Die Woche am Bruchweg (23/8): Was zählt, sind Inhalte

Es ist nicht ungewöhnlich für Coach Bo Svensson, dass er auf Themen aus länger zurückliegenden Pressekonferenzen zurückkommt, wenn diese aus seiner Sicht zu einer aktuellen Fragestellung passen. So war das auch am Donnerstag, als der 05-Trainer nach dem aktuell guten Lauf seiner Mannschaft gefragt wurde – und wohin das noch führen könne.

Trainer Bo Svensson bei der Pressekonferenz am Donnerstag. (Screenshot: YouTube Mainz 05)

Mit einem kleinen Lächeln erinnert er daran, dass vor dem letzten Heimspiel gegen Augsburg das Thema noch gewesen sei, ob die Partie womöglich zum Befreiungsschlag für ihn und sein Team werden könne. Svensson hatte das damals mit einem Lachen quittiert und daran erinnert, auch nach dem Sieg gegen Bochum im vorangegangenen Heimspiel sei das Wort Befreiungsschlag gefallen – nach den Niederlagen gegen Bayern München (DFB-Pokal) und Union Berlin habe das jedoch alles schnell gänzlich anders geklungen.

Mit der Schnelllebigkeit des Business kann der Coach nichts anfangen. „Es ist meine Aufgabe als Trainer, inhaltlich zu analysieren“, war denn auch schließlich seine Antwort auf die Frage nach einem vermeintlichen Lauf. Da bleibe aus seiner Sicht festzuhalten, das Team habe sein selbst gestecktes Ziel, stabiler und konstanter zu sein, zuletzt erreicht. Hier müsse man weiterarbeiten.

Bemerkenswert war nach dem Spiel in Leverkusen sicher, was der eingewechselte Aarón Martín zu Protokoll gab: Man habe den Sieg einfach mehr gewollt als der Gegner. Klingt erstmal nach keiner besonderen Aussage, wer aber zurückschaut auf vergangene Niederlagen, wird feststellen, wie oft die 05-Spieler genau das Gegenteil festgehalten haben: Das gegnerische Team, hieß es da, habe den Sieg am Ende mehr gewollt. Es ist letztlich eine Mentalitätsfrage, wer den Extrameter geht, sich bis zuletzt aufreibt für die Mannschaft, von der Bank mit hundert Prozent Motivation in die Partie eingreift.

Die Mentalität der Mannschaft war nicht erst seit der Rückkehr von Bo Svensson an den Rhein in den zurückliegenden Jahren immer wieder mal schwankend. Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich das nicht vermeiden, weil wir alle gute und schlechte Tage und Phasen haben. Menschlich. Schwierig wird es aber, wenn diese Phasen scheinbar bei allen Spielern im Team synchronisiert sind und nicht der eine mit besserem Lauf den anderen im Durchhängen abfedern und mitziehen kann.

Dreierkette, anno 1983, als ich noch Fastnacht gefeiert habe. (Foto: privat)

Jedes Mannschaftsgefüge ist ein lebender Organismus, in dem es auf viele Kleinigkeiten ankommt. Es ist besonders der Trainer, der Weichenstellungen vornehmen kann, aber auch Führungsspieler tragen Verantwortung. Mir persönlich hat Karim Onisiwo in der Rolle als Kapitän sehr gut gefallen und ich hatte den Eindruck, er wird davon eher beflügelt, wohingegen ich mich bei Silvan Widmer das eine oder andere Mal gefragt habe, ob sie ihn womöglich beschwert. Die letzten Spiele haben zudem mal wieder gezeigt, wie wertvoll Leandro Barreiro in guter Form für sein Team ist. Über Lee ist zurecht viel gesprochen worden. Anton Stach kommt nach und nach zurück auf das Niveau vor seiner Ausfallzeit. Die Dreier- bzw. Fünferkette hat sich zuletzt sehr reibungslos gefunden.

Spannend wird vor allem, was Bo Svensson im Tor macht. Um die Entscheidung, ob er den zuletzt starken Finn Dahmen im Kasten lässt, oder den wieder genesenen Robin Zentner zurückholt, der bis zu seiner Verletzung eine ebenfalls starke Saison gespielt hat, beneide ich den Trainer nicht. Zwei so starke Keeper mit unterschiedlich nuancierten Fähigkeiten im Kader zu haben, ist je nach Situation Fluch und Segen. Allerdings haben auch andere Spieler zuletzt ungewohnte Bankzeiten in Kauf nehmen müssen und waren trotzdem ein erkennbar wichtiger Teil des Teams, jederzeit bereit, ins Feld zurückzukehren. Auch das ist eine Stärke dieser Mannschaft, die sich gerade sehr deutlich herausgebildet hat.

Die Woche am Bruchweg (23/6): Alles fürs Fanprojekt!

Werte Freund*innen der gepflegten Fußballunterhaltung, leider muss dieses wöchentliche Format in der gewohnten Form ausfallen, because life (and death, actually). Wo ihr aber schon mal hier seid, in aller Kürze: Bitte unterstützt die tolle Arbeit des unabhängigen Fanprojekts Mainz. Denn was Thomas Beckmann und seine Crew in Sachen Jugend- und Sozialarbeit leisten, ist unfassbar wichtig.

Fanprojektleiter Thomas Beckmann.

Der angekündigte Rückzug des Landkreises wird ein brutales Loch in die Kasse reißen, auch, weil jede kommunale Förderung vom Verband in derselben Höhe draufgelegt wird. Dem Fanprojekt Mainz e. V., das unabhängig vom Verein Mainz 05 ist, werden deshalb insgesamt 44.000 Euro fehlen, 22.000 Euro vom Kreis Mainz-Bingen und weitere 22.000 Euro von der DFL. Das gefährdet die umfassende Arbeit – und natürlich die bislang bestehenden Stellen. Bitte informiert euch und wenn ihr könnt: Spendet, teilt entsprechende Aufrufe und bringt euch in die Diskussion ein. Vielen Dank!

Wer dem Fanprojekt finanziell helfen mag und kann, tut das am besten mit einer Mitgliedschaft im Förderverein sowie einer Spende an denselben. Mitgliedsantrag und Kontodaten finden sich hier.

Die Woche am Bruchweg (23/4): 4x Yay, 2x Uff, Happy-End

Man könnte das Spiel von Mainz 05 gegen Bochum aufgrund der guten Bilanz gegen den VfL darauf verkürzen, zu sagen, es sei der richtige Gegner zur rechten Zeit gewesen. Das würde der Leistung der Rot-Weißen, die zum Auftakt der Rückrunde einen 5:2-Sieg einfuhren, aber nicht gerechnet. Die zeigten nämlich endlich mal nicht nur eine, sondern in der Summe zwei sehr stimmige Halbzeiten – und schienen ihre Lehren gezogen zu haben aus dem späten Nackenschlag gegen Borussia Dortmund.

Ein Faktor war dabei definitiv Stefan Bell als zentraler Innenverteidiger. Edimilson Fernandes hat unter Bo Svensson zwar eine tolle Entwicklung gemacht, doch die zentrale Rolle liegt ihm, zumindest bislang, weniger. Hier haben Bell oder Alexander Hack die bessere Präsenz. Auch der nach Gelbsperre zurückgekehrte Dominik Kohr wirkte mit seiner Energie als deutlicher Stabilisator. Wie wichtig er für das 05-Spiel ist, war unter der Woche schmerzhaft zu spüren – und am Samstag gut zu beobachten.

Interessant war, wie früh Svensson in dieser Partie wechselte. Die englische Woche mag ein Faktor gewesen sein dabei, Aymen Barkok und Anton Stach schon nach einer Stunde für Jae-Sung Lee und Leandro Barreiro zu bringen. Wie viel Schwung die Neuen dem Spiel gaben, darf dem sonst eher spät zur Ersatzbank greifenden Coach aber gern als Anregung dienen, generell eher zu rotieren.

In der Pressekonferenz am Freitag hatte der Trainer Barkok auf Nachfrage ein Sonderlob dafür ausgesprochen, dass dieser die richtigen Schlüsse aus einer für ihn enttäuschenden ersten Phase der Saison gezogen habe. Barkok und Barreiro seien die fittesten Spieler im Team, verriet er.

Bo Svensson in der Pressekonferenz am Freitag. (Screenshot: 05-YouTube-Kanal)

Der zweite Doppelwechsel indes – Maxim Leitsch und Danny da Costa kamen für Stefan Bell und Kapitän Silvan Widmer – brachte das Spiel fast zum Kippen. In der direkten Folge verkürzte der VfL Bochum mit Toren durch den Ex-Mainzer Kunde Malong und den eingewechselten Erhan Mašović auf 4:2, weil die 05-Abwehr noch unsortiert war.

Insbesondere die Herausnahme von Bell verwunderte im Spiel, Svensson klärte jedoch in der Pressekonferenz nach dem Spiel auf, dass der Verteidiger Probleme angezeigt hatte und er ihn sonst nicht ausgewechselt hätte. Die Rückkehr von Leitsch nach einer monatelangen Ausfallzeit durch eine körperliche und mentale Erschöpfung war ein emotionaler Augenblick an diesem Nachmittag, der nicht arm war an Gefühlsmomenten. Für Leitsch selbst dürfte es eine besondere Rolle gespielt haben, gerade gegen seinen Heimatverein zurückzukehren.

Mit dem 5:2 endete die längste Sieglosphase der Mainzer unter Bo Svensson (sechs Spiele, zuletzt gewann man am 11. Spieltag gegen Köln) – wie beim letzten Sieg, ebenfalls zuhause, schoss die Svensson-Elf fünf Tore. Dabei ragte einer sogar noch besonders heraus: Karim Onisiwo. Mit drei Toren (3:0, 4:0. 5:0) und einem Assist (vorm 2:0 durch Widmer) belohnte der nimmermüde Kämpfer und Läufer sich und sein Team gleichermaßen.

Mit einem perfekten Wert von 10,0 avancierte er (nicht nur bei) WhoScored zum Man of the Match. Das ist dem Österreicher auch deshalb so zu gönnen, weil seine unfassbare Bedeutung für das Spiel der 05er bei etlichen Beobachter*innen in anderen Partien viel zu kurz kommt; doch Offensivspieler zeichnen sich eben nicht nur durch ihre Tore aus …

Ich bin froh, dass ich das jetzt mal zusammengebracht habe.“

Karim Onisiwo über seinen ersten Hattrick

Vor dem Anpfiff stand der Spieltag in Mainz und anderswo ganz im Zeichen des Erinnerungstages im deutschen Fußball. Die Initiative „!Nie wieder“ erinnert damit alljährlich an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Dieses Jahr stehen besonders die Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Fokus. In Mainz finden, wie schon in den letzten Jahren, ganze „Erinnerungswochen“ statt, die unter anderem von Ente Bagdad organisiert werden. In deren Rahmen werde ich am Donnerstag, 2. Februar, im Haus am Dom die Podiumsdiskussion „Widerstand, Erinnerungskultur und Kurvenengagement“ mit Nora Hespers, Freddy Mo Wenner und Felix Tamsut moderieren.

Weltweit können Frauen immer noch nicht gleichberechtigt am Sport teilhaben. Auch im Fußball mussten und müssen sich die Frauen ihre Räume erst mühsam erarbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass auch Aktive, Funktionäre und Fans Stellung beziehen, denn Fußball hat eine große gesellschaftliche Wirkung.“

Cäcilia Alsfasser, Aufsichtsratsmitglied 1. FSV Mainz 05

Nach dem Spiel wurde dann gleich doppelt und sogar mit Livemusik gefeiert: Bereits am Freitag hatte der Verein verkündet, dass die Partnerschaft zwischen Mainz 05 und der profine GmbH, die ursprünglich noch bis 2024 gesichert war, vorzeitig bis 2027 verlängert wurde und profine mit der Marke Kömmerling Hauptsponsor des FSV bleibt. Beide Parteien lobten die freundschaftliche und vertrauensvolle Partnerschaft, mit der auch eine enorme Planungssicherheit einhergehe. Das Bekenntnis zueinander bot Anlass für ein besonderes Fest, das Spiel brachte die Laune zuvor auf Betriebstemperatur.

Die Woche am Bruchweg (23/3): Baby it’s cold outside

Rückrunde, Baby! Ach nein: Restrunde, denn das Jahr 2023 beginnt natürlich mit der Fortsetzung der Hinrunde, in der noch zwei Partien zu spielen sind. Und das nach der (nur) gefühlt längsten Winterpause der Welt. Es sei fast ein wenig wie nach einer kompletten Sommervorbereitung, nun wieder zu starten, fasste ein gut gelaunter Bo Svensson bei der Pressekonferenz seine eigene Gefühlslage zusammen. Die Mannschaft sehe er in einer guten Verfassung, mutmaße aber, die Trainer der anderen Teams dürften das von ihren Truppen wohl ähnlich sehen. Zeit genug, um ein Themen zu beackern, Dinge neu zu justieren und Spieler zu verpflichten gab es jedenfalls in den zurückliegenden Wochen.

Trainer Bo Svensson in der Pressekonferenz am Donnerstag. (Screenshot: 05-Youtube-Kanal)

Bei Mainz 05 hat sich Neuzugang Andreas Schjølberg Hanche-Olsen laut seines Trainers in den ersten Tagen schon gut eingelebt. Die Ankunft des norwegischen Innenverteidigers in Mainz bescherte der Pressekonferenz am Donnerstag den Besuch eines Journalisten aus Hanche-Olsens Heimatland, der Svensson erstmal zur Verpflichtung eines norwegischen Spielers für die 05er gratulierte. Der Coach beschrieb ihm seinen neuen Spieler so: „He’s really a defender. He’s aggressive, he’s fast. (…) He’s certainly a player who doesn’t walk away from responsibility.“ Zudem sei Hanche-Olsen spürbar, dass es sein ausdrücklicher Wunsch war, nach Mainz zu kommen, erklärt der Coach, und skizziert den Verteidiger als intelligenten Jungen, offen und wissbegierig.

He’s certainly a player who doesn’t walk away from responsibility.

Bo Svensson über Andreas Hanche-Olsen

Der Neuzugang selbst hatte in der Medienrunde unter der Woche erklärt: „I would describe myself as a fighter.“ Den ersten Kontakt mit Svensson gab’s telefonisch bereits im Sommer, damals kam der Wechsel noch nicht zustande. An Mainz 05, so Hanche-Olsen, möge er das Familiäre und das der Club für etwas stehe. Mit Stürmer Burkardt trifft er zudem auf einen Spieler, dem er auf dem Feld schon gegenüberstand: In einer U21-Begegnung Deutschland gegen Norwegen. Sofern er sich erinnere, habe Norwegen gewonnen, erzählte der Neue heiter.

Neuzugang Hanche-Olsen im Interview auf dem Vereinskanal. (Screenshot: 05erTV)

Während also in der Verteidigung der erhoffte Neuzugang realisiert wurde, dünnt sich die Offensive gerade verletzungsbedingt selbst aus. Marlon Mustapha ist noch nicht zurück, Jonathan Burkardt kommt in der Reha laut Svensson voran, aber nicht so rasch, wie erhofft, Delano Burgzorg ist ebenfalls verletzt. Mit Blick auf mögliche Neuzugänge bleibt in einer solchen Situation freilich zu bedenken, dass die Spieler allesamt zurückkommen werden und der Kader auch dann noch ausgeglichen sein sollte.

Angesprochen auf die Frage, inwieweit in dieser Lage die jungen Spieler aushelfen können, erklärte Svensson, die Thematik ginge über den Ansatz hinaus, jemanden einfach mal so reinzuschmeißen. Die Nachwuchskicker haben unterschiedliche Stärken, so der Coach, und stünden an sehr verschiedenen Punkten ihrer Entwicklung. Fragen, die diese betreffen, seien im Zweifel wichtiger als ein momentaner Ausfall älterer Spieler, der im Kader ohnehin immer kompensierbar sein müsse. „Das zeigt ein bisschen, wie kompliziert das Thema ist.“

Die anstehenden englischen Wochen machen dem Trainer kein Kopfzerbrechen, gleichwohl er natürlich mit fünf Spielen in 14 Tagen besonders sorgfältig planen muss. Für den Aufbau der jeweiligen Woche mache es einen großen Unterschied, ob zwischen den Partien drei oder vier Tage liegen, erläuterte Svensson. Je nach dem falle der freie Tag mal aus oder sei gerade wichtig, liege der Schwerpunkt auf Training, Regeneration oder seien die Physios besonders gefragt. Die dürften derzeit auch noch an Robin Zentner arbeiten: Ob der Keeper am Samstag zwischen den Pfosten stehen kann, ist derzeit unklar.

Klar ist hingegen, es geht (endlich!) wieder los. Also alle auf in die Arena. Wir sehen und lesen uns.

Qatar 2022: Welche Themen zu kurz gekommen sind

Wenn während der Fußball-WM der Männer in diesem Winter die Rede war vom Zahlenverhältnis zwischen Qataris und jenen Menschen, die zum Arbeiten ins Emirat gekommen sind, wurde als sprachlicher Gegensatz zu den Staatsbürger*innen meist von Arbeitsmigrant*innen gesprochen. Gemeint waren, so ist zumindest mein Eindruck, damit stets solche Menschen, die im absoluten Niedriglohnsektor arbeiten, vor allem auf Baustellen, ob für die Stadien oder die Infrastruktur. Doch das ist unzureichend.

Im ersten Schritt ausgeblendet wurden dabei Frauen. Mehr als einmal habe ich erlebt, dass Leute meinten, es sei unsinnig, das Wort „Arbeitsmigrant“ zu gendern, weil auf den Baustellen doch nur Männer im Einsatz seien. Ja, aber. Frauen verschiedener Herkunftsländer arbeiten beispielsweise im häuslichen Bereich. Es ist wichtig, auch über sie zu sprechen und zu schreiben, weil qua ihrer Arbeitsverhältnisse zu den Gefahren von Ausbeutung und Unfreiheit, die sie mit den Männern teilen, jene sexualisierter Gewalt ungleich größer sind. Sie dürfen nicht unsichtbar bleiben.

Zum anderen ist die Vorstellung, die rund 2,5 Millionen Menschen, die aus dem Ausland nach Qatar gekommen sind, seien allesamt im Niedriglohnsektor unterwegs, falsch. Das Emirat ist ein attraktives Ziel für so genannte Expats, Menschen aus soliden oder besser situierten Umfeldern, die zum Studium oder um in gehobenen Positionen gutes Geld zu verdienen, ins Land kommen. Sie unterrichten an Hochschulen, fliegen für Qatar Airways, arbeiten im medizinischen oder dem Bildungssektor und mehr. Wer nur von Arbeitsmigrant*innen spricht, zeichnet ein schiefes Bild.

Genauigkeit ist wichtig. Denn über kaum ein Thema wurde im Vorfeld der WM mehr geredet als über jene, die auf Baustellen in glühender Hitze geschuftet haben. Wie viele Menschen rund um das Fußballturnier gestorben sind, war eine Frage, die heftig diskutiert wurde. Ein kompliziertes Unterfangen, weil selbstverständlich jeder Mensch, der gestorben ist im Zusammenhang mit der WM, einer zu viel ist. Und die Diskussion damit eben direkt aufhören könnte. Gleichzeitig waren viele der Zahlen, die hierzu kursierten, falsch oder mindestens unscharf, bei Gegner*innen wie Befürworter*innen des Turniers. Und das ist eben auch ein Problem.

Letztlich hat Qatar sich zweimal schuldig gemacht, nicht nur mit den Todesfällen, sondern auch, weil das Emirat keinen Willen gezeigt hat, zu untersuchen, woran die Gemeldeten gestorben sind. Ja, in die Zahlen sind auch Menschen eingeflossen, die Autounfälle hatten oder morgens nicht mehr aufgewacht sind. Wenn das junge Arbeiter waren, die zuvor in der Gluthitze lange Schichten geschoben haben, wäre es dennoch Pflicht und Verantwortung, Verbindungen zu untersuchen.

Während des Turniers ist die Diskussion um die Toten der WM ein wenig in den Hintergrund geraten, obwohl zum einen zwei Todesfälle hinzugekommen sind und zum anderen Hassan al-Thawadi, der Generalsekretär des Organisationskomitees, im Gespräch bei „Talk TV“ unerwartet offen über Zahlen geredet hat. Ein Grund war aus meiner Beobachtung, dass viele Journalist*innen vor Ort auf Menschen getroffen sind, die positive Geschichten über ihr Leben und ihre Arbeit in Qatar zu berichten haben.

So entstehen Dilemmata, denn natürlich ist es wichtig, diese ebenfalls zu erzählen. Und emotional ist es verständlich, wenn sie für den Moment, im Jetzt, durch die persönlichen Begegnungen im Vordergrund stehen. Spannend, aber auch sehr anspruchsvoll, wäre es, herauszufinden, wie viel Anstrengung Qatar aufgewendet hat, um dafür zu sorgen, dass Medienvertreter*innen während der WM besonders leicht auf Menschen treffen, die Positives zu berichten haben. Bei allem, was das Emirat orchestriert hat, ist das keine abwegige Überlegung.

Wahr ist aber auch, dass eben wirklich Punkte dafür sprechen, nach Qatar zu kommen, von denen Arbeitsmigrant*innen und Ehemalige ausführlich berichten. Ihnen zuzuhören ist eine wichtige Aufgabe, weil es eine umgekehrte Instrumentalisierung ist, nur über sie zu sprechen, statt mit ihnen, womöglich um die Ansichten des Westens zu zementieren. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat es im Vorfeld der Weltmeisterschaft ermöglicht, ehemaligen Arbeiter*innen sogar ganz bequem hier in Deutschland zuzuhören, wo einige von ihnen auf Tour waren, um von ihren Erlebnissen im Emirat zu sprechen. Deren Tenor war vielfach differenzierter, als sich das manch eine*r hier vielleicht zuvor ausgemalt hätte.

Natürlich wurden Arbeitsbedingungen und die Maßnahmen zur Freiheitsverhinderung massiv kritisiert, ebenso wie die Tatsache, dass nicht alle Auftraggeber*innen die Abschaffung des Kafala-Systems vom Papier in die Wirklichkeit transportieren. Es wurde aber auch positiv gesprochen über Schritte zur Verbesserung, die bei vielen der Migrant*innen bereits ankommen, wie eine Anhebung des Lohnes. Entscheidend ist zudem etwas, das der kenianische Menschenrechtsaktivist Malcolm Bidali unter anderem bei der Veranstaltung in Frankfurt (die ich moderieren durfte) betont hat: In Qatar und umliegenden Ländern besteht erstmal überhaupt die Möglichkeit, einzureisen, um dort Geld zu verdienen.

Im Gegensatz zu? Genau, Europa, wo das in dieser Art und Weise nicht möglich ist. Hier tragen nun wir Europäer*innen doppelt Verantwortung, zum einen, weil wir es bei uns nicht ermöglichen, dass Menschen aus anderen Regionen unkompliziert in Jobs kommen. Zudem ist unsere ausbeuterische Lebensweise ein großer Faktor dafür, warum es Menschen in anderen Regionen nicht möglich ist, den Unterhalt für die eigene Familie dort zu verdienen. Wir sind also unmittelbar treibend beteiligt an den Bewegungen zur Arbeitsmigration – darüber wurde und wird viel zu wenig geredet.

Zu kritisieren, was in Qatar ebenso wie den umliegenden Ländern in Sachen Arbeits-, Menschen- und Freiheitsreche falsch läuft, und gleichzeitig die Erkenntnisse aus diesem Turnier zu nutzen, um eigene Fehler anzuerkennen, ist eine Gratwanderung, die vielfach misslungen ist – oder gar nicht erst auch nur im Versuch unternommen würde. Dabei gibt es einiges, worüber wir in Deutschland und Europa angesichts dessen, was wir im Emirat kritisieren, mal nachzudenken hätten.

Von wessen Ausbeutung, geschichtlich ebenso wie aktuell, profitieren wir? Wer muss(te) für unseren Wohlstand in Baracken hausen und zu Niedriglohn arbeiten? Von den selbst während Corona herangekarrten Spargelstecher*innen über Arbeiter*innen etwa in Schlachthöfen hin zu etlichen Menschen, die trotz eines Jobs von dem bisschen, was ihnen als Lohn zugestanden wird, nicht leben können, gibt es da einiges zu beackern.

Die Kluft zwischen Arm und Reich, von der in Bezug auf das Emirat sehr viel gesprochen wurde während des Turniers, ist hierzulande ebenfalls Realität, genau wie das Prinzip der Abschottung zwischen unterschiedlichen sozialen Räumen. Hier warten wirklich große Aufgaben auf uns als Gesellschaft – nicht in fernen Emiraten, sondern genau vor unserer Haustür.