurlaube mit meinem Paps gedacht. Ich war in der Grundschule mühelos Klassenbeste, und wenn er im Januar eine Woche mit der Schneeclique Skifahren ging, wurde ich regelmäßig dafür beurlaubt. Ich war das einzige Kind auf diesen Reisen und liebte alles daran, von den Erwachsenen, die mir über die Jahre vertraut wurden, mitgeschleift und durchgeknuddelt zu werden. Ich erinnere die sonnengebräunten Gesichter, die in blasse Hälse übergingen, feiernde Erwachsene und mittendrin ich, auf dem Schoß meines Paps, mit glänzenden Augen und immer einem Stück Schokolade zur Hand. Der heimischen Familiendynamik entledigt, war unser Verhältnis am unkompliziertesten.
Es schneite in der Nacht, die zur letzten meines Paps werden sollte, und er war tanzen. Später beschwerten sich einige Leute darüber, dass die Feier eine Stunde vor ihrem offiziellen Ende abgebrochen wurde, weil er tot in der Lobby lag. Sein Sakko mit den Goldknöpfen, für das er einen rührenden Stolz empfand, wurde ihm geklaut, während die herbeigeeilten Ärzte noch um sein Leben kämpften. Wir konnten ihn nicht darin beerdigen und das war in den Tagen nach seinem Tod eine dieser sinnlosen Kleinigkeiten, die uns völlig fertigmachten.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr hätte tun können, um meinem Paps ein glückliches Leben zu bescheren. Was ich weiß, ist, dass er sich in seinem Weg nie hat beirren lassen, und dass er mir damit die Freiheit geschenkt hat, dasselbe zu tun; zumal, wenn es um unser Verhältnis ging.
Die Nacht, in der mein Vater starb, war kalt und roch nach Schnee. Vielleicht erinnere ich mich deswegen so intensiv an die gemeinsamen Skiurlaube, wenn sich der Tag jährt, an dem er aus diesem Leben gerissen worden ist. Ich habe lange nicht verstanden, dass ich ihn nirgends mehr besuchen kann, als der Anruf kam. An seine gesundheitlichen Episoden waren wir alle so sehr gewöhnt, dass wir nicht mehr damit rechneten, ihn bei einer davon wirklich zu verlieren. Doch genau das passierte ihn jener Nacht vor achtzehn Jahren.
Es ist überhaupt nicht greifbar, wie lange dieser Verlust uns nun schon begleitet. Und es schwingt in diesem Jahr die Erkenntnis darin mit, dass wir volljährig werden ohne ihn. Vielleicht ein zweites Mal erwachsen.
„Wein doch nicht, Mädel“, würde mein Vater sagen. „Das Leben muss ja weitergehen.“ Ich weiß, dass er Recht hat und sehe es auch daran, dass es ja seit vielen Jahren passiert. Meins, das Leben meiner Schwester und die der großen Geschwister, sie alle drehen sich auch ohne ihn immer weiter. Und auch dafür bin ich natürlich dankbar. Ich bin aber auch traurig, dass er daran nicht mehr teilhaben kann und immer im Januar gebe ich der Trauer einen besonderen Raum.
Ich vermisse ihn dann mit reißendem Herzen und schweren Tränen, bevor ich mich mit einem Lächeln und großer Wärme an ihn erinnere.