Kleiner Mann, große Fragen: Organspendeausweis

Mein Neffe Jakob ist jetzt acht Jahre alt. Er ist ein kleiner Junge mit einem großen Herzen, in dem er viele Fragen über die Welt bewegt. Bei seinem letzten Besuch in Mainz wollte er von mir wissen, was genau Depressionen sind, warum sich manche Menschen deshalb umbringen und wie man ihnen helfen kann, damit sie nicht mehr so traurig sind. Wir, die Erwachsenen in seinem Leben, versuchen, ihm all die großen Frage so gut wie möglich zu beantworten – allen voran seine Eltern. Oft wünschen wir uns dabei, dass die vielen Räume in seinem kleinen Kinderkopf mit ein bisschen mehr Unsinn gefüllt wären. Aber es ist sein großes Herz, das solche Themen aufnimmt und sie an den Kopf weitergibt, damit sie dort verarbeitet werden.

Kürzlich hatte er wieder eine dieser großen Fragen an seine Mama: „Bin ich Organspender?“ Das Thema hat ihn seither nicht mehr losgelassen – ebenso wenig wie der eindringliche Wunsch, wir, die Erwachsenen, sollen den Menschen da draußen von seiner großen Bitte erzählen: Dass bald viel mehr Leute einen solchen Ausweis unterschreiben, um damit Leben zu retten.

Kleiner Ausweis, große Wirkung (Foto: BZgA)

Kleiner Ausweis, große Wirkung (Foto: BZgA)

GASTBEITRAG

Sind Sie es?

Wie reagiert man bloß „richtig“ wenn der achtjährige Sohn einen abends um neun an sein Bett ruft, um einem erst verständlich zu machen, dass er nicht einschlafen kann. Und dann fragt, ob er eigentlich Organspender ist? Mir stockte zunächst der Atem. Ich glaubte, mit einer knappen Antwort könnte ich mich diesem Thema zur Schlafenszeit eventuell entziehen. „Nein, wieso denn? Du bist doch noch ein Kind, und es dauert noch viele Jahre, bis du sterben wirst. Da ist man doch kein Organspender.“

„Mama, bist du Organspender?“ Von nun an war klar, das hier könnte etwas länger dauern. „Ja, Jakob, ich habe einen Organspendeausweis.“ Sie können sich nun ausmalen, wie die Sache weiterging. Ich musste zunächst erklären, was dies für ein Ausweis ist und woher man ihn bekommt. Des Weiteren machte ich meinem Sohn klar, dass ich zwar noch lange nicht vor hätte zu sterben, aber es im Leben nun einmal vorkäme, dass Menschen früher sterben als erwartet. An dieser Stelle mussten leider ein paar beispielhafte Personen herhalten, um den Verdacht, dass ich unerwartet sterben könnte, abzuwenden.

Jakob wollte nun natürlich wissen, wer außer mir auch einen Organspendeausweis besitzt. Leider konnte ich ihm nur eine weitere Person aus meinem näheren Bekanntenkreis nennen. Erschreckend, oder? – Zumindest für mich in diesem Moment. Ich referiere seit zehn Minuten darüber, wie wichtig es ist, Menschen zu helfen, ihre Leben zu retten – und kenne außer mir nur eine Person??? Verständlich, dass dies für Jakob auch nicht nachvollziehbar war: „Mama, ich möchte auch einmal einen Organspendeausweis haben.“

„Klar, wenn du groß bist, kannst du so einen ausfüllen.“ „Nein Mama, ich meine, wenn mir mal was passiert. Also als Kind, und ich nicht mehr weiter lebe. Dann möchte ich, dass ihr anderen helft, weil ihr meine Organe denen gebt.“ Schluck! Ein feiner Zug eines Achtjährigen, doch für mich als Mama die Horrorvorstellung schlechthin. „Ach Jakob, das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich denke nicht, dass du plötzlich sterben wirst.“

„Mama, warum sind denn so wenige Menschen Organspender, wenn das doch so gut ist, Menschen das Leben zu retten?“ „Naja, es ist oft schwierig, solch eine Entscheidung zu treffen. Und in Deutschland muss man eben als Erwachsener einen Ausweis ausfüllen, der klar macht, dass Organe nach dem Tod an Kranke weitergegeben werden dürfen.“ Jakob, der nun richtig im Thema ist, fragt, ob dies in allen Ländern der Welt so ist.

Ich erkläre ihm, dass ich nur weiß, dass in der Schweiz jeder automatisch Organspender ist. Es sei denn, er gibt an, es nicht sein zu wollen. Diese Regelung gefällt Jakob – vor allem deswegen, weil damit viel mehr Menschen gerettet werden können. „Mama! Wie schaffe ich es, dass wenigstens alle Leute hier in Höchst einen Organspendeausweis ausfüllen?“ Das sind an diesem Abend seine letzten Worte, bevor ich ihm verspreche, mit ihm an dem Thema dran zu bleiben.

Nina Fröhlich

Informationen zum Thema:
klick!

+++ Vielleicht nimmt jemand diesen Text zum Anlass, um sein schon lange gehegtes Vorhaben umzusetzen, und sich einen Organspendeausweis zu besorgen. Dann freue ich mich über einen Kommentar oder eine Mail (flaschenpost@wortpiratin.de) mit einem kleinen Gruß an Jakob – oder einem Foto des neuen Ausweises, um ihm zu zeigen: Auch ein Achtjähriger kann helfen, die Welt zu verbessern. Danke! +++

Army (taller than giants): Die Lieben lieben

111 Himmel

Grund 91
Weil wir unsere Väter für immer im Herzen tragen

Anna würde alles dafür gegeben, dass ihre Kinder ihren Dad, den Großvater, erleben könnten. Als Brett, der Jüngste, auf die Welt kam, lebte ihr Vater noch. Und für ihn, der selbst sechs Schwestern und drei Töchter hatte, war dieser Bub etwas ganz besonderes, die Liebe für ihn eine, die den Steppke voller Freude in dieser Welt begrüßte. Aber er war doch sehr klein, als sein Großvater starb, und das bedauert Anna für den Sohn und ihren Vater gleichermaßen. Es wäre großartig gewesen, den beiden zuzuschauen, wie sie „Jungssachen“ miteinander erleben. Ihr Vater hätte das geliebt, das spürt sie. Genau wie die beiden anderen Enkel, Bretts jüngere Geschwister, deren Ankunft in dieser Welt er nicht mehr erleben durfte. Wenn Anna daran denkt, wird sie unglaublich traurig und fühlt sich einsam. Dabei schenkt es ihr sonst Glück und Frieden, an ihren Dad zu denken. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen.

Aber wie überlebt man ohnehin, in einer Welt ohne den eigenen Vater? Diese Frage stellt sich Annas jüngste Schwester Allison. Als Nesthäkchen hatte sie eine besondere Beziehung zum Vater. Daddy’s little Girl. Sie war zudem diejenige der drei Schwestern, die ihm am meisten ähnelte, zumindest sagen das alle. Aus dem gleichen Holz geschnitzt, so nannte es ihre Mutter. Es ist vor allem die Liebe zur Natur, die Allison von ihrem Pops übernommen hat. Als sie ein kleines Mädchen war, haben sie beide viel Zeit in den nahen Wäldern verbracht. Sammy ging dort gerne stundenlang spazieren, außerdem war er ein begeisterter Angler und auch darin eiferte Allison ihrem Vater nach. Diese Ruhe in der Natur, der absolute Frieden. Diese Stille, wenn sie über Stunden nebeneinander am Wasser saßen. Das fasziniert seine jüngste Tochter noch heute. Ihn zu verlieren, das hat eine Lücke in ihr Leben gerissen, die sie auch zehn Jahre später nicht vollständig begreifen kann. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber sie kann sich das nicht vorstellen, ihren Dad irgendwann nicht mehr zu vermissen.

Die Mädchen und ihr Pops. (Foto: privat)

Die Mädchen und ihr Pops. (Foto: privat)

Er war ein sehr geduldiger Mann, sagt Lauren, die mittlere der drei Schwestern, über ihren Vater. Und lacht, als ihr vielleicht zum ersten Mal der Gedanke kommt, ihm blieb mit sechs Schwestern und drei Töchtern ja auch nicht wirklich etwas anderes übrig. Später kamen noch zwei Stieftöchter dazu, denn ihre Eltern trennten sich, als die Mädchen noch Kinder waren. Umso wertvoller war die Zeit, die jede von ihnen mit ihrem Pops verbringen konnte, und wenn Lauren heute darüber nachdenkt, erscheint ihr das ohnehin als das größte Geschenk – sich Zeit zu nehmen füreinander. Ihr Vater nutzte die gemeinsamen Stunden, um die Schwestern miterleben zu lassen, was ihm im Leben wichtig war, und all das an sie weiterzugeben, was er selbst liebte. Wie Allison unternahm auch Lauren mit ihrem Pops gern Ausflüge zum Fischen, eine ihrer liebsten Erinnerungen an ihn ist aber mit der Jagd verknüpft. An jenem Tag im Hochsitz sahen sie beide so viele Rehe, dass sie es kaum glauben konnten. Am Ende erlegte Sammy zwei, doch eines war ihr Reh, so erzählte er das später allen, weil sie ihm Glück bei der Jagd gebracht hatte. Darüber war sie unglaublich stolz, das spürt sie wie heute.

An diese bedingungslose Liebe, unter der sie behütet waren, wachsen und sich entwickeln durften, erinnern die drei Mädchen sich besonders intensiv. An den großen Rückhalt, den der Vater in ihrem Leben bildete, seine grenzenlose Unterstützung. Natürlich auch im Sport, denn Sammy verpasste kein Spiel der Töchter, egal ob im Basketball, Fußball oder seiner eigenen großen Leidenschaft, dem Softball. Allison hat er darin nicht nur unterstützt, sondern auch trainiert – und es fühlte sich später an, als ob sie ihm mit ihrer Liebe zum Fußball, von der er sich nur zu gern anstecken ließ, etwas zurückgeben konnte. Die ungezählten Trainingsstunden in ihrem Garten, die Spieltage und seine Art, immer etwas Positives an ihrem Einsatz zu finden, auch dann noch, wenn ihr selbst doch klar war, sie hatte heute am Ball keinen guten Tag gehabt. Wenn Allison daran denkt, bricht das Vermissen wieder scharf und klar hervor. Manchmal glaubt sie, es ist ihre Art, ihn für immer in ihrem Leben zu behalten; durch diesen Schmerz, in dem auch all ihre Dankbarkeit steckt für jeden Tag, den sie mit ihm verbringen durfte. Oft sind es ihre Träume, in denen sie die Nähe zu ihm wieder und weiter sucht. Sie will nicht loslassen. Er ist der beste Teil ihrer selbst, davon ist sie überzeugt.

Ihrem Vater haben sie es zu verdanken, zu wissen, wie wichtig und wunderbare es ist, eine Familie zu haben, die fest zueinander steht. Das hat auch ihre Beziehung untereinander stark geprägt, glaubt Anna. Ihren eigenen Kindern versucht sie, diese Sicherheit weiterzugeben und sie ihren Großvater zumindest durch die Geschichten der Mutter und ihrer Schwestern erleben zu lassen. Er selbst war kein großer Redner, aber wenn er sprach, dann hatte es Bedeutung, war wohl überlegt – und alle hörten ihm zu. Viele Dinge, die er ihr in Worten mitgab, sind für immer sicher in Annas Herz aufgehoben, wo sie die Erinnerung an ihren Pops immer bei sich trägt. Es wird vielleicht ein Leben lang dauern, zu begreifen, was er ihr und den Schwestern alles mitgegeben hat, all die guten Beispiele, die er für sie gesetzt hat, zu erinnern. Sie spürt eine immense Dankbarkeit dafür, diesen wunderbaren Menschen zum Vater gehabt zu haben, seine Tochter sein zu dürfen. Daran kann auch sein Tod nichts ändern.

Es sind nicht nur die großen Gesten, es ist auch die wunderbare Kette skurriler Kleinigkeiten, die Sammy zu einem so besonderen Menschen machte und die Erinnerung an ihn bei den Schwestern so lebendig hält. Sonntags saßen sie oft auf der Couch, um die Autorennen zu sehen. Es dauerte nie lang, bis dem Vater die Augen zufielen, regelmäßig schaltete Lauren da auf ein anderes Programm um. Ihr Pops, hinter den geschlossenen Lidern, würde schläfrig behaupten, er verfolge das Rennen – und die Mädchen so unter amüsiertem Gekicher zurück schalten. Er liebte Countrymusik, und wenn er sie am Wochenende weckte, war das Haus erfüllt davon. Mit den musikalischen Helden der Töchter konnte er nicht viel anfangen und machte sich einen Spaß daraus, sie zu nachzuahmen. Unbezahlbar – seine wiegende Imitation von Axl Rose zu November Rain; bis heute kann Lauren den Song nicht hören, ohne bei der Erinnerung in Lachen auszubrechen. Er, der Halbitaliener, liebte Spaghetti, und es gehörte, erinnert sich Allison, zu den Grausamkeiten seiner Krankheit, dass er nach deren Ausbruch keine Tomaten mehr essen durfte. Abends naschten die Schwestern oft Eis, und die großen Kübel, die sie kauften, waren immer verblüffend schnell leer. Einmal, als Lauren von bösen Träumen geweckt in Annas Zimmer schlich, um bei der Schwester unter die Decke zu schlüpfen, sah sie Sammy, wie er, das Eis im Schoß, genüsslich schlemmend vor dem Fernseher saß. Damit wäre sein Geheimnis gelüftet gewesen, doch sie hat es bewahrt, bis heute.

Im Vorbeigehen pustete er den Mädchen gern Küsse zu. Er sagte ihnen oft, wie sehr er sie liebte, und obwohl diese Liebe in jeder seiner Gesten spürbar wurde, war es wunderschön, das auch zu hören. Dieser Moment als er auf der Couch schläft und ihr im Wachwerden erst einen Kuss zuwirft, dann zärtlich I love you zuflüstert, ist eines der letzten Bilder, das Lauren von ihrem Dad hat. Er verbrachte diese Tage am Ende seines Lebens, am Ende seiner Kraft, bevor die Krankheit ihn schließlich mit sich schleppte, zu Hause. Allison erinnert sich, wie ihr Pops sie an jenem Tag bat, das Haus nicht zu verlassen, weil er sie brauche. Was er damit signalisieren wollte, hat sie, die sich sonst ganz ohne Worte mit ihm verständigen konnte, erst später verstanden. Wie sollte sie ahnen, was ihnen bevorstand, wie ihr Leben sich für immer ändern würde. Als es ihm immer schlechter ging, riefen die Schwestern einen Krankenwagen. Lauren war diejenige, die den Vater begleitete, die bei ihm war, als er starb. Wie soll man einen Menschen loslassen, den man so liebt? An dieser Frage scheitern die drei Schwestern noch heute manchmal. Die einzige Antwort ist wohl, ihn eben nicht loszulassen: He’s with us wherevere we go. Die Liebe zu bewahren, die er gegeben hat: We carry your love every step of the way. Sie weiterzugeben an die Menschen, mit denen sie ihr Leben teilen.

Hinweis Buch

Zauberneffentag: Eine Höhle im Wald

Letzte Woche: Pause von diesem Wahnsinn, der sich euphemistisch „Vorweihnachtszeit“ nennt, um ein paar Stunden mit dem Zauberneffen zu verbringen. Ich liebe nicht nur den Neffen, ich liebe es auch, bei diesen Besuchen zu erleben, wie so ein kleines Gehirn arbeitet und sich immer weiter entwickelt. Mir kam das schon rasend spannend, schnell und viel vor, als er noch sehr klein war, aber seit er ein Schulkind ist, überrollen mich die Entwicklungen geradezu – und vieles davon ist einfach zu köstlich, um es nicht aufzuschreiben.

Im Odenwald angekommen, klären meine Schwester und ich wie üblich letzte Details auf Englisch, damit die Kekse nicht mitbekommen, worum es geht. Plötzlich nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Jakob einzelne Wörter mit den Lippen nachformuliert. Als er merkt, dass meine Aufmerksamkeit sich gerade auf ihn verlagert hat, grinst er breit und sagt: „Bald kann ich das auch mit diesem Englisch, und dann habt ihr aber Pech gehabt.“

Der Neffe weiß, was gut ist. (Foto: WP)

Der Neffe weiß, was gut ist. (Foto: WP)

Mein Neffe hört liebend gerne Radio und die Speicherkapazität in seinem Gehirn geht gegen unendlich, was Werbespots betrifft. Kaum im Auto zitiert er: ‚Wo fahren wir hin?‘ ‚An den Arsch der Welt.‘ ‚Was machen wir da?‘ ‚Möbel kaufen.‘ ‚Möbel kauft man jetzt nicht mehr am Arsch der Welt, sondern bequem vom Sofa aus.‘ Meine Schwester erzählt mir abends, während sie Tränen lacht, er gebe den Spot mehrfach am Tag wieder. Und sie wirft die Frage auf, wie man einem Achtjährigen erklären soll, er dürfe nicht „Arsch“ sagen, wenn das Wort permanent über den Äther gesendet wird.

Neu für mich ist auch im dritten Schuljahr, dass Jakob nun lesen kann, zumal er es natürlich nicht von Anfang an tatsächlich im Alltag angewendet hat. Jetzt tut er das auf der Rückbank mit riesiger Begeisterung: Bauhaus, Aral, Medienhaus Südhessen, Jet. Und dann sind da natürlich die Firmen, deren Werbeslogans er kennt – und wie automatisiert ergänzt: „Media Markt – ich bin doch nicht blöd“, tönt es durchs Auto, oder: „Real – einmal hin, alles drin.“

Als wir an einer Ampel stehen, entsperre ich kurz mein Handy, das in der Halterung an der Lüftung hängt. Da sagt der Keks sehr ernsthaft: „Weißt du, Mara, ich bin sehr froh, dass dein Handy so aufgeräumt ist.“ „Was meinst du denn?“ „Die Ordner. Das ist einfach nicht so ein Chaos.“ Dem Kind ist tatsächlich aufgefallen, dass ich meine Apps nicht wild auf meinem Bildschirm rumfliegen lasse, sondern sie in Gruppen sortiere. Und es gefällt ihm!

Wir sind natürlich an diesem Tag in einer wichtigen Mission unterwegs: Die Mannschaft von Mainz 05 signiert später im Fanshop. Jakob hofft: alles, was man ihr hinhält. Er hat nicht nur sein Trikot dabei, sondern auch die Weihnachtskarte des Vereins, sein Kids Club-Shirt und die Kappe, den Schal sowie ein Bild von sich und der kleinen Schwester im Stadion. Erstmal geht es um die aktuelle Situation der Mainzer, als Hesse muss er sich vor allem von seinem Großvater nach jeder Niederlage aufziehen lassen. Das letzte Spiel aber, bei dem er mit war im Stadion, wurde gewonnen. „Wir haben gegen eine Mannschaft gespielt, die hat ein Logo, das sieht aus wie von einer Spielefirma. Die machen ein Kartenspiel, das wird im Altmühltal sehr gerne gespielt.“ Hinweise hierzu werden gerne entgegen genommen…

Natürlich geht es so kurz vor Weihnachten auch um die Wunschliste, mit der Jakob mächtige Probleme hat: „Ich weiß einfach nicht, ob ich mir eine Wii oder eine Playstation wünschen soll, weil ich im Moment überhaupt nicht rumkomme. Und die Werbeprospekte, die wirft der Papa immer weg, bevor ich sie mir in Ruhe anschauen konnte.“ Das sind schwerwiegende Entscheidungen, die da getroffen werden müssen…

Als wir schließlich in Mainz ankommen, schüttet es aus Kübeln. Jakob will wissen, ob wir zum Stadion laufen oder fahren. „Ich dachte, bei dem schönen Wetter können wir laufen.“ Er sieht mich für einen Moment an, dann sagt er sehr langsam und sehr deutlich: „Du kannst dir deine Witze in die Haare schmieren, Mara.“ Ich schaffe es, mir das Lachen zu verkneifen und ihm zu erklären, dass man so nicht miteinander redet, weil: unhöflich. Als wir anschließend zum Stadion fahren fragt er, ob denn Mainz 05 auch genügend Werbung für die Veranstaltung gemacht habe, damit viele Leute kommen. „Also, wer in Mainz in den letzten Tagen nichts davon mitgekriegt hat, muss in einer Höhle im Wald wohnen.“ Minuten später, ich parke gerade das Auto, fängt Jakob an zu kichern, ich drehe mich zu ihm um, er strahlt und sagt: „Also, der mit dem Wald, der war gut.“

Dann ist für fast zwei Stunden die Sprache völlig abgemeldet. Der Zauberneffe schweigt und genießt die Anwesenheit seiner Idole. Der einzige Satz, den er dabei regelmäßig sagt ist: „Ich hätte gerne eine Unterschrift, bitte.“ Einfach großartig. Erst ganz am Ende der Veranstaltung hat er auch wieder Augen und Ohren für das, was um ihn herum passiert. Am Glühweinstand sagt eine Frau zu ihrer Freundin: „Also, ich habe ja gar nichts mitbekommen von der Aktion heute.“ Mit einem breiten Grinsen dreht Jakob sich zu mir um und flüstert verschwörerisch: „Mara, die wohnt wohl in einer Höhle im Wald.“

Ten years ago

Zehn Jahre ist es her, dass ich einen letzten Sommer, ein letztes Frühjahr und einen letzten Herbst mit meinem Vater teilte. Zehn Jahre wird es her sein, dass wir, ganz ohne es zu ahnen, Abschied nehmen mussten voneinander, im Dunkel einer kalten Januarnacht. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich alle Geschichten über ihn schon geschrieben, sei in einer ewigen Wiederholung der Wörter gefangen, wenn meine Gedanken es wagen, an den Orten zu verweilen, die seine Erinnerung tragen. Doch dann setzt die Parade der Buchstaben an zu einem neuen Tanz auf dem Parkett meines Herzens, bis sie einander müde und erschöpft in den Armen liegen und ich sie behutsam aufsammle und sicher zu Papier bringe.

Wäre ich mir sicher in einem Glauben, könnte ich mir vorstellen, wie mein Paps mit seinem Gott in Verhandlung trat, als das Leben ihn zum ersten Mal in Krankheit niederstreckte. Zwanzig Jahre zwischen dem ersten Herzinfarkt und dem letzten Herbst, als Nummer zwei und drei ihn gemeinsam aus unserer Mitte rissen und aus seinem eigenen Neuanfang: geschenktes Leben, bis dahin. Und wir Geschwister fühlten uns stets wohl mit der Vorstellung, er habe diese Zeit doch irgendwie für uns ausgehandelt, um uns beim Wachsen zusehen zu können, und unseren Herzen eine Form zu geben, die sie bis heute tragen, Schlag für Schlag.

You put a smile on my face. (Foto: M. Braun)

You put a smile on my face. (Foto: M. Braun)

Zehn Jahre und darin so viele Leben, so viele neue Erinnerungen, so viel Glück und Kummer. „Du fehlst, in jedem Lachen, jeder Träne“, das ist nicht einfach nur dahin gesagt. Es sind die großen Momente, die helles Licht und lange Schatten werfen auf unsere Leben, in denen das Bewusstsein besonders schmerzt, sie nicht mehr miteinander teilen zu können. „Du fehlst, in jedem Lachen, jeder Träne“, das birgt doch so viel mehr… Es sind die kleinen Momente, an denen man achtlos vorübergeht, in denen das Bewusstsein besonders schmerzt, sie nicht mehr teilen zu können mit ihm.

Die Welt, sie hat sich verändert, und wir uns mit. Was hätten diese zehn Jahre mit unserem Vater gemacht? Wie würde er seinen Körper nun durch die Tage tragen, welche Gedanken wären in seinem Kopf? Was würde er heute sagen zu dieser Welt, den Leben, die wir darin geformt haben und zu den Menschen, die wir geworden sind? In der Rückschau waren wir alle noch Kinder, als er starb, obwohl jeder von uns Vieren bereits so früh damit begonnen hatte, erwachsen zu werden.

Ich weiß, worüber wir miteinander lachen könnten und ahne, bei welchen Themen wir uns in den Haaren lägen. Ich vertraue still darauf, er wäre glücklich damit zu sehen, für welche Wege wir vier uns entschieden haben; auch ein bisschen stolz. Einmal noch dieses Strahlen in seinen Augen, dazu der feuchte Schimmer, wenn er platzen wollte vor Glück über etwas, das einem von uns gelungen war. Einmal noch seine Stimme hören, oder aus dem Autofenster sehen, wie er zum Abschied winkt: Ciao, Mädel. Ciao, Paps.

Ein ganzes Jahrzehnt, das überbrückt werden muss, um überhaupt ein Bild mit ihm aus den Schatullen meiner Gedanken heben zu können. So viel Zeit, die schmerzt in der Distanz, die sie schafft, und dabei doch auch ein Geschenk offenbart: Das Erinnern ist zärtlich geworden an ihr. Das Vermissen ist ein ruhiger, dunkler Ton, der in der Melodie aller Tage schwingt und mit seinem Klang den scharfen Schmerz sanft abgedrängt hat. Mein Vater wird nie wieder hier sein, und ist doch überall. Ich erinnere den Klang seiner Stimme nicht mehr, und höre doch den seines Herzens, in jedem Schlag meines eigenen. Daran verliert die Distanz der Jahre alle Bedeutung.

Ein guter Tag zum Puzzeln

Wenn in der Zeit vor Christi Himmelfahrt die Ausflüge mit Bollerwagen und Bierpaletten geplant werden, frage ich mich, ob es diese Tradition während meiner Kindheit im Odenwald nicht gab – oder ob mein Vater sich nur nicht daran beteiligt hat. In meiner Erinnerung wurde bei uns der Bollerwagen jedenfalls nur mit Bier beladen, um den abgeschafften Wiesenmarktsdonnerstag unbeirrt weiterzufeiern – aber das ist eine andere Geschichte. Ansonsten waren es meine Schwester und ich, die darin herumgezogen wurden; keine alkoholischen Kaltgetränke. Bedeutet das aber im Umkehrschluss, dass mein Paps diesen Tag lieber mit uns, seiner Familie, beging? Oder wurde gar nichts gefeiert? Auch daran kann ich mich nicht erinnern: Muttertage, Vatertage – ich, die sich normalerweise mit einem Elefantengehirn herumschlägt, das alles festkrallt, habe keine Bilder dazu, keine Erinnerung, nichts.

Also müssen die alten Fotoalben helfen und siehe da, ich werde fündig. Gebastelte Herzen, liebevolle Briefe und selbst verfasste Gedichte ziehen sich durch die Grundschuljahre, an Vater- und an Muttertagen. Dazu das ein oder andere Foto, wir Kinder, in Frotteeschlafanzügen, mit unseren Eltern, verstrubbelt und verschlafen. (Wann sind eigentlich die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen damals und heute vergangen?) Vatertag 1991: Für den liebsten Papi der Welt – Auf ewig Dein – Bussi, Deine Mara. Dreiundzwanzig Jahre ist das jetzt her, und neun davon ist mein Vater bereits tot. Das Verrückte ist, es kommt mir viel kürzer vor, im Grunde immer noch, als wäre es gestern erst gewesen, als ich mich das letzte Mal von ihm verabschiedet habe. Mach’s gut Mädel, und danke für alles. Damit war gemeint, alles, wobei ich an diesem Tag in seinem neuen Zuhause geholfen hatte. In der Rückschau bekommt der Satz trotzdem eine ganz andere Bedeutung.

Erinnerungen, gepuzzelt. (Montage: WP)

Erinnerungen, gepuzzelt. (Montage: WP)

Ein gutes Wort hat oft die Macht, ein Wunder zu vollbringen, steht auf dem Herz zum Vatertag 1991. Ich weiß nicht, wieso ich damals, mit zwölf, gerade diese Zeilen geschrieben habe, was ich aber weiß ist, dass mein Vater, obwohl nicht im eigentlichen Sinne ein Mann der Worte, gut darin war, genau die zu finden: gute Wörter, warme, tröstende. Sein Weg dorthin klang manchmal unbeholfen. Man musste geduldig sein, Zeit mitbringen für ihn, der alles mit Bedacht aussprach, sonst zog er sich zurück und behielt das, was sein Herz ihm diktiert hatte, für sich. Mein Vater konnte auch hässliche Worte sagen. Er konnte ungehalten sein und aufbrausend, intolerant und streitlustig. Er war ein Mensch mit Ecken und Kanten und manchmal war es nicht auszuhalten mit ihm, dann knallten zuhause die Türen und wir Mädchen wurden laut. Mein Vater hasste das, hasste es, zu streiten, sich uneins zu sein mit denen, die er liebte. Man geht nicht im Streit miteinander ins Bett, daran glaubte er und daran hielt er sich.

Neun Jahre und all die Erinnerungen, die man in dieser Zeit schafft, all das Erlebte, Glück und Leid, Zaubermomente, Krisen, Begegnungen, Entwicklung. Alles ohne ihn. Wenn mir das bewusst wird, verwandelt sich das leichte Vermissen, das ganz selbstverständlich zu mir gehört, das sanfte Erinnern, in einen dunklen Schmerz, der den Rest der Welt ausblendet. Alles nur, weil da dieses Wort im Kalender steht, Vatertag, das etwas mit mir macht – so wie sein Geburtstag und sein Todestag, an denen diese Wunde mit der selben herzlosen Regelmäßigkeit schmerzt, im ungläubigen Vermissen. Manchmal bin ich dann mit mir selbst schrecklich frustriert, weil neun Jahre eine lange Zeit sind, weil ein Kalender kein Stimmungsbarometer ist, weil es nun mal leider zum Leben dazu gehört, loslassen zu müssen, auch vor der Zeit – und kommt nicht ohnehin jeder Tod zu früh? Dann glaube ich, ich müsse das lernen: Diese Tage so zu behandeln wie jeden anderen, unbeirrt und unberührt, statt ihnen all den Raum zu geben. Aber vielleicht ist das, was ich lernen muss, viel eher, milder mit mir zu sein, wenn solche Jahrestage mich treffen wie schlechtes Wetter, das lange vorher angekündigt war.

Das Sterben, der Tod und die Toten kommen in unserer Gesellschaft kaum vor, genau wie der Umgang derer, die zurückbleiben, mit dem Verlust. Diese Themen finden kaum öffentlich statt, was einerseits sicher ein Stück weit normal ist, andererseits aber dazu führt, dass man wenig darüber weiß, wie andere damit umgehen und so versucht, kein großes Ding daraus zu machen. Schon gar nicht, je länger ein Verlust zurück liegt: Irgendwann muss es doch mal gut sein; aber das muss es nicht, wenn es nicht im Einklang mit dem eigenen Empfinden steht. Ich war noch nicht fertig damit, meinen Paps zu lieben. Nicht damit, mich mit ihm zu streiten und zu versöhnen, seine Stimme zu hören und ihm dabei zuzusehen, wie er lacht, sich die Zigarette anzündete oder im Garten werkelte. Ich konnte ihm nicht alle Orte zeigen, die mich bezaubert haben, ihm nicht alle Menschen vorstellen, die mir wichtig sind. Es ist, als wäre er mitten im Puzzeln aufgestanden, um kurz aufs Klo zu gehen – und nicht zurückgekommen. Jetzt sitze ich da, ein wenig ratlos, die nicht verbauten Teile in den Händen.

Tage wie heute sind gut zum Puzzeln. Dafür, an all das zu denken, was ich mit ihm erlebt habe und über all das zu philosophieren, was ich gerne noch mit ihm geteilt hätte. All die Meilensteine und kleinen Momente, bei denen er fehlt, all die Umarmungen und Auseinandersetzungen, zu denen wir nicht mehr gekommen sind. So zieht sich im Laufe dieser Tage auch immer der dumpfe Schmerz zurück, mit dem sie beginnen. Weil das Puzzeln mich zur Ruhe kommen lässt und meine Erinnerungen hell und warm anstrahlen gegen jeden Kummer. Und schließlich mein Blick auf ein Puzzleteil fällt, das immer wieder aus seiner Position hüpft, wie um auf sich aufmerksam zu machen, damit ich es sanft zurückstreiche ins Gesamtbild: Es ist meine Dankbarkeit darüber, seine Tochter zu sein. So lange ich lebe.